In Leipzig hat sich ein neuer, überregionaler Knotenpunkt für Gemeinschaftsinteressierte etabliert.
von Caris Birnbaum, Mandus Craiss, erschienen in Ausgabe #42/2017
Viele Menschen – Singles, Paare, Freundeskreise – entdecken derzeit das Thema Gemeinschaft für sich, stehen aber mit ihren Ideen und Sehnsüchten zunächst alleine da. Oft fehlt es an konkreten Kontakten und Informationen. Viele Gemeinschaftsinteressierte wünschen sich daher einen kontinuierlichen persönlichen Austausch untereinander und mit erfahreneren Gemeinschaftsmitgliedern. So entstand die Idee des »Kommune-Treffs«. Es fing an mit einer kleinen Gruppe aus Leipzig, die sich beim Reisen kennenlernte. Zwei junge Männer, Markus und Elia, waren nach ihrem Studium ein Jahr lang in Marokko, Spanien und Portugal unterwegs, besuchten unter anderem unterschiedlichste Gemeinschaften – und lernten dabei Josefine kennen. Da ihre politischen und ethischen Vorstellungen nahe beieinanderlagen, beschlossen Elia und Josefine am Ende der Reise, in Leipzig zusammenzuziehen. Was sie antrieb und zusammenschweißte, war von Anfang an eine Idee, die über die eigene Zweisamkeit hinausgehen sollte. Die Kraft, die aus der gemeinsamen antikapitalistischen Überzeugung hervorging, sollte in ein dauerhaftes Projekt des Zusammenlebens und -arbeitens fließen: eine Kommune mit gemeinsamer Ökonomie und Konsensentscheidungen. Die Gründungsmitglieder versuchten auf verschiedensten Wegen, Mitstreiterinnen für die Realisierung ihres Kommune-Traums zu finden. Man versuchte es mit eigener Website, einem Besuch des »Los geht’s«-Festivals für Gemeinschaftssuchende, mit Kleinanzeigen und Flyern. Aber so richtig ging es mit ihrer Vision nicht voran. Die Gruppe erkannte auch, dass die bisher in der Gemeinschaftsszene angebotenen Möglichkeiten zum Finden von ähnlich gesinnten Leuten die Form von Workshops und Kennenlernwochenenden in bestehenden Gemeinschaften hatten. Menschen, die neu ins Thema einsteigen, möchten aber oft erst einmal hineinschnuppern und haben ganz grundlegende Fragen. Sie wollen die gesamte Bandbreite etwa an Entscheidungsfindungsprozessen oder Ökonomieformen kennenlernen – und nicht nur die eine Variante einer einzigen Gemeinschaft. So kamen die verhinderten Gründerinnen auf die Idee, in der eigenen Umgebung ein regelmäßiges Treffen für Gemeinschaftsinteressierte zu organisieren: den Offenen Kommune-Treff. Die Veranstaltungen finden in den Räumen des Vereins »RosaLinde« statt. Das seit 1989 bestehende Begegnungszentrum entstammt der schwul-lesbischen Bewegung und ist offen für »alle Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Identität und Lebensweise«. Es gibt dort eine Bar und damit die Möglichkeit, sich auch ohne eine vorgegebene Fragestellung zu begegnen und bei Bier oder Biobrause der Fantasie vom besten aller Gemeinschaftsleben freien Lauf zu lassen. Nicht alle reden hier immer nur über das eine zentrale Thema, aber für alle ist selbstverständlich, dass die Idee von Gemeinschaft im eigenen Kopf und im Kopf des Gegenübers präsent ist. Beim ersten Treffen im Mai 2016 kamen neun Menschen zusammen – alle euphorisch, aber auch etwas aufgeregt, denn schließlich war es Neuland, das sie betraten. Ein Gast wünschte sich eine Mailingliste, was bis zum nächsten Treffen umgesetzt wurde. Die Zahl der Gäste pro Abend hat sich seither bei 15 bis 20 eingependelt; insgesamt erschienen im ersten Dreivierteljahr etwa 70 Menschen. Die meisten davon stammen aus Leipzig und Umgebung, aber auch aus den angrenzenden Bundesländern, aus Berlin und sogar aus Israel, Holland und Spanien kamen Interessierte. »Wir wollten eine Plattform schaffen, auf der sich Menschen ungezwungen begegnen können«, erzählt Ailu, eine der Initiatorinnen, »ohne Vorgaben, ohne festes Rahmenwerk.«
Stammtischgefühl auf emanzipatorische Art Alle, für die das Thema »gemeinschaftliches Leben« noch ganz neu ist, dürfen beim offenen Leipziger Treff ohne Scheu ihre allerersten neugierigen Fragen stellen, etwa: »Was ist eigentlich gemeinsame Ökonomie?« oder »Wie funktioniert Konsens?« Weil die Veranstaltungen bewusst nicht von einer bestimmten Gemeinschaft mit ihren konkreten Konzepten organisiert werden, können solche Fragen aus unterschiedlichsten Perspektiven beantwortet werden. Auch Ängste und Unsicherheiten lassen sich hier thematisieren. Einige Gäste fragen sich beispielsweise, ob das Leben in Gemeinschaft nicht Gleichmacherei und die Aufgabe ihrer individuellen Lebensweise bedeuten würde. Hannes, ein regelmäßiger Besucher des Treffs, erzählt von der »wichtigsten Aha-Erkenntnis«, die er bisher mitnehmen konnte: »Mach doch, was du willst! Vorher hatte ich festgefahrene Vorstellungen darüber, was eine Kommune ist, und habe mich gefragt, was ich bereit wäre, aufzugeben, zum Beispiel meine Musik. Jetzt plane ich einfach alles, was mich ausmacht und was mir wichtig ist, gleich ein: einen Bandraum, ein Tonstudio, einen Veranstaltungsraum und den regelmäßigen Austausch mit anderen Musikerinnen.« Im Lauf der Monate kam es im Kommune-Treff zu vielen spannenden Begegnungen: So hat zum Beispiel eine junge Frau den weiten Weg von Wiesbaden nach Leipzig auf sich genommen, da sie in der eigenen Umgebung mit ihrem neu aufgekommenen Gemeinschaftsinteresse keinen Anschluss fand und schließlich über die Website auf den Kommune-Treff aufmerksam geworden war. In Leipzig sog sie alle möglichen Informationen auf, und notierte jeden Hinweis auf weiterführende Literatur oder Internetseiten in ihrem selbstgebastelten Notizbüchlein. Aber auch für Mitglieder von Gründungsinitiativen ist ein Besuch des offenen Kommune-Treffs sinnvoll, zum Beispiel um einmal wieder aus der eigenen Gruppe herauszukommen, übergreifende Ideen auszutauschen oder um neue Gesichter zu sehen. Neben dem Grundsätzlichen lassen sich an den Abenden auch konkrete Themen wie Fundraising oder Konfliktbearbeitung diskutieren. In der zwanglosen Atmosphäre können sogar typische Probleme von Kommunen aus dem Schatten geholt werden, um auch mit negativen Erfahrungen im Gemeinschaftsleben konstruktiv zu arbeiten. Wichtige Fragen sind etwa: Was lässt sich tun, um nach einer Phase der Gründungseuphorie der abfallenden Motivation und dem Nebeneinanderherleben entgegenzuwirken? Welche Fehler lassen sich von Anfang an vermeiden? Welche Strukturen oder welches Wissen müssen in einer Gruppe verankert sein, damit sie später mit negativen Gefühlen und Situationen umzugehen weiß? Festgefahrene Kommunikationsmuster, Rollenzuschreibungen oder andere – oft ungewollte, unbewusste – Muster können von außen oft besser wahrgenommen werden. Diese Form von Unterstützung können also auch alteingesessene Gemeinschaften beim Kommune-Treff erhalten. So war es zum Beispiel mit Ulli und ihrer Gemeinschaftsinitiative: »Ich war diejenige, die den Stein ins Rollen gebracht hatte, die von Anfang an mit viel Euphorie dabei war und auch schon mehrere Jahre in Gemeinschaft gelebt hatte. Dadurch kam es wohl dazu, dass alle mehr auf mich als auf sich selbst und die anderen zählten. Natürlich tat ich auch viel, schließlich ist die Gemeinschaftsgründung mein großer Traum. Aber dass die anderen so viel weniger Energie in unser Projekt steckten, hat mich ganz schön frustriert. Als bei unserem allerersten Besuch beim Kommunetreff mehrere Leute sagten, dass sie all das bei uns sehen würden, wollte ich das erst mal gar nicht wahrhaben.« Auf diese Weise den Spiegel vorgehalten zu bekommen, sei dennoch hilfreich gewesen, denn »jetzt ist das Thema auf dem Tisch und damit der erste Schritt getan, um es zu bearbeiten.«
Möglichkeiten durch Diversität Bei jedem Treff-Termin liegen Informationen zu gemeinschaftlichen Themen aus: Rechtsformen, Gruppenprozesse, Finanzierung, Kennenlernen und mehr. Auf dieser Grundlage können auch einzelne Themen vertieft diskutiert werden. Materialien für den Gemeinschaftsaufbau finden sich zudem auf der Website der Initiative; darunter Schemata zur gemeinsamen Ökonomie und zur Konsensfindung sowie ein detaillierter Fragebogen, der dabei helfen kann, sich über die eigenen Vorstellungen klarzuwerden. Den Gründerinnen geht es nicht darum, eine bestimmte Form von Gemeinschaft zu fördern, sondern darum, Menschen in ihren unterschiedlichen Wünschen zu unterstützen. Viele Visionen können funktionieren und ihre jeweiligen Träumerinnen glücklich machen. Jede Gemeinschaftsform – ob Land- oder Stadtkommune, Ökodorf oder Hausprojekt – hat ihre Vorzüge und Herausforderungen, jede hat ihre Berechtigung und trägt ihren Teil zum umfassenden großen Wandel bei. Alle können voneinander lernen. Das bedeutet bei den Leipziger Treffen auch Offenheit für Projekte in jeder Entwicklungsstufe, für Einzelpersonen, Paare, Kleinfamilien und Gruppen, für unterschiedliche Ideale von gemeinschaftlichem Leben. Jede und jeder ist hier mit ihrer oder seiner Vision willkommen und bereichert die Veranstaltungen. So kamen im Sommer zwei junge Männer, die ihren Traum einer kleinen, kinderfreundlichen, eng zusammenlebenden Gemeinschaft beschrieben: In der Nähe von Leipzig sollte es sein, mit viel Musik und nur ein paar Familien oder Alleinerziehende. Sie hatten zwar weder Projektnamen noch Internetseite, schrieben sich aber in die Mailingliste ein. Zum Glück – denn im Herbst erschien Robert, der ein ähnliches Wunschprojekt beschrieb, aber bislang mit Freundin und Kindern allein war. Nun können sie sich gegenseitig kennenlernen.
Eine große Gemeinschaftsszene wird sichtbar Es ist erstaunlich, wie viele gemeinschaftsinteressierte Menschen in Leipzig leben! Bei jedem Termin sieht man jeweils neue Gesichter. Noch erstaunlicher ist, dass all diese Menschen kaum voneinander wissen. Der Kommune-Treff macht das große gesellschaftliche Interesse an gemeinschaftlichem Leben sichtbar. Allein in Leipzig stehen derzeit mindestens sechs Gründungsgruppen in den Startlöchern. Bevor es den offenen Kommune-Treff gab, wusste keine von den anderen. Gerade für Menschen, deren Freundeskreis kein Interesse an Gemeinschaftsgründung zeigt, ist es beruhigend, zu erfahren, dass ihre Idee von einem alternativen Leben nicht absurd ist. Hier finden sich die Gleichgesinnten, die es braucht, um Ideen und Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Schon nach dem ersten Treffen bahnte sich zum Beispiel eine Kooperation mit dem ebenfalls in der Stadt ansässigen »Haus- und WagenRat e. V.« an. Dieser berät Gründungsgruppen und bestehende Wohnprojekte, veranstaltet Vorträge und Workshops zu Selbstverwaltung, Rechtsformen und gemeinschaftlichem Wohnen. Weitere Zusammenarbeit ist angedacht mit dem Mietshäusersyndikat, mit der Initiative »Haushalten e. V.« zur legalen Nutzung leerstehender Gebäude, mit dem französischen Gemeinschafts-Lern-Projekt »colibri« sowie mit »ecobasa.org«, einem europaweiten Gemeinschaftsnetzwerk für Zusammenarbeit, Ressourcenaustausch und gegenseitiges Lernen. Für die Zukunft wünschen sich die Initiatorinnen und Initiatoren des Kommune-Treffs, dass die Gemeinschaftsszene übergreifende Aktivitäten entwickelt, dass sich Projekte gegenseitig besser wahrnehmen und dass Treffpunkte nach dem Leipziger Vorbild auch an anderen Orten entstehen. »Wenn es in ein paar Jahren selbstverständlich ist, zum offenen Gemeinschafts-Treff in der eigenen Stadt zu gehen, sobald das Thema in den Fokus rückt, sind wir zufrieden«, erklären sie. Die Wunschliste ist aber noch länger: mehr gute Literatur und Internetseiten zum Thema, mehr Wissensweitergabe, Kommunikation und Vernetzung. Letzteres solle nicht nur darauf zielen, als einzelnes Projekt ein gutes Leben für die Mitglieder zu erreichen – obwohl dies freilich schon viel ist –; vielmehr wird auch die solidarische Kooperation zwischen verschiedenen Projekten angestrebt, so wie sie bereits beim Global Ecovillage Network (GEN) besteht. Aber auch eine projektübergreifende gemeinsame Ökonomie, Schenknetzwerke oder solidarische Landwirtschaft könnten zu einer praktischen Selbstverständlichkeit werden. Elias Fazit nach den ersten Monaten lautet: »Die Dankbarkeit und Freude der Leute zeigen uns, wie sehr solch ein Angebot bisher gefehlt hat. Wir glauben, dass es auch in anderen Städten ein großes Bedürfnis danach gibt.« •
Caris Birnbaum (28) ist Mitgründerin einer anarchistischen Kommune. Sie schreibt und übersetzt im »CrimethInc.-Kollektiv« Texte zum herrschaftsfreien Leben und lernt verschiedene Selbstversorgungs-Fähigkeiten.
Mandus Craiß (33) war in der Jugend-Umweltbewegung – u. a. bei der ehemaligen Zeitschrift »Kritische Masse« – aktiv und lebte mehrere Jahre in einer Kommuja-WG mit gemeinsamer Ökonomie.