Gemeinschaft

»Wir müssen wissen, dass ein Wandel möglich ist«

Wolfram Nolte und Susanne Fischer-Rizzi sprachen mit der US-amerikanischen Öko- und Friedensaktivistin Starhawk.von Wolfram Nolte, Susanne Fischer-Rizzi, Starhawk Starhawk, erschienen in Ausgabe #41/2016
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© Wolfram Nolte

Starhawk, du bezeichnest deine Arbeit als »Erd-Aktivismus«. Gerade hast du in der Gemeinschaft Schloss Tempelhof einen Workshop dazu geleitet. Worum geht es dir dabei?

Wir alle suchen nach Lösungen für die großen Herausforderungen unserer Zeit. In dem Workshop sind wir der Frage nach­gegangen, wie wir unsere persönliche Kraft und unser ureigenes Vertrauen finden, um auf einer umfassenden Ebene an kreativen Entwicklungen für die Erde mitzuwirken.

Du pflegst eine enge Verbindung mit der wilden Natur. Hat das auch etwas mit deinem politischen Wirken zu tun?

Wenn man sich für die Natur einsetzen will, hilft es, eine gute persönliche Verbindung zu ihr zu haben. Ein Teil meiner politischen Arbeit besteht darin, das Gefühl zu vermitteln, dass wir wirklich ein Teil der Natur sind. Es bereichert uns als Aktivisten, wenn wir am eigenen Leib erfahren, wofür wir uns einsetzen. Politische Arbeit ist anstrengend, oft ermüdend und auslaugend. Wenn du so etwas länger als ein Jahr machst, brauchst du etwas, was dich erneuert und stärkt. Ich bekomme das durch meine Verbindung zur natürlichen Welt.

Warum beschäftigst du dich mit der Kreativität und Effektivität politischer Gruppen?

Ich habe viele Jahrzehnte in spirituellen, in politischen und in Permakultur-Gruppen gearbeitet. Dabei stellte ich fest, dass viele den Anspruch haben, sich »horizontal« bzw. egalitär zu organisieren: Alle sollen die gleiche Position haben, und es soll keine Autorität geben. Mit der Zeit fand ich heraus, dass diese basisdemokratischen Gruppen jeweils an ähnlichen Problemen scheitern. Wir wachsen normalerweise in Familien auf, wo Mutter oder Vater Konflikte zwischen Geschwistern beenden. Diese Art von Autorität möchte man aber nicht haben. Um mit Konflikten innerhalb und außerhalb einer Gruppe umzugehen, brauchen wir daher andere Werkzeuge. Davon handelt mein Buch »The Empowerment Manual – A Guide for Collaborative Groups« (»Ermächtigungshandbuch für Gemeinschaften«). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dieser Ansatz hilfreich ist. Gruppen, die in diesem Sinn ihre Strukturen verändern, konnten Konflikte besser lösen und effektiver arbeiten. In den 1980er Jahren fing ich damit an, gewaltfreie Kommunikation in Gruppen zu lehren, die sich gegen Atomkraft und Atomwaffen organisierten. Ich habe Aktivisten in Palästina trainiert, die sich gegen die militärische Besetzung wehrten. Immer ging es um die Frage: »Wie treffen wir Entscheidungen?« Wenn Menschen ihre Entscheidungen in einem Konsens treffen wollen, brauchen sie dafür dringend ein Training. Ansonsten endet es schrecklich.

Magst du uns Beispiele für diese Arbeit ­geben und auch einige Werkzeuge beschreiben, die du verwendest?

Es gibt viele verschiedene Werkzeuge, um Konflikte zu lösen. Ich erinnere mich an ein Training im Jahr 2003, als der Irakkrieg begann. Ich wurde damals von einigen Leuten aus Phönix/Arizona gerufen, um zu helfen, einen Konflikt zwischen pazifistischen Friedensaktivisten und gewaltbereiten Anarchisten zu lösen. Ich benutzte zuerst das Werkzeug des »Spektrums«. Dabei schafft man zwei Pole im Raum und gibt den Teilnehmern eine Situation vor, z. B. sollen sie sich eine Demonstration vorstellen, bei der jemand schreit, dass er sich von der Polizei bedrängt fühlt. Wenn du denkst, dass man mit Gewalt reagieren sollte, stellst du dich auf die eine Seite des Raums; wenn du denkst, dass man gewaltfrei reagieren sollte, stellst du dich auf die andere Seite. Die Aktivistinnen, die diese beiden extremen Positionen einnehmen, werden nun gebeten, darüber miteinander zu reden. Eine Person stellt sich in die Mitte, und ihr sollen nun die Argumente der beiden extremen Positionen nahegebracht werden. Die übrigen Teilnehmer ordnen sich den Polen mehr oder weniger nah zu. So kann man ziemlich schnell das Spektrum an Meinungen sehen.

Wie aber kommst du von verschiedenen Meinungen zu gemeinsamem Handeln?

Man kann in so eine Aufstellung beispielsweise zusätzlich überkreuz die Position der Effektivität einfügen. Diejenigen, die eine bestimmte Position für effektiv halten, bewegen sich zu einer dritten Wand, die für Effektivität steht, und die anderen zur vierten Wand, die für Ineffektivität steht. Dabei kann beispielsweise sichtbar werden, dass manche gewalttätige Reaktionen für gerechtfertigt, aber nicht für effektiv halten. Manchmal ist das sehr interessant und hilfreich für das gegenseitige Verständnis. In Phönix habe ich nach dem Spektrum auch eine »Fishbowl« (wörtlich »Goldfischglas«; eine Versammlungsmethode) gemacht: Man lässt etwa die militanten Anarchisten in die Mitte des Kreises kommen und erzählen, wie es sich anfühlt, ein gewaltbereiter Widerständler zu sein, während die Friedensleute wirklich nur zuhören. Anschließend reden die Pazifisten in der Mitte von sich. Danach bildet man Paare aus beiden Meinungspolen und lässt diese miteinander sprechen. Meiner Erfahrung nach stimmen die Leute dann nicht unbedingt einander zu – aber es ist ihnen meist möglich, zusammenzuarbeiten.

Durch diese Methoden willst du es Menschen ermöglichen, erst ihre eigene Position zu vertreten und dann der Gegenseite zuzuhören und mit ihr zu fühlen. Hinterher ist es ihnen möglich, miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren?

Ja, es ist wichtig, sich die Argumente der Gegenseite anzuhören. Auch wenn man deren Meinung nicht zustimmt, lernt man den Grund ihres Handelns kennen und vielleicht zu verstehen. Auf jeden Fall kann man unzutreffende Spekulationen loslassen und sich auf das konzentrieren, was Sache ist. Ich habe das beispielsweise mit einer Gruppe in Santa Rosa durchgeführt. In dieser kleinen Stadt wurde vor einigen Jahren ein 13-jähriger Latino von einem Sheriff erschossen. Der Junge hatte den Sheriff angeschrien und dabei mit einer Spielzeugpistole herumgefuchtelt. Nachdem er der Aufforderung »Lass die Pistole fallen!« nicht nachkam, hat der Polizist ihn ­erschossen. Der Vorfall erregte viel Aufsehen und führte zur Polarisierung. Es bildete sich eine Gruppe aus wohlhabenden Mittelständlern sowie älteren Leuten und auf der anderen Seite eine aus vielen Latino-Kids. Wir haben also mit beiden Seiten zusammen das Spektrum aufgestellt. Es war interessant, dass die älteren weißen Mittelklasse-Angehörigen das Verhalten des Jungen gewalttätig fanden, die jungen Latinos aber nicht. Ich musste also die beiden Gruppen dazu bringen, einander zuzuhören. Die Älteren konnten so von den Jungen erfahren, dass sie mit Gewalt aufwachsen und an sie gewöhnt sind. Wenn sie einen Polizisten anschreien, heißt das noch lange nicht, dass sie gleich zur Anwendung von Gewalt übergehen.

Was sind deine Kriterien für sich gut ent­wickelnde Gruppen?

Diejenigen, die sich um Struktur und Entscheidungen kümmern, entwickeln sich meist gut. Gruppen, die das nicht tun, sind meist unbeständig und lösen sich wieder auf. Es gibt auch Gruppen, die länger zusammen sind, wie die intentionalen Gemeinschaften, die sich auf der Basis von gemeinsamen Werten und mit langfristigen Zielen bilden.
Ein Kriterium für sich gut entwickelnde Gruppen ist, dass sie die Fähigkeit zum Konsens ausbilden. Ich habe meinen Fokus auf diese Arbeit der Gemeinschaftsbildung gesetzt, weil ich glaube, dass effi­ziente und kreative Gruppen die Gesellschaft verändern können.

Mit welcher Ausrichtung sollte man gemeinschaftliche Strukturen aufbauen?

Ich schlage vor, dass eine Gruppe sich mit folgenden Fragen beschäftigt: »Wie lässt sich eine Struktur kreieren, die Macht und Verantwortung ausbalanciert, so dass Menschen Macht verdienen, weil sie Verantwortung übernehmen?«, »Wie schafft man durch Kommunikation Vertrauen – auch zu Menschen, die andere Ansichten haben?«, »Wie stärken wir die Bereitschaft, Aufgaben und Entscheidungen zu delegieren?« Nicht alle müssen alles entscheiden. Damit erreicht man eine Struktur, die sehr wahrscheinlich funktioniert. Außerdem halte ich es für wichtig, dass Menschen zu Beginn über ihre Werte sprechen. Was sind die Werte, für die du einen Kompromiss finden kannst – und für welche willst du keinen finden?

Dich beschäftigt momentan also hauptsächlich die Frage, wie Gruppen effektiv und produktiv politisch arbeiten?

Das ist nur eine meiner Aufgaben. Ich bin ja auch Autorin. Nach dem »Empower-ment Manual« von 2011 habe ich einen Science-Fiction-Roman geschrieben, »City of ­Refuge« (»Stadt der Zuflucht«). Ich schaue in diesem Buch, das in Kalifornien spielt, in die Zunkuft des 21. Jahrhunderts. In der Story ist Nordkalifornien so etwas wie »Ökotopia« aus dem gleichnamigen Roman von Ernest Callenbach, aber Südkalifornien ist darin ganz brutal und faschistisch geworden. Die Geschichte handelt davon, was passiert, wenn der aggressive Süden in den pazifistischen Norden einmarschiert. Wie können sich die Menschen dagegen wehren, ohne selbst gewalttätig zu werden? Außerdem geht es um Magie und Frauenpower …

Welche Botschaft hat der Roman?

Es geht darin nicht so sehr um eine Botschaft, sondern um eine Frage: Wie können wir eine neue Welt kreieren, wenn die Menschen so sehr von der alten Welt geschädigt sind? Wenn ich eine Botschaft habe, schreibe ich ein Sachbuch. Es geht in diesem Roman darum, wie man mit Leuten umgeht, die vergessen haben, wie sich Befreiung anfühlt; es geht darum, wie man sie ermutigt, sich zu organisieren und aufzulehnen. Es ist kein strikt pazifistisches Buch. Die Nordkalifornier kämpfen sich in den Süden durch, sie befreien Schuldsklaven von einer Plantage. Für die Geretteten wird in einem Teil von Los Angeles eine Zufluchtsstätte eingerichtet: eben die City of Refuge.

Ist die Einrichtung solcher Zufluchtsorte in Kriegs- und Krisengebieten, z. B. aktuell in Syrien, eine praktikable Idee?

Leute wie Eve Ensler haben das schon gemacht. Ensler ist eine feministische Theaterautorin, die im Kongo ein Flüchtlingsdorf für Frauen mit Vergewaltigungsgeschichte eingerichtet hat. Im Dorf lernen sie Permakultur, um sich selbst zu versorgen und unabhängig sein zu können. Ein großer Teil meiner eigenen Arbeit besteht darin, Permakultur zu lehren. Wir haben viele Projekte durchgeführt, um Gruppen in der Bay Area von San Francisco zu unterstützen, vor allem mit Schwarzen und Latinos. Wir machen Fundraising, um Stipendien für farbige Menschen zu finanzieren und so auch Diversität in die Permakulturbewegung zu bringen. Ein anderer Teil meiner Arbeit in der Permakulturbewegung bestand in den letzten Jahren darin, Lösungen für den Klimawandel zu finden, Menschen darüber zu informieren und eine Politik zu fördern, die diese wichtige Aufgabe unterstützt. Wir wissen, dass wir diesen Wandel herbeiführen müssen. Wir brauchen keine riesigen Opfer zu bringen, wir müssen nur Dinge tun, die sowieso notwendig sind: den Boden aufbauen und Gemeinschaften bilden. Wir müssen lediglich den politischen Willen entwickeln, das auch umzusetzen, und zu einem einflussreichen politischen Faktor werden, um die Macht des Geldes zu brechen, das noch immer versucht, den giftigen Weg weiterzugehen. Um diesen Wandel bewirken zu können, müssen die Menschen aber wissen, dass er möglich ist.

Glaubst du wirklich, dass die amerikanische Gesellschaft für den notwendigen Wandel bereit ist?

Amerika ist ein großer Ort, ein sehr diverser Ort, es gibt Tausende von verschiedenen amerikanischen Gesellschaften. Ich denke, wir sollten darauf schauen, was Bernie Sanders bewegt hat: Ein Mann, der sich selbst Sozialist nennt und der eine sehr progressive politische Agenda forciert, hat 46 Prozent der Delegiertenstimmen gewonnen! Das zeigt, dass es in Amerika ein riesiges Potenzial gibt, vor allem unter den jungen Leuten. Meine Generation sollte sich schämen! Ich bin – ohne etwas zu zahlen – auf die Universität in Kalifornien gegangen, aber die jungen Leute von heute sind mit riesigen Schulden konfrontiert. Auf sie wartet kein guter Job. Wenn nichts anderes hilft, wird es die Zeit sein, die die Veränderung bringt. Aber wir haben nicht so viel Zeit! Deshalb müssen wir uns Gedanken machen, wie wir uns gemeinschaftlich organisieren, wie wir auf jeder Ebene kreativ und effektiv arbeiten können. Ohne kreative soziale Bewegungen wird es keine Fortschritte geben – egal, wer Präsident oder Präsidentin wird. •


Miriam Simos alias »Starhawk« (65) lebt in Kalifornien. Einer ­größeren Leserschaft wurde sie durch ihre Bücher zu Göttinnen und weiblicher Kraft bekannt. Die Autorin, Filmemacherin und Perma­kulturdesignerin verbindet politische Aktivität mit erdverbundener Spiritualität. www.starhawk.org

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