Homeschooling-Alltag in einer (fast) normalen Großfamilie.von Jan Edel, erschienen in Ausgabe #6/2011
Vögel fliegen und Kinder lernen. Man braucht sie nicht dazu zu zwingen. Eltern, die in diesem Sinn Schule selbermachen wollen, dürfen in Deutschland keine informellen, individuellen Lernmodelle entwickeln.
Die Schulpflicht gilt hierzulande als große demokratische Errungenschaft. Sie soll dafür sorgen, dass jeder Mensch Zugang zu Bildung bekommt, ungeachtet seiner Herkunft, Religion oder Finanzlage. Ein löbliches Ziel, doch Deutschland schießt übers Ziel hinaus. Eine in vielen Ländern dieser Welt, vor allem im englischsprachigen Raum, verbreitete Form von Bildung ist hier nicht erlaubt: Bildung zu Hause, bekannter unter dem englischen Begriff »Homeschooling«. Was kann man sich darunter vorstellen? Da es in Deutschland auf diesem Gebiet an Praxiserfahrung mangelt, herrscht allgemein das Vorurteil, Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, täten das vor allem aus ideologischen, religiösen oder anarchistischen Erwägungen heraus. Die Kinder würden zu Hause vereinsamen, keinen Kontakt mit Gleichaltrigen haben, keine sozialen Fähigkeiten entwickeln, mit ihrem Wissensstand hinterherhinken.
Die Wirklichkeit sieht anders aus Homeschooler-Familien sind in der Regel bestens untereinander vernetzt und unternehmen vieles gemeinsam. Es gibt zahlreiche Verbände, die den Austausch fördern und die Eltern beraten. Homeschooling-Kinder haben vielfältigere soziale Kontakte als Kinder, die eine normale Schule besuchen, da sie mit vielen freundlichen Menschen aller Altersstufen, sei es im Freundeskreis der Familien, in der Nachbarschaft, im Sportverein oder im Netzwerk der regionalen Homeschooler zusammenkommen. Erfahrungen wie Mobbing, Angst vor Lehrern oder Lernstoff, Versagensängste wegen »schlechter Leistungen« bleiben ihnen hingegen erspart. Homeschooling kennt sehr unterschiedliche Formen – mal werden feste Unerrichtseinheiten absolviert, mal wird ganz und gar informell im Alltag nebenbei gelernt. Die Familien finden die für sie stimmigste, individuelle Form. Je nach Land begleitet der Staat die Lernfortschritte, mal durch Prüfungen, mal durch Beratungen und Empfehlungen – und ist in aller Regel sehr zufrieden mit den Leistungen der zu Hause Lernenden. Homeschooling-Absolventen sind an Universitäten der USA aufgrund ihrer sozialen Kompetenzen und der Fähigkeit, selbständig und eigenmotiviert zu arbeiten, sehr beliebt. In Europa hinkt man mit der formalen Etablierung von Homeschooling stark hinterher. Die Möglichkeiten des Bildungserwerbs außerhalb des staatlichen Schulsystems sind aufgrund der »Schulpflicht« speziell in Deutschland noch undenkbar. Häufig werden in Diskussionen über Bildung die sogenannte Schulpflicht und der in Deutschland bestehende Schulbesuchszwang gleichgesetzt. In den meisten europäischen Ländern meint der Begriff »Schulpflicht« die Unterrichts- oder Bildungspflicht, nicht aber den Schulbesuchszwang. Wer in Deutschland Homeschooling praktiziert, hat mit Bußgeldern und Sorgerechtsentzug zu rechnen. Viele Eltern gehen deswegen ins Ausland, und so wird die vielfältige Praxis von Homeschooling nur sehr langsam bekannter. Die alten Vorurteile regieren weiter. Ich möchte deshalb eine Homeschooling-Mutter, Christine S., zu Wort kommen lassen. Ihre siebenköpfige Familie ist inzwischen nach Dänemark ausgewandert. Hier beschreibt sie ihren Alltag:
Spannender und entspannter Alltag »Lernen zu Hause ist sehr spannend. Man weiß nie so genau, was einen am neuen Tag erwartet. Morgens gibt es keine Hektik, denn wir alle genießen das Frühstück und die Zeit davor. Boris, unser zehnjähriger Ältester (Namen der Kinder geändert), steht am liebsten schon vor den anderen auf und setzt sich zu seinen Vögeln in den zimmergroßen Käfig, am besten noch mit einem Buch zum Thema »Angeln«. Der Zweite (Steffen, neun Jahre), bleibt am liebsten bis zum Rausschmiss im Bett und hängt seinen philosophischen Gedanken nach. Anton (noch sechs Jahre), der Dritte, wird als erster vom Hunger in die Küche getrieben und hilft notfalls sogar mit, damit es schneller etwas zu essen gibt. Nach dem Frühstück gibt es Dienste zu erfüllen. Die beiden kleinen Mädchen (Prisca, drei Jahre und Pia, zwei Jahre alt), haben noch kein festes Programm, aber Anton hat Küchendienst; Steffen und Boris wechseln sich ab mit Mülleimertragen und Fegen. Dann werden die Tiere gefüttert: Wir haben Zwerglöwenkopfkaninchen, die zu unserem Glück drei Junge bekommen haben, und fünf Nymphensittiche. Nicht selten faszinieren die Tiere unsere großen Jungen so, dass man sie daran erinnern muss, auch noch andere Dinge ins Auge zu fassen. Als nächstes ist nämlich bei uns das Üben der Instrumente dran. Boris spielt Klavier und Gitarre, Steffen übt sich im Trompeteblasen, Gitarrespielen und Flöten, und Anton hat ebenfalls mit Flöten begonnen. Beim Musizieren halten wir es so wie bei allen anderen Dingen: Es wird meist mehr Zeit mit Improvisieren oder Ausprobieren verbracht, als mit dem eigentlichen Üben. So vergeht die Zeit im Nu. Wenn wir dann ein bisschen weiter in unseren spannenden Büchern gelesen oder gearbeitet haben, ist es schon später Vormittag, und alle sind etwas geschafft. Nun beginnt der freiere Teil des Tages.
Selbst motiviertes Lernen Wir glauben, dass Lernen etwas Wunderbares ist. Das ganze Leben ist voll von Lernen. Besonders viel Spaß macht es, wenn ich lernen darf, was ich selbst unbedingt wissen oder können möchte. So dürfen die Jungen nachmittags oft etwas unternehmen, das sie gerade interessiert. Manchmal habe ich etwas geplant, aber wenn die Jungen andere Ideen haben, gehe ich meistens darauf ein. In der eigenverantwortlichen Zeit wird bei uns viel gemalt und gebastelt. Dabei gibt es Phasen, in der bestimmte Tätigkeiten boomen: Fahrzeugquartette selber herstellen, aus Holzresten etwas schreinern, aus Pappe Autofahrgestelle und Karosserien basteln und fahrbar machen, Insektenlarven beobachten, Fußballspielen, Atlanten studieren und vieles mehr. In den Wintermonaten konzentrieren wir uns etwas mehr auf den Erwerb von Grundlagenwissen, besonders in den Fächern Deutsch und Mathematik. Allerdings macht den Kindern das Lernen aus Schulbüchern meist so wenig Freude, dass wir es auf das Minimum begrenzen. Das Einmaleins kann man ja auch durch ein tägliches Akkordrechnen mit Erfolgskurven lernen, was viel mehr Spaß macht, als die Päckchen im Mathebuch durchzurechnen. Wenn man sich in der Praxis viel mit Maßen und Größenverhältnissen beschäftigt, braucht es auch nicht viel Übung, um mit Kilogramm, Zentimeter und Liter zu rechnen. Die schriftliche Division ist dagegen eine eher theoretische Angelegenheit, die man begreifen und üben muss. Aber auch, wenn man eine Technik nur widerwillig gelernt und geübt hat, ist es ein Hocherlebnis, sie doch verstanden zu haben, so dass der Frust dem Stolz und der Befriedigung weicht. Unsere Kinder wollen die Welt verstehen. Ihr innerer Drang, die Rätsel des Lebens und des Daseins zu lösen, ist ein genialer Motor der Wissensaneignung. Noch wichtiger als Wissen ist für uns aber das Miteinander im Leben. Wir wollen echte Gemeinschaft, uns gegenseitig tief kennen mit allen Wünschen, Sehnsüchten, Sorgen und Ängsten und uns gegenseitig tragen und helfen, trotz der unzähligen Macken, die jeder so hat. Das bedeutet, dass wir uns viel unterhalten, oft diskutieren, unsere Emotionen ausdrücken und versuchen, Qualitätszeiten zu haben, wo man etwas richtig Schönes miteinander tut. Wir haben schon unzählige Kuchen und Plätzchen zusammen gebacken, Besuche vorbereitet, Lieder gedichtet und gemütliche Abende verbracht. Am meisten, meine ich, lernen Kinder durch gute Vorbilder. So versuche ich als Mutter, die ich die meiste Zeit zu Hause bin, das vorzuleben, von dem ich meine, dass meine Kinder es in der Zukunft brauchen werden, z. B. die Tugend, Ordnung zu halten. Dass Lesen und Schreiben wertvoll sind, merkt man bei uns am überfüllten Bücherregal und daran, dass wir viel vorlesen.
Jeder lernt von jedem Die Großen lernen aber auch von den Kleinen. Unser Ältester, Boris, hat uns alle mit seiner Tierbegeisterung angesteckt. Aber er ist uns allen weit voraus. Sein Auge und Gehör sind durch sein Interesse so geschult, dass er Dinge wahrnimmt, die der Normalsterbliche übersieht. So hat er schon viele Larven gefangen und bei ihrer Verwandlung zugesehen. Anhand von Vogelstimmen und ihren Flugbewegung kann er die jeweilige Vogelart ausmachen. Da die Kinder nicht ständig mit vielen Menschen zusammenkommen, sind sie immer offen für neue Begegnungen. Sie haben keine Hemmungen, sich mit Erwachsenen zu unterhalten und anzufreunden, schätzen es aber auch, wenn sie Gleichaltrige als Freunde gewinnen. Besonders gefragt sind natürlich ältere Kinder als Vorbilder, die meine Kinder vor allem in unserer recht umfangreichen Großfamilie und im Bekanntenkreis finden. Da nicht so viel Zeit- und Termindruck herrscht, können wir viele Dinge tun, die andere kaum schaffen, z. B. an Umweltwettbewerben teilnehmen. Homeschooling ist also kinderleicht. Leider mussten wir unsere schulfreien Lern- und Lebensbeziehungen in Deutschland verlassen und hier in Dänemark erst neue Kooperationen mit gleichgesinnten Familien aufbauen. In unserem Heimatland mangelt es ganz offensichtlich an Toleranz. Für die Freiheit hat sich das Auswandern aber gelohnt.« Zahlreiche Initiativen setzen sich dafür ein, Homeschooling als einen Weg unter vielen Bildungsmöglichkeiten in Deutschland zu legalisieren. Aber wann es so weit sein wird, steht weiterhin in den Sternen.
Jan Edel (45) ist Vorsitzender des Vereins Schulbildung in Familieninitiative (www.sfev.de) und Autor zahlreicher Artikel und Bücher zum Thema Homeschooling.