Titelthema

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Mit wem oder was ist Oya verwandt? Eine Ahnenforschung.von Der Schwarm, erschienen in Ausgabe #41/2016
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© Archiv der Spaun-Stiftung, Seewalchen

»Ich möchte über die Frage sprechen: Wer sind die Verwandten von Oya?« Damit eröffnete Sönke Bernhardi auf dem Leserinnen- und Lesertreffen Anfang September in Klein Jasedow eine Gesprächsrunde.
Verwandtschaft hat viele Ebenen. »Das war mal wieder ein Familientreffen«, haben wir gesagt, wenn zu einem Oya-Tag – unseren informellen Lesertreffen überall in Deutschland – viele bekannte Gesichter erschienen waren. »Familie«? Um das Gefühl der Vertrautheit zu haben, muss man sich nicht unbedingt kennen. Vielmehr geht es um die Wahrnehmung, dass man offenbar etwas miteinander zu tun hat und in ähnlichen Gedankenfeldern unterwegs ist. Manchmal manifestiert sich eine Zusammenarbeit, manchmal ist es genug, voneinander zu wissen. Manchmal – und das ist hier der Fall – ergibt sich nach einer Begegnung noch eine nachklingende Korrespondenz.

Sönke Bernhardi Mein Impuls, die Frage zu stellen, kam aus der Erinnerung an die Jugendbewegung vor gut 100 Jahren und deren Hauptzeitschrift »Junge Menschen«, auf die ich während eigener Großvater-Ahnenforschung gestoßen bin. Mich hat beeindruckt, zu erfahren, was es damals an Bestrebungen gegeben hat – die in den Wirren der 1920er und 30er Jahre förmlich zerrieben wurden. Vieles von dem erscheint mir sehr verwandt mit dem zu sein, was wir »kulturkreative* Szene« nennen. Weil wir nichts von den Vorläufern ­wissen, scheint es uns, als müssten wir das alles neu erfinden.
Lara Mallien Im Jahr 2000 haben Johannes Heimrath und ich zusammen mit Mitgliedern der von uns mitbegründeten »Mediengruppe Kulturkreative« auf der Mathildenhöhe in Darmstadt die große Ausstellung zur Lebensreform besucht. Ich staunte damals, wie sich in jedem Raum ein weiteres, für unsere Zeitschriften wesentliches Thema auftat: Frauenbewegung, Reformpädagogik, Naturverbindung, Ernährung, Gemeinschaftsleben, Selbstversorgung, egalitäre Gesellschaftsordnung, Kunst als Element gesellschaft­licher Transformation, Körperbewusstsein und so fort. All das waren Emanzipationsbewegungen in einer bürgerlichen Welt, in der die Entfremdungs- und Zerstörungsmechanismen von Kapitalismus und Industrialisierung längst wirksam waren. Zuvor reichte mein Gefühl für die »Tradition«, in der ich stehe, bis zu den Anfängen der Alternativbewegung Ende der 1960er Jahre zurück; jetzt begriff ich, dass sie viel ältere Wurzeln hat, und ich bekam Lust, sie weiterzuverfolgen.
Matthias Fersterer Wir denken schon seit längerem über eine Oya-Ausgabe zu lebensfördernden Kultur­impulsen in der Vergangenheit nach, etwa in der Gegenkultur der 1960er und 70er Jahre, der Lebens­reformbewegung, im Freiheitsimpuls der Aufklärung, dem globalen Geist der Renaissance oder der Allmende­kultur* des Mittelalters.  Dabei geht es nicht nur um abendländische Traditionslinien. Wenn Michael Succow von den San im südlichen Afrika erzählt, Veronika Bennholdt-Thomsen von matriarchalen Kulturen in Mexiko, Claus Biegert von den Irokesen an der nordamerikanischen Ostküste oder Winfried Altmann von den Waitaha in Neuseeland, dann merke ich, dass diese »ursprünglich« lebenden Ethnien viel mit dem zu tun haben, wofür Oya steht: Sie verkörpern die Qualität des Dem-Land-eingeboren-Seins, die ich für Oya als zentral empfinde. Auch wenn diese Qualität in unseren entwurzelten, fremdversorgten Gesellschaften westlicher Prägung in letzter Konsequenz nicht lebbar erscheint, ist für mich das Forschen nach authentischen und zeitgemäßen Formen des Wieder-eingeboren-Werdens 9 ­etwas ganz Wesentliches.
SB Ich stoße auf den Begriff »Verortung«. Wo, in welchem »Feld« ließe sich Oya verorten? Wem steht sie nahe, mit wem ist sie »nur« verwandt (denn Verwandtschaft heißt ja nicht per se, dass man sich mag) und mit wem – oder genauer: mit welchen Feldern – nicht?
Wenn ich dieser Spur folge, wächst hinter und neben mir ein kraftvolles Feld, wird ein anschwellendes, tiefes Brummen hörbar, entsteht ein Nährboden, auf und aus dem ich wachse. Das geht für mich über Paul Hawkens Erkenntnis und Buch »Wir sind der Wandel« hinaus. Er beschreibt darin die Summe der ökosozialen Bewegungen als wirksame, gesellschaftspolitische Kraft. Doch das Buch vermittelt eher das Gefühl von voneinander getrennten, zumindest einander wenig bekannten »Einzelzellen«. Die Frage nach der Verwandt­schaft hat mehr mit einer ruhigen und kraftvollen ­Ahnung von »Clan« zu tun.  Auch wenn wir unsere Schritte selber gehen müssen, so tun wir dies doch nicht isoliert im luftleeren Raum.
LM Große Teile der abendländischen Geschichte sind von Krieg und Kolonisierung geprägt, doch es gab auch Widerstandsbewegungen, in denen sich Menschen gleichwürdig organisiert haben, und es gibt aus allen Epochen und Kontinenten der Weltgeschichte wunderbare Gedanken zu einem friedlichen, verbundenen, ­bescheidenen Sein. Solche »Lichtpunkte« der Geschichte in einer Oya-Ausgabe sichtbar zu machen, würde zeigen, dass es nicht darum geht, etwas Neues zu erfinden, sondern einem Anliegen zum Blühen zu verhelfen, das ohnehin in der Welt sein will – was das »Normale« wäre, so lange niemand auf die Idee kommt, lebensfeindliche Machtstrukturen aufzubauen.
In Gemeinschaften, die die Schrift nicht kennen, wird die eigene Geschichte in Form von Liedern überliefert. Keine Zeile, kein Wort, darf bei der Weitergabe verlorengehen. Das Lied über die eigene Geschichte ist dort der Schatz schlechthin, und sie reicht in aller Regel zurück bis zur Erschaffung der Welt.
Ich weiß nicht allzuviele Details über solche Lieder, aber mir scheint, dass sie in der Summe von einer guten Welt erzählen und dass sich die ihnen lauschenden Kinder durch sie in dieser Welt auf eine tiefe Weise zu Hause fühlen können. Sicherlich wird auch von Unglücken, Qual und Leid erzählt, aber eben auch von dem, was daraus zu lernen ist.
MF Der amerikanische Poet und Umweltaktivist Gary Snyder griff 1974 in seinem Gedichtband »Turtle Island« den Mythos von der »Großen Schildkröte« auf, der von vielen indianischen Kulturen und anderen indigenen Völkern in aller Welt überliefert ist. Die Schildkröte, die aus einem großen Meer auftaucht und den Erdboden auf ihrem Rücken trägt, steht dabei für den nordamerikanischen Kontinent und für die Erde als Ganze. Seither ist der Begriff »Turtle Island« in der US-amerikanischen Gegenkultur zu einer kraftvollen Chiffre für Wiederbeheimatung 9 geworden. Ich frage mich, ob es einmal ein ähnlich kraftvolles Bild für Europa gab oder geben könnte. Mit dem patriarchalen Mythos vom Raub der Europa durch den Göttervater Jupiter in Gestalt eines Stiers kann ich mich nicht verbinden. Die egalitären, friedlichen Traditionslinien, die wir hier erkunden, ­rufen doch nach ganz anderen Bildern!
SB Beim Nachdenken über eure Antworten sind drei Namen in mir aufgetaucht: Norie Huddle, Daniel Quinn und Andreas Weber.
Folgende Legende von den »Imago-Zellen« in der Schmetterlingspuppe hat sich in kulturkreativen Kreisen seit den 1990er Jahren verbreitet: In der Puppenphase zerfalle der Raupenkörper, während sich wie aus dem Nichts sogenannte Imago-Zellen  als Grundlage für den entstehenden Schmetterling bildeten. Die bisherigen Raupenzellen würden sich dagegen zur Wehr setzen. Erst wenn die neu entstandenen Zellen sich in ausreichend großen Clustern verbunden hätten, würden auch die anderen Zellen die »Zeichen der Zeit« erkennen und umschwingen, um mit den Pionieren die neue Zellenwelt – ergo den Schmetterling – bauen.
Großartig, dieses Bild – befeuerte es doch das Selbstverständnis alternativer Gruppierungen: Wenn nur alle durchhielten, »wir« nur endlich die »kritische Masse« erreichten, würden auch die anderen Zögerer und Ewiggestrigen endlich aufwachen. In die Welt gesetzt hat es die amerikanische Sozialaktivistin Norie Huddle. Befragt man Biologen, stellt es sich anders dar: In dem Puppenwesen findet kein hegemonialer Kampf ­zwischen Altem und Neuem statt! Vielmehr bildet sich das Neue, indem sich die Puppe gewissermaßen an die Informationen ihrer DNA in den Imaginalzellen, die sie schon seit Anbeginn in sich trägt, erinnert.  Vielleicht kommen wir deshalb in unserem Austausch auf das Thema »Tradition« zu sprechen.
Eine Ahnung, wo unsere Imaginalzellen verborgen sein könnten, fand ich bei Daniel Quinn. Sein bekanntestes Buch erschien Anfang der 1990er Jahre: »­Ismael«. Darin teilt er die Menschen in zwei Gruppen ein: die »Lasser« (die das Leben in den Händen der Götter lassen) und die »Nehmer« (die das Leben aus den Händen der Götter genommen haben). Erstere beschreiben die indigenen Kulturen, letztere uns. Quinn meint, dass es dem Menschen nicht immanent sei, ein »Nehmer« zu sein, dies sei »nur« Bestandteil unserer Kultur. Diese sei allerdings aufgrund ihrer Wirksamkeit womöglich künftig die einzige verbleibende, dennoch sei sie nur eine Kultur unter Tausenden. Ich empfand diese Sichtweise als große Erleichterung.
Noch genauer scheint mir diese Sache in Andreas Webers Ansatz »Enlivenment«* auf den Punkt gebracht zu sein, zum Beispiel wenn er schreibt: »Eine Politik des Lebens orientiert sich an der Idee einer Zivilisation, deren Prinzipien, Institutionen und Wirtschaftspraktiken dem Leitsatz folgen, dass Lebendigkeit sei.«
Vielleicht könnte es ein Weg der historischen Forschungsreise  in Oya sein, die Imaginalzellen unserer Zivilisation zu finden. Was bewirkt, dass eine Kultur nicht zerstörerisch wirkt? Was tragen wir seit Anbeginn in uns, das Nährboden des Neuen sein könnte?
Ein zentrales Thema dabei ist Angst – Angst vor dem Hunger des nächsten Tags, Angst vor dem anderen, Angst vor den eigenen »Sünden«, Angst vor Bloßstellung, wenn wir uns liebend zeigen, und so fort.
LM Deine Recherche zu Norie Huddle und unsere Arbeit an Oya 41 – ein Beispiel für Synchronizität: ­Gerade heute haben wir beschlossen, auf dem Titel eine Insektenpuppe zu zeigen und alle Beiträge im Heft als fragmentarische Mitteilungen aus unserem Verpuppungsprozess zu begreifen. "
Viel mehr als um das Einsammeln möglichst vieler Mitstreiter geht es wohl darum, sich an etwas Ursprüngliches zu erinnern – an das, was mit uns Menschen gemeint ist. Ich muss an ein Buch denken, das vor unserer Zeitrechnung entstanden ist. Im ­Daodejing heißt es: »Ein leises Land, einfältig Volk, und ewig blühte das Allgemeinsame.«
Das »einfältig« hat mich früher irritiert, weil es in unserer Sprache abwertend klingt. Aber vielleicht meint es: Menschen, die kein Machthunger umtreibt, für die es genügt, »leise« mit dem Land zu leben. Sie bringen offenbar etwas zum Blühen – das Allgemeinsame.  In dem Allgemeinsamen lese ich die mehr-als-menschliche Welt* eingeschlossen. Vielleicht ist darin auch alles Kunstreiche und Intellektuelle, das Menschen hervorbringen können, eingeschlossen – wenn etwas blüht, dann blüht doch alles im Potenzial der beteiligten ­Wesen. Die Basis dafür ist das »Leise« und das »Ein­fältige/Einfache«.

Womit also ist Oya verwandt? Mit gesellschaftlichen, kulturellen, zeitgeistigen Strömungen, mit ähnlichen Medien, die kommen und vergehen? Auf der physischen und kommunikativen Ebene besteht sicherlich zu diesem und jenem Teil Verwandtschaft und Nachkommenschaft. Doch trifft das nicht den Kern. Der Kern liegt tief im Fleisch der Welt* eingebettet: Es ist das Bemühen, etwas vom Allgemeinsamen in die Allgemeinheit zu tragen. Diesen Impuls teilen wir mit einer langen Reihe von Ahnen,  die alle wussten, dass eine gute Welt möglich ist. •••

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