Gesundheit

»Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen«

von Farah Lenser, erschienen in Ausgabe #6/2011
Photo

Am 17. November 2004 wurde in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin die Premiere von Christoph Schlingensiefs Stück »A. Hipler, Kunst & Gemüse« gefeiert. Als Mitautorin des Theaterstücks lenkte und kommentierte Angela Jansen die Ereignisse auf der Bühne mit Hilfe einer Laserkamera, die einen Computer animierte. Nach Schlingensief spielte sie die wichtigste Rolle in diesem Stück. Von ihr stammt auch der Satz: »Ich bin nicht krank, ich kann mich nur nicht bewegen«.
Angela Jansen leidet an amyotropher Lateralsklerose (ALS), einer Erkrankung des motorischen Nervensystems, die innerhalb weniger Jahre zu einer fortschreitenden Lähmung der Extremitäten sowie einer Störung bis hin zur Lähmung des Sprechens, Schluckens und der Atmung führt. Die ersten Symptome beschreibt sie dem Publikum in der Berliner Volksbühne so:
»Bei 40 Prozent der Erkrankten beginnen die Symptome in den Beinen. Bei 40 Prozent in den Armen. Bei 20 Prozent in der Zunge. Wadenkrämpfe können erste Anzeichen sein. Die Beine werden bleiern schwer. Dann kriecht die Krankheit in die Arme. Plötzlich fällt einem die schwere Pfanne mit heißem Öl aus der Hand. Dann kriecht die Krankheit in die Zunge. Am Anfang versucht man es zu überspielen, indem man langsam redet und schwierige Worte meidet. Irgendwann kann man es nicht mehr verstehen. Dann hört man auf, zu reden.«
Erste Symptome der Krankheit zeigten sich 1994 – da ist Angela Jansen 39 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und will gerade in eine neue Berufskarriere durchstarten, als unerklärliche Lähmungserscheinungen sie aus ihrem bisherigen Leben ­katapultieren. Es beginnt eine Odyssee zu den verschiedensten Ärzten – am Ende steht die Diagnose fest: ALS. Seit 1998 ist Angela Jansen fast vollständig gelähmt. Sie wird über eine Magensonde ernährt und künstlich beatmet.

Ein neues Leben beginnt
Am Ende der Aufführung in der Berliner Volksbühne singt das Schauspielerensemble für Angela Jansen ein Geburtstagsständchen, denn der 17. November, der Tag der Premiere, ist auch ihr Geburtstag. Sie wurde an diesem Tag 49 Jahre alt.
Dieser Geburtstag war tatsächlich ein besonderer, denn es war auch das erste Mal seit vielen Jahren, dass Angela Jansen überhaupt ihr Haus verließ. Proben und Premiere des Stücks machten es nötig und möglich. Sechs Jahre lang war sie im dritten Stock ihrer Berliner Altbauwohnung ans Bett gefesselt. Lange Zeit auch ohne das Kommunikationshilfsmittel »EyeGaze«. Mit diesem Sprachcomputer kann sie ihre Gedanken und Gefühle mitteilen. Sie bedient sozusagen mit ihren Augen eine Tastatur, eine Laserkamera beobachtet ihre Augenbewegungen, und auf einem Bildschirm erscheinen Worte und Sätze, die auch hörbar gemacht werden können.
Davor konnte sie sich nur mit einer Buchstabentafel verständigen. Auf der hatte sie einzelne Buchstaben und Silben nach deren Häufigkeit so zusammengestellt, dass eine helfende Person diese antippen konnte. Ein Augenblinzeln verriet der Helferin, dass Angela Jansen diesen Buchstaben meinte. Einige erinnern sich vielleicht an den Film »Schmetterling und Taucherglocke«, in dem das Schicksal von Jean-Dominique Bauby beschrieben wird. Der Chefredakteur der französischen Ausgabe der Zeitschrift »ELLE« war nach einem Schlaganfall ins Koma gefallen, und nach seinem Erwachen befand er sich in einem sogenannten Locked-In-Syndrom. Dies ähnelt dem Zustand eines ALS-Patienten, hat aber andere Ursachen und ist manchmal auch zum Teil therapierbar. Im Fall von Jean-Dominique Bauby konnte keine Verbesserung seines Zustands erreicht werden, er schrieb jedoch ein anrührendes Buch mit seinem linken Augenlid, indem seine Logopädin ihm die Buchstaben vorlas und er mit dem Auge zwinkerte, sobald der richtige Buchstabe genannt wurde.

Mensch, Maschine und Gesellschaft
Die fortgeschrittene Technik in der Medizin erlaubt es heutzutage auch Menschen, deren physische Körper fast vollständig gelähmt sind, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Denn ihr Gehirn und ihr Geist sind völlig funktionsfähig. Ein Beispiel dafür ist der weltbekannte Physiker Stephen Hawking, der seit seiner Studien­zeit an der progressiv fortschreitenden Krankheit ALS leidet und bis heute an Universitäten lehrt und vielbeachtete Fachbücher über das Universum geschrieben hat. Forschungen haben auch gezeigt, dass Patienten, die an ALS oder einem Locked-In-Syndrom leiden, durchaus ein positives Lebensgefühl haben, das oft sogar größer ist als das von gesunden Menschen.
Das große Problem ist aber, dass unsere Gesellschaft, deren Pflegeeinrichtungen und damit auch das Pflegepersonal auf Menschen, die ihr Leben trotz vollständiger Lähmung und künstlicher Beatmung selbst bestimmen wollen, nicht eingestellt sind. Die bisherige Erfahrung war eben, dass Patienten in diesem Zustand nicht kommunizieren und folglich auch nicht an einem »normalen« Leben teilnehmen könnten. Auch wenn einige von ihnen nicht stationär untergebracht sind, sondern wie Angela mit einer 24-Stunden-Pflege zu Hause betreut werden, ist die vorherrschende Einstellung doch, dass ein solches Leben nicht lebenswert sei, eine Zumutung für die Betroffenen und eine Belastung für ihre Familie.
Niemand ist darauf eingestellt, am wenigsten das betreuende Personal, dass schwer behinderte Personen das Haus verlassen, Ausflüge machen oder sogar an einen exotischen Ort verreisen wollen. All dies war bisher allenfalls in Tagträumen möglich. In einem ihrer Vorträge, die Angela Jansen heute auf Konferenzen und an Universitäten hält, formuliert sie es so: »Kein Außenstehender hätte es mir zugetraut, mit ALS im finalen Stadium, sabbernd, unfähig, Arme, Beine oder den Kopf zu bewegen, mit PEG (Magensonde) und beatmet, ich würde an Christophs Schlingensiefs Seite Theater spielen. Niemand hat es geglaubt, dass ich auch noch alles daransetzen würde, zusammen mit der Volksbühnen-Crew ›unser Stück‹ in Paris aufzuführen. Und nachdem mein Flug dorthin der deutschen Bürokratie zum Opfer fiel, nahm ich halt den Nachtzug.«

Mit den Augen tanzen
Auf dieser Reise wurde sie von einem Kamerateam begleitet, und Björn Thönicke hat aus dem Material einen beeindruckenden Film geschnitten. Unter dem Titel »Mit den Augen tanzen« wurde dieser erstmals 2006 einem breiten Fernsehpublikum vorgestellt. Mittlerweile haben auch andere von ALS Betroffene einige vielbeachtete Bücher geschrieben, und die Krankheit und ihre Folgen werden in der Öffentlichkeit mehr und mehr diskutiert. In Deutschland sind mehr Menschen von ALS betroffen als von AIDS. In meinem Bekanntenkreis höre ich immer häufiger von Menschen, die mit der Diagnose ALS konfrontiert werden.
Mediziner können zwar inzwischen ziemlich genau sagen, was sich im Körper von ALS-Kranken abspielt, wo sogenanntes Junk-Eiweiß bestimmte Nervenzellen verstopft und zum Schrumpfen bringt. Von einer Heilung jedoch sind sie – so Professor Meyer von der ALS-Ambulanz an der Berliner Charité – »noch Jahrzehnte« entfernt. Was sie leisten können, ist eine Linderung der Symptome und eine eventuelle Verzögerung des Krankheitsverlaufs. Und sie können darüber aufklären, dass ein Leben mit ALS möglich ist. Schließlich ist die künstliche Beatmung eine Therapie, die wie alle anderen Therapien auf Wunsch des Patienten beendet werden kann. Für die meisten Menschen bedeutete die Diagnose ALS bisher das Todesurteil, denn eine künstliche Beatmung wird oft abgelehnt.

Ein Leben mit ALS ist möglich
Doch Angela Jansen und andere konnten zeigen: Ein Leben – nicht nur ein Überleben – mit ALS ist möglich, wenn eine 24-Stunden-Pflege im eigenen Zuhause garantiert werden kann und sich die Gesellschaft für den Gedanken öffnet, dass auch schwer behinderte Menschen ihr Leben selbst gestalten wollen und können.Deshalb haben sich einige von ihnen in dem Berliner Verein »ALS-Mobil« zusammengetan, um sich gegenseitig zu stützen und aufzuklären. Die Initiative dazu kam durch die Begegnung von Angela Jansen und Oliver Jünke auf einer Reha-Messe in Berlin zustande. Oliver Jünke – ebenfalls an ALS erkrankt – war von dem Mut und der Entschlossenheit Angela Jansens beeindruckt. Er kam gerade wieder einmal von einer langen Reise, denn Reisen in ferne Länder sind seine Leidenschaft, der er auch nach der Diagnose von ALS weiter nachgeht. Im Rollstuhl – von seinem Pfleger begleitet, der dabei auch Tausende von Erinnerungsfotos geschossen hat, bereiste er sogar Kuba, und auch Camping-Urlaube im letzten heißen Sommer an der Ostsee sind für ihn selbstverständlich.
So wurde 2008 bei dieser ersten Begegnung zwischen Angela Jansen und Oliver Jünke der Plan geschmiedet, einen Selbsthilfeverein zu gründen, der Betroffenen mit Rat und Tat zur Seite steht. Dabei geht es bisher vor allem um die psychosoziale Beratung und die Unterstützung der Mobilität von ALS-Betroffenen. Die Vielzahl der medizinischen Geräte (Beatmungs- und Absauggerät, Sprachcomputer etc.) macht die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel zu einem Hindernislauf. Doch auch das ist möglich: So habe ich Angela Jansen in öffentlichen Bussen zur langen Nacht der Wissenschaften begleitet, bin in überfüllten Zügen mit ihr zu Theaterproben der von Christoph Schlingensief inszenierten Oper »Freax« nach Bonn und zur Preisverleihung des Paul-Goldschmidt-Preises 2009, den sie für ihre besonderen Leistungen als Anwenderin von unterstützter Kommunikation erhalten hat, nach Dortmund gefahren. Fahrten mit dem Auto wären allerdings einfacher, angenehmer und kostengünstiger. Um ALS-Betroffenen unkomplizierte Fahrten zu ermöglichen, will der Verein ein behindertengerechtes Auto anschaffen. Bis dahin werden Fahrten mit privaten und öffentlichen Fahrzeugen organisiert, wie zum Beispiel die erste Gruppenreise des Vereins nach Dresden.

Pflege in Deutschland – ein Hindernislauf
Die häusliche 24-Stunden-Pflege zu organisieren, ist jedoch der allererste Hürdenlauf. Wer glaubt, darum kümmere sich schon irgendwer bei der Krankenkasse und den sozialen Ämtern, hat nur zum Teil recht. Auch wenn das Credo immer noch heißt, »ambulante geht vor stationärer Pflege« (eben auch, weil sie im Prinzip billiger ist), ist die Umsetzung einer 24-Stunden-Pflege im häuslichen Umfeld schwierig. Es mangelt an qualifiziertem Pflegepersonal, so dass den vertraglich engagierten Pflegefirmen, die gesetzlich verpflichtet sind, das Personal zu stellen, die Fachkräfte fehlen. Besonders schwierig wird es für Patienten, die Beatmungsgeräte benötigen, denn hier ist vom Gesetzgeber vorgeschrieben, dass bei der Pflege examinierte Pflegekräfte eingesetzt werden. Da die Abschlüsse von Pflegekräften aus dem Ausland bisher kaum anerkannt werden und die Mangelware »examinierte Pflegekraft« inzwischen gut bezahlt werden muss, ist diese bei Pflegediensten kaum noch zu finden. Wer examiniert ist, zieht eine besser honorierte Karriere im Krankenhaus vor oder bietet seine Dienste freiberuflich an, um so bessere Honorare zu erzielen.
ALS-Patienten, die mit künstlicher Beatmung leben müssen, wird daher von den Pflegefirmen oft das für sie kostengünstigere Wohnheim oder eine Wohngemeinschaft angeboten. Die Aufgabe der eigenen Wohnung und des gewohnten Umfelds mit Nachbarn, Freunden und Verwandten ist aber für viele Betroffene der Einstieg in ein vollständig fremdbestimmtes Leben. Eine Alternative dazu ist das »persönliche Budget«, das seit 1. Januar 2008 ­jedem Pflegebedürftigen das Recht gibt, seine Pflege im Rahmen des festgestellten Bedarfs selbst zu organisieren und das Geld dafür als Pflegebudget von den Leistungsträgern zu erhalten. Leider ist die Umsetzung kaum erprobt und vielen Sachbearbeitern in den Krankenkassen und Sozialämtern nicht im Detail bekannt. Jan Grabowski – ebenfalls Mitglied bei »ALS-Mobil«, kann davon ein Lied singen. Erst indem er den intensiven und persönlichen Kontakt zu den Mit­arbeitern von Krankenkasse und Ämtern gesucht hatte, konnte er diesen Rechtsanspruch auch durchsetzen. Seine Erfahrung: »Das Hauptproblem sind dabei nicht die Paragrafen, sondern die Tendenz, dass uns die Sachbearbeiter einer Krankenkasse neben unseren körperlichen Gebrechen auch keine geistige Leistung mehr zutrauen.«
Womit wir wieder am Anfang wären – beim Theaterstück von Christoph Schlingensief, »A. Hipler, Kunst und Gemüse«. Wer bestimmt, ob ein Leben lebenswert ist? Was ist Kunst, und wer oder was Gemüse? Fragen wir die Menschen selbst, und wir erleben Überraschungen! 

Vernetzung und Aufklärung
www.als-mobil.de
Literatur:
• Christine Schmidt: Die Pflegelüge: Der Generationenvertrag am Tropf. Wiley-VCH Verlag, 2010
• Jean-Dominique Bauby: Schmetterling und Taucherglocke. dtv, 1998

weitere Artikel aus Ausgabe #6

Selbermachen

Selbermachen – aber wie?

Die Oya-Redaktion gibt Tipps, Links und Anregungen rund ums Selbermachen und bat die Illustratorin Stefanie Koerner und die Illustratoren Jonas Laugs und Johannes Schebler eine Grafik-Doppelseite zu unserem Thema zu gestalten. Es ist ihre erste gemeinsame künstlerische Arbeit. Selbermachen bedeutet meist auch, im Team zusammenzuarbeiten – hier hat es auf Anhieb geklappt. Danke!

Lebenswegevon Matthias Fersterer

Im Osten viel Neues

Mit den »Geschichten aus der arschlochfreien Zone« eroberte Fernsehmoderator Dieter Moor die Bestsellerlisten. Wie geht es weiter? Er und seine Frau Sonja haben viel vor: Die umtriebigen Wahl-Brandenburger wollen ein Modelldorf aufbauen und eine ganze Region beleben.

Lebenswegevon Renée Herrnkind

Von drei auf 100 Hektar Land

Kann sich ein Lebensweg rund um gute Butter entwickeln? Bei Godehart Hannig und seiner Frau Renate Kremin-Hannig vom »Kirchhof Oberellenbach« im hessischen Knüll spielt sie jedenfalls eine ganz wichtige Rolle. Ende der 70er Jahre entschloss sich das junge Paar, aus dem vermeintlich

Ausgabe #6
Selbermachen

Cover OYA-Ausgabe 6Neuigkeiten aus der Redaktion