Titelthema

Hüten und Öffnen

von Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #42/2017
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Hüten und Öffnen
Es geht um Hüten und Öffnen, um Bewahren und Zulassen – und vor allem um Weitergeben, um Lernen, um das Ermöglichen des Weitermachens. Unter welchen Bedingungen können Initiativen, die nicht vollständig Teil der »Megamaschinerie« der heutigen Gesellschaft sein wollen, weiterbestehen – und sich dabei, wenn nötig, einer Meta­morphose unterziehen? Allzu oft hängen alternative Projekte von einer oder mehreren bestimmten Personen ab und gehen zugrunde, wenn diese verschwinden. Wie können Erfahrung und Wissen anerkannt und weitergegeben werden, ohne in hierarchische Muster zu verfallen? Diesen Fragen nachzugehen, scheint lebenswichtig für den Aufbau einer Welt jenseits der Megamaschine. Der Wandelprozess von Oya ist nur ein Beispiel von vielen. Das Gespräch der Oya-Redaktion (Seite 14) wirft ein Blitzlicht auf diese Fragen – es kann Auftakt zu einem Forschungsstrang sein. •

 

Oya-Forschungsstation
Bislang war Oya ein Themenheft. Was wäre, wenn Oya auch zu einer Forschungsstation würde? Das Hüten, Öffnen und Weitergeben könnte auf diese Weise lange – so lange es nötig ist, um gesättigte Erkenntnisse zu finden – ein Forschungsstrang in Oya sein. Gesättigt ist eine Erkenntnis dann, wenn neue Geschichten und Details als Variationen des Bekannten erscheinen. Oya könnte eine Forschungsstation sein, die sich nicht im Elfenbeinturm – der heute doch meist aus Stahlbeton besteht – vergräbt. Vielmehr könnte sie, ausgehend von einer brennen­den Frage, sich in der Welt umsehen, Inter­views und Geschichten, Porträts und Beobachtungen sammeln, diskutieren und sich immer wieder auf die Ausgangsfrage eines Forschungsstrangs beziehen. Sie lädt ein, mitzuforschen, und wird durch ihr eigenes Lernen selbst zu einer Hüterin und Weitergebenden. Das wäre eine Wandlung, die auch bewahrt, was Oya immer schon war, es nur deutlicher nach außen trägt. •

 

Struktur
Jede Ansammlung von Menschen schafft durch ihr Tun einen bestimmten Raum mit ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln – das kann ein gemeinsames Mittagessen sein, bei dem geschwiegen oder sich lautstark unterhalten wird; ein Redekreis, in dem alle dem Menschen mit dem Redestein aufmerksam zuhören; eine Schulstunde, in der nur die Person, die vorne steht, spricht. Gruppen, die sich für einen Wandel hin zu einer Kultur des guten Lebens einsetzen, fragen sich oft, welche Struktur sie ihrem gemeinsamen Raum geben wollen. Schwierig wird es, wenn im Prozess eine versteckte Struktur entsteht, die sich später, auch wenn sie sich als dysfunktional erweist, kaum mehr verändern lässt.
 »Damit jede Person die Möglichkeit hat, sich in eine bestimmte Gruppe einzubringen und deren Vorhaben mitzutragen, muss die Struktur einer Gruppe ausgesprochen sein, nicht versteckt«, schrieb Jo Freemann, eine Aktivistin der zweiten Frauenbewegung in den USA, in den 1970er Jahren. Ihr Text über die »Tyrannei der Strukturlosig­keit«, der zu einem Klassiker für viele Menschen in sozialen Bewegungen wurde, beschreibt anschaulich, dass eine unausgesprochene Struktur häufig zu informellen Hierarchien führt und das Erreichen eines Ziels verhindert. Daher plädiert sie für das Ausprobieren verschiedener basisdemokratischer Modelle im Versuch-und-Irrtum-Format. Seither sind über 40 Jahre vergangen, und in Protestgruppen und Kollektiven, Ökodörfern, Bürgerinnenbewegungen, Nachbarschaftsgruppen, Camps, Agenturen und Sommertreffen sind zahlreiche dieser Formen getestet worden – über einige von ihnen hat Oya berichtet, doch sie sind noch viel zu wenig bekannt. Wie können wir es schaffen, besser voneinander zu lernen? Wie könnten passende und achtsame, veränderbare, aber nicht angreifbare Strukturen aussehen, die uns helfen, vertrauensvoll miteinander zu leben, zu lernen, zu arbeiten? An welchen auch ungewöhnlichen ­Orten findet sich dazu Inspiration? •

 

Autorität
Eine wichtige Rolle bei der Weitergabe von Erfahrungen haben Persönlichkeiten, denen man gerne zuhört und denen viel Wissen zugetraut wird. Gerade in Gruppen, in denen Menschen sich für ein anderes Zusammenleben einsetzen wollen, herrscht jedoch oft ein großes – berechtigtes – Misstrauen gegenüber Autoritäten vor. Es rührt aus Erfahrungen mit sogenannten Autoritäten wie Lehrern, Polizistinnen, Sachbearbeitern im Amt oder Chefinnen in der Firma. Diese mögen freundlich oder feindselig gesinnt gewesen sein, ihrem Gegenüber sind sie jedenfalls in einer Rolle begegnet, deren Autorität ohn-mächtig anerkannt werden musste. Stellt sich eine Einzelne gegen diese Autorität, dann riskiert sie Zwang: eine Geldstrafe, Freiheitsentzug oder den Verlust des Einkommens. Auch die Geschichte alternativer Lebensformen ist reich an Erzählungen vom Missbrauch der Autorität, von Guru-Systemen, Ausbeutung und psychischer Abhängigkeit. Ausgehend von solchen Erfahrungen ist es oft ein langer Weg hin zu freiwilliger Anerkennung einer positiven Autorität, die respektiert wird und von der gelernt werden kann.
Auch für Menschen, die sich in der Rolle der Erfahrenen und Älteren wiederfinden, ist es deshalb nicht einfach, damit einen von Schuldgefühlen freien Umgang zu finden. Die Aktivistin und Permakultur-Lehrerin Starhawk spricht von »verdienter« und »unverdienter« sozialer Macht, um zu unterscheiden, aus welchen Gründen jemand als Autorität wahrgenommen wird. Als unverdiente soziale Macht bezeichnet sie eine Autorität, die sich aus Privilegien der Herkunft herleitet – wie eine behütete Kindheit; ein Geschlecht oder Aussehen, aufgrund dessen man nicht abgewertet oder angefeindet wird; oder die Möglichkeit, eine Ausbildung oder ein Studium der eigenen Wahl absolviert haben zu können. Diese Privilegien können dazu führen, dass Menschen in einer Gruppe dominieren, schlicht deshalb, weil sie sich besser ausdrücken können oder selbstbewusster sind. Unter verdienter sozialer Macht versteht Starhawk hingegen die Anerkennung, die daraus erwächst, sich für eine bestimmte Gruppe oder ein bestimmtes Ziel leidenschaftlich und ausdauernd eingesetzt zu haben. Wenn Gruppen diese verdiente soziale Macht nicht – in strukturierten Grenzen – als Autorität respektieren, dann laufen sie Gefahr, daran zu zerbrechen.
Viele von uns haben in Gruppen, in der wir es anders machen wollten, offene und versteckte Machtkämpfe erlebt, die zum plötzlichen oder schleichenden Zerfall geführt haben. Es ist an der Zeit, aus diesen Machtkämpfen zu lernen: Was erzählen sie uns über frühere Erfahrungen mit Macht, Ohnmacht und Autorität? Wie können wir diese Erfahrungen auf behutsame Weise durch unser Miteinander in eine Kultur der gegenseitigen Achtung vor unserem jeweiligen Wissen, Können und So-Sein verwandeln? Nur wenn wir diese Ebene stets im Auge behalten, kann eine Dauerhaftigkeit entstehen. •

 

Inspiration
Wenn ich an Autoritäten denke, kommen mir verschiedene Erinnerungen in den Sinn. Zuerst ein Deutschlehrer in der fünften Klasse, den ich als Elfjährige mit schelmischer Genugtuung korrigiere, als er das Geburtsdatum eines Autors falsch angibt. Die Freude, es besser gewusst zu haben als die Autorität, das Verhältnis für einen Moment umgedreht zu haben. Die Sticheleien, die ich von ihm daraufhin zwei Jahre lang ständig im Unterricht über mich ergehen lassen muss. Und die Erkenntnis, dass viele Menschen sich hinter ihrer Rolle als Autorität verstecken, weil sie für eine Beziehung auf Augenhöhe zu unsicher sind.
Mir fällt mein Nachbar in einem Schwarzwaldstädtchen ein, als ich mit 20 Jahren meine Ausbildung anfange. Ein älterer Herr, er hat seine ungeliebte Stelle gekündigt, arbeitet freiberuflich für weniger Geld, aber glücklich. Mir öffnet sich ein Universum an Lebensmöglichkeiten – er ist der erste Erwachsene, der mir nicht sagt, das wichtigste im Leben sei ein sicherer Job.
Mir fällt die Feministin Frigga Haug ein, die in unserer politischen Gruppe in Berlin zu Gast ist; ich bin gerade mit dem Studium fertig und sage ihr, dass ich angesichts des Zustands der Welt oft nicht wisse, wie ich etwas verändern könne. Ihre Antwort hüte ich bis heute: »Die Frage ist falsch gestellt. Alleine kannst du ohnehin nichts erreichen. Schließ dich mit anderen zusammen.«
 Mir fallen die Querelen zwischen verschiedenen klugen, älteren Männern ein – Journalisten, Professoren, ehemalige Abgeordnete –, die mir mit Ende 20 bei meiner Arbeit in einem politischen Netzwerk begegnen. Durch ihr Nicht-Anerkennen-Können des jeweils anderen binden sie so viel Energie, dass das Projekt fast scheitert. Ich werfe alle meine Vermittlungskunst in den Ring, um das Projekt zu retten, und es gelingt. Ich begreife, dass ich selbst eine Art von Autorität und Macht in Gruppen entfalten kann, die nicht befiehlt, sondern ­vermittelt. •

 

Aufgabe
Welchen Umgang finden und fanden Gruppen für das Bewahren und Zulassen, das Weitergeben und Annehmen? Was können wir daraus lernen? Wie werden diese abstrakten Gedanken ganz fühlbar und praktisch? Wir freuen uns über aufgeschriebene Geschichten genauso wie über Hinweise und Inspirationen, wen und was wir dazu für kommende Ausgaben besuchen, befragen, porträtieren können. Wir wollen von denjenigen, die die Oya lesen, lernen.
Hinweise bitte an 
mitdenken@oya-online.de. •

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