Titelthema

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Die Eibe ist der älteste in Europa heimische Baum. Aus der Begegnung mit einem Eibenbäumchen entstand dieser Versuch über Wiederbeheimatung.von Der Schwarm, erschienen in Ausgabe #41/2016
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»Abwärts senkt sich der Weg / Von trauernden Eiben umdüstert / Führt er durch Schweigen stumm / Zu den unterirdischen Sitzen.« (Ovid)

Albert Vinzens Ich bin jemand, der in der Gefahr steht, den richtigen Moment hinauszuzögern und dann auch zu verpassen.
Matthias Fersterer Meist gibt es nicht nur eine Gelegenheit.
AV Und es gibt Metamorphosen.
MF Und manchmal ist es zu spät: Ich hatte den Wunsch nach einer Eibe*. Bislang gab es keine Eibe in Klein Jasedow. ­Daraufhin brachte einer von uns eine Eibe aus der Baumschule mit. Wir ­ließen sie ein paar Wochen im Topf stehen, haben sie gewässert, manchmal zu wenig, manchmal zu viel, und insgesamt hatte sie es wohl zu feucht gehabt. Als wir sie dann in die Erde pflanzten, hatte sie bereits braune Spitzen. Obwohl wir uns Mühe gegeben hatten, den idealen Platz zu finden, hat sie es nicht geschafft. Wir haben den rechten Augenblick verpasst. Die Eibe kommt nicht wieder.
AV Diese nicht.
MF Aber wir werden eine neue pflanzen. Beim nächsten Mal ­machen wir es anders.

Diese Episode, die es nicht ins Kapitel 6 der vergangenen Ausgabe geschafft hat, hatte einen Schmerz in mir hinterlassen. Durch scheinbar Wichtigeres hatten meine Mitpflanzer und ich uns davon abhalten lassen, das kleine Eibenbäumchen rechtzeitig in die Erde zu bringen. Meine Prioritäten falsch gesetzt zu haben und der Sorge für ein schutzbefohlenes Lebewesen nicht nachgekommen zu sein, hat in mir eine Wunde aufgerissen, die an einen größeren Schmerz rührt. Dieser meldet sich immer dann, wenn die Megamaschine, die nicht nur »dort draußen« omnipräsent ist, sondern sich auch in den mentalen Infrastrukturen* unseres Denkens, Fühlens und Wollens eingenistet hat, den spontanen authentischen Ausdruck des Lebendigen in mir abtötet. Ähnlich mag es Wendell Berry ergangen sein, der in dem Gedicht »Damage« davon berichtet, wie er durch den Versuch, eine Viehtränke an seinem heimatlichen Hügel anzulegen, trotz bester Absicht einen Erdrutsch verursachte: »Das Problem war das übliche: zu viel Macht, zu wenig Wissen. Der Fehler war meiner … Bis diese Wunde im Steilhang, meinem Heimatort, verheilt ist, ist mein Mind* getrübt. Ist mein Friede gestört. Kann ich nicht vergessen.«

Eine Beerdigung. Zwei Wochen zuvor ist Bernd gegangen. Der ehemalige Richter mit bewegtem Lebenslauf zwischen Riga und Berlin, der die ihm prognostizierte verbleibende Zeit um ein Dutzendfaches überlebt hat, findet an einem leuchtenden Septembertag seine letzte Ruhestätte auf einem kleinen Friedhof mit malerischem Blick über den Peenestrom hinüber zur Insel Usedom. Drei Jahre lang hatte ich die Ehre gehabt, sein Nachbar zu sein. Er hinterlässt eine Lücke in unserem Dörfernetzwerk,  entsprechend groß die Schar, die ihm das letzte Geleit gibt.
Nach dem Gang zum Grab hat der bald zweijährige Jonah auf meinem Arm Platz genommen. Am Nachbargrab, auf dem Kompost der Toten wachsend, ' entdeckt er ein Eibenbäumchen mit prallen roten Früchten – und will hin. Da sind sie wieder! Seit ich denken kann, ziehen mich diese Bäume magisch an. Wie sollte es da ­Jonah anders ergehen? Er reckt seine Ärmchen nach den leuchtenden Farbklecksen. Ich ­pflücke eine der roten Beeren und ritze den Samen­mantel mit dem Fingernagel ein. Das pralle Gewebe fällt zu einer klebrigen Masse zusammen. Dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod fühle ich mich besonders nahe, als ich mit der einen Hand den giftigen Kern über die Friedhofsmauer schnipse und mit der anderen Jonah das süße Gallert hinhalte. Genüsslich vertilgt er das Eibengelee und verlangt: »Mehr!«
Bei der anschließenden geselligen Zusammenkunft zu Ehren des Verstor­benen komme ich mit meinem Freund Thomas ins Gespräch. Wir sehen uns selten und fühlen uns doch verbunden. Dass unsere Geburtstage auf denselben Tag in verschiedenen Jahrzehnten fallen, vertieft die Verbundenheit. Er könnte mein junger Vater sein, ich sein großer Sohn. Wir leben nur wenige Kilometer voneinander entfernt und kommen doch kaum öfter als ein, zwei Mal im Jahr dazu, ausgiebig miteinander zu sprechen. Wenn wir uns dann sehen, greifen wir mühelos den Faden unseres Gesprächs auf, das mir wie eine einzige fortdauernde Konversation mit ungewöhnlich langen Denkpausen vorkommt. Ich teile meinen Schmerz über die missglückte Baumpflanzung mit ihm. – »Ich habe eine Eibe für dich«, erwidert er und zwinkert mir aufmunternd zu.
So radle ich zwei Tage darauf ins Nachbardorf zu dem Wagen, in dem Thomas und seine Frau inmitten ihres »englischen Gartens« leben. Als freischaffender Landschaftsgärtner pflegt er hingebungsvoll Bäume und Gärten und prägt das regionale Erscheinungsbild durch meisterlich gelegte Natursteinmauern – eine Kunst, die er aus England und Wales mitgebracht hat. Und da steht es schon: ein stattliches Eibenbäumchen von einem Meter Stammhöhe. Vor Jahren hat Thomas einen kleinen Steckling in seinen Garten gepflanzt, um mir die Eibe heute fertig ausgegraben in einem ausgedienten Malereimer zu überreichen.
Auf der nach Westen weisenden Bank sitzend, ­beobachten wir den Lauf der frühherbstlichen Abendsonne, die sich bald hinter die Baumwipfel jenseits der Industrieäcker senken wird, und setzen unser Gespräch fort. Der Blick auf den jahreszeitlich wandernden Sonnenlauf sei es, der ihn trotz der agrarindustriell bewirtschafteten Felder dazu gebracht habe, die Hecke nach Westen licht und niedrig zu halten. Ich berichte Thomas von unserem Oya-Treffen Anfang September, von der Schwierigkeit, uns zwischen Produkt und authentischem Tun gefangen zu fühlen, und von der Perspektive eines solidarisch getragenen Zeitschriftenprojekts. Ihn bewegen gerade ganz ähnliche Fragen in Bezug auf die hiesige Kräuterteekooperative, für die er manchmal arbeitet und die darauf angewiesen ist, regionale Erzeugnisse auf einem überregionalen Markt abzusetzen. Ein neuer Schmerz regt sich in mir: Warum hat dieser wunderbare Freund und Nachbar, den gerade Ähnliches umtreibt, nicht den Weg zu unserer Denkwerkstatt gefunden? Warum sind Menschen aus allen Teilen des Landes angereist, aber verwandte Geister aus der Region fielen durch Abwesenheit auf? War unser Ruf nicht laut, nicht klar, nicht deutlich genug?
Unser Gespräch mäandert weiter. Wir sprechen über England und Bücher, wie wir es immer tun, streifen herausfordernde Fragen zu Gülle, Kompost und Kreisläufen, zu authentischem Leben angesichts faktischer Ausweglosigkeit einerseits und wunderbarer Wendungen andererseits, verweilen in der Wohltat des Schweigens und landen schließlich bei alten Bäumen, die wir besucht und von denen wir gelesen haben, zum Beispiel die »Ankerwycke Yew«, eine auf ein Alter von bis zu 2500 Jahren geschätzte Eibe in Südengland.

Es wird neblig gewesen sein, als die Themseaue an jenem Juni­morgen erwachte. Ohne Nebel geht es in solchen Bildern nicht. Noch ist es still, als sich die milchigweiße Sonne über den Horizont zu heben beginnt. An die 1400 Flugzeuge, die heute tagtäglich den dortigen Luftraum fragmentieren, weil sie am zehn Meilen entfernten Flughafen Heathrow gerade gestartet sind oder gleich landen werden, war damals nicht im Entferntesten zu denken. Auf den weichen Nadeln der alten Eibe perlt der morgendliche Tau. Gleich werden die Wasservögel ihr Gefieder spreizen und unter lautem Flügelschlagen und gellendem Rufen auffliegen. Danach wieder Stille. Es wird noch dauern, bis der lärmende Pulk eintrifft: der ­König mit seiner Entourage aus Windsor Castle im Norden, die aufständischen Barone mit ihrer bewaffneten Gefolgschaft aus dem Städtchen Staines im Süden.
Am 15. Juni 1215 erklärt sich der englische König Johann Ohneland auf Druck des revoltierenden Adels zu Waffenstillstandsverhandlungen bereit. Zeitgenössische Aufzeichnungen beschreiben diesen König als einen Despoten, der Misswirtschaft und Willkürherrschaft übers Land brachte – jene Art von Ausbeutung, die den mittelalterlichen Bauernburschen in Kapitel 1 der vergangenen Ausgabe verzweifeln lassen hatte. Die Barone haben der Krone die Gefolgschaft aufgekündigt und die Hauptstadt London eingenommen. Heute kommen die verfeindeten Lager am Themseufer bei Runnymede zusammen. Die Flussaue dient den Menschen seit vielen Generationen als Ratsplatz. Am Ende der Verhandlungen unterzeichnet der König ein wegweisendes Rechtsdokument, das als »Magna Carta«* in die Geschichte eingehen wird. Darin werden unter anderem Allmende*-Rechte und Praktiken des Gemeinschaffens* verbrieft.  Im Gegenzug erneuern die Barone ihren Lehnseid und besänftigen das aufgebrachte Volk. Zwar wird sich der ­König nicht lange an den Waffenfrieden halten, doch die Kunde von der Mag­na Carta verbreitet sich rasant. So kommentieren die Mönche der Zisterzienserabtei im schottischen Melrose in ihrer Chronik: »In England trägt sich Sonderbares zu, was nie zuvor vernommen ward: Der Körper will nämlich über das Haupt herrschen, das Volk will sich den König untertan machen.«
Seit der Invasion der Normannen im Jahr 1066 steht England unter Fremdherrschaft und erlebt eine nie zuvor dagewesene Konzentration von Macht und Besitz. Wälder werden zu königlichen Jagdrevieren erklärt, Forstprivilegien verkauft, die Einhegung* der Allmende erlebt einen frühen Höhepunkt. Der Autor Paul Kingsnorth 90 führt gar den Umstand, dass heute in Großbritannien 70 Prozent des Bodens im Eigentum von nur einem (!) Prozent der Bevölkerung stehen, auf die normannische Invasion zurück. Die Magna Carta und die zwei Jahre darauf unterzeichnete »Charter of the Forest«* mögen die parlamentarische Demokratie und die US‑ame­rikanische Verfassung inspiriert haben, aber Landnahme und Ausbeutung sind deshalb heute beileibe nicht passé: Was einst »Einhegung« und »Forstprivilegien« hieß, lebt weltweit in Landgrabbing* und Erschließungsrechten weiter, die nicht königlicher Willkür, sondern kapitalistischer Verwertungslogik geschuldet sind.
Obwohl Runnymede landläufig als Platz ihrer Unterzeichnung angenommen wird, vermuten manche Historiker, dass die Carta tatsächlich am gegenüberliegenden Flussufer beim Nonnenkloster von Ankerwycke und der nahegelegenen Eibe besiegelt wurde. Der schlichte Grund: Da die Barone der damaligen Zeit wohl kaum des Lesens und Schreibens kundig gewesen sein dürften, ist es naheliegend, dass sie Kopien bei den gelehrten Benediktinerinnen des Magdalenenstifts anfertigen ließen: »Bless thee, mistress, we seek thy aid!« – »O Meistin, könnt ihr helfen?«
Schon vor 800 Jahren war die Eibe von Ankerwycke, die lange vor der im 12. Jahrhundert gegründeten Abtei an ihrem Platz stand, ein mächtiger Baum. Sie galt den Menschen früherer Zeiten als Heiligtum und war bereits da, als die römischen Legionen im 1. Jahrhundert, die Horden der Angeln und Sachsen im 5. Jahrhundert oder die normannischen Heere im 11. Jahrhundert auf den ­britischen Inseln landeten. Sie bezeugte Invasionen und Kriege, sah eine Vielzahl an Herrschern kommen und gehen und sie erlebte den Widerschein des Großen Feuers von 1666 und jenen der Luftangriffe von 1940/41 aus dem 20 Meilen entfernten London. In der stillen Beharrlichkeit, mit der sie die Zeiten und Moden überdauert hat, steckt eine ungleich größere Lektion in Demut als in allen ­Exerzitien und Offizien, die in der Abtei nebenan praktiziert wurden. Während vom Kloster heute nur noch ein paar Mauerreste übrig sind, ist es möglich, dass die Eibe auch in 800 Jahren noch dort stehen wird.

Die Sonne ist schon hinter den Baumwipfeln verschwunden, und ein kühler Abendwind zieht auf, als wir uns verabschieden. Zuvor hatte Thomas mir noch geholfen, die Eibe mit ein paar alten Fahrradschläuchen – »Die besten Baumbinder, weil sie den Stamm nicht einschneiden!« – auf meinem Gepäckträger festzuzurren. Auf dem Sattel sitzend, werde ich von meiner Mitfahrerin deutlich überragt. Wir müssen ein seltsames Bild abgeben, die Eibe und ich.
Auf unserem Heimweg passieren wir einen Konvoi mobiler Erntefabriken, die, enorme Staubwolken aufwirbelnd und Flutlichtkegel vor sich herschickend, von ihren Lenkern mit erschütterndem Getöse über die sandigen Böden durch die Dämmerung manövriert werden. Die Industriemaisstauden werden abgeerntet und an Ort und Stelle zu Tiermastfutter verarbeitet. Die Frage, warum der starkzehrende Mais auch nach Jahrzehnten monokulturellen Raubbaus auf Böden, deren Fruchtbarkeit an jene von Wüsten grenzt, perfekte Kolben hervorbringt, ist leicht beantwortet: Kunstdünger und noch mehr Kunstdünger. Hier ist er wieder, der schmale Grat zwischen Leben und Tod: Die Böden sind praktisch tot, während ihr Bewuchs auf eine unheimliche, wiedergängerische Weise Lebendigkeit vorgaukelt. Weniger leicht zu beantworten ist die Frage, wie die ausgezehrte Erde zu rekultivieren wäre.  Eines ist gewiss: Die Antwort hat mit Zeit zu tun. Bleibt uns aber genügend Zeit für die immense Aufgabe, die da vor uns liegt? Steht sie überhaupt in unserer Macht?

An einem der folgenden Morgen bringe ich die Eibe gemeinsam mit einem Mitpflanzer in die Erde. Der Platz ist sorgfältig gewählt, in Gedanken wurde er lange vorbereitet. Jeden Tag suche ich seither die Eibe auf, lasse mich auf einem Sitzstein nieder, den ich hangaufwärts an ihren Platz gewälzt habe, und beobachte, wer und was da kommen will: Libelle, Blindschleiche, Heupferd, Spinnweben, Gedanken, Worte, Sätze … Und während ich bei der Eibe sitze, ihre Wurzeln begieße, mich schweigend mit ihr verbinde, komme ich dem Schmerz näher. Ungerührt erduldet die Eibe, was immer ich an Mühsal, Sorge, Kümmernis mitbringe.
Eines frühen Morgens schenkt mir die Eibe ein Bild, und für die Dauer dieses Bilds gibt es keinen Unterschied zwischen dem Baum und dem, was ich »Ich« nenne: Vor mir ein Feld wie jener neulich abgeerntete Maisacker, ganz und gar mit Sand bedeckt. Ein heißer Wind fegt über die Fläche und treibt die feinen Körner zu Dünen zusammen. Daraus ragen die Überreste menschlicher Artefakte und längst vergangener Lebewesen hervor: Hier die verrostete Karosserie eines VW-Käfers, da ein gelbes Trommelfass, dort drüben das Gerippe eines gestrandeten Ozeantankers, dahinter verdorrte Kadaver von Mastvieh und ein Häuflein menschlicher Knochen. Heulend peitscht der Wind über die Hinterlassenschaften vergangener Zeiten. Aus der Warte der Eibe bezeuge ich, wie eines nach dem anderen vergeht: Alle Dinge zermahlt der Wind zu feinem Sand – nur ein Augenblick, und sie sind nicht mehr. Die Eibenzeit läuft in einem Tempo, das nicht meines ist: Von Äquinoktium* zu Äquinoktium vergeht kaum mehr als ein Lidschlag, durchsetzt vom pulsierenden Flackern der sich hebenden und senkenden Sonnenscheibe.
Am Horizont zeichnet sich die Silhouette der grünen Vegetation am Ackerrand ab: Weiden, Buchen, ein wilder Kirschbaum, Weißdornbüsche, Gräser, Farne – ich beobachte, wie sie höher und höher zum Himmel emporwachsen und wie sich ihre Schatten auf den sandigen Boden legen. Dann neigt sich die Vegetation dem Wüstenacker entgegen, bis sie den fiebernden Grund wie ein kühlender Umschlag bedeckt. Während die Lichtphasen des Sonnenpulses kürzer und kürzer werden, ebbt das Heulen des Winds ab und wird vom seufzenden Ausatmen eines unendlich geplagten Wesens überlagert. Dann wird es still und dunkel. Was war, ist nicht mehr. Etwas Neues kann geboren werden.
Als ich die Augen öffne und mein inwendiges Dunkel dem Licht der Morgensonne weicht, schwingt in mir eine Gedichtzeile von Sylvia Plath: »Und die Botschaft der Eibe ist Schwärze – Schwärze und ­Schweigen.« •••

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