Titelthema

Bodendemokratie

Erkundungen in die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt.von Ute Scheub, erschienen in Ausgabe #43/2017
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© Stefan Pallmer

Die Annahme, dass der äußerliche Körper und der innerliche Geist getrennt seien, war einer der folgenschwersten Irrtümer in der westlichen Denktradition, die unter anderem auf den französischen Philosophen René Descartes zurückgeht (1596–1650). Auch heute noch glauben viele Naturwissenschaftler und Forscherinnen, Lebewesen seien genetische Maschinen, deren Verhalten vorwiegend durch ihren inneren Gencode bestimmt würde. Aber eine Maschine bleibt materiell immer dieselbe, angetrieben durch von außen zugeführten Brennstoff. Lebende Körper funktionieren jedoch völlig anders: Zelle für Zelle, Molekül für Molekül, Atom für Atom erneuern sie sich beständig selbst. Das Äußere – Umwelt, Nahrung, Energie – wird zu ihrem Innersten. Und umgekehrt.
Wenn wir etwas essen, also etwas aus dem Boden, der Außenwelt, in unsere Innenwelt befördern, dann machen sich in unserem Darm zwischen 10 und 100 Billionen Mikroorganismen daran, diese Nahrung unter anderem zu Glukose zu verstoffwechseln. Diesen ­Zucker transportiert das Blut in unsere Zellen, die ihn als Energie verwenden; allein das Gehirn verbraucht etwa 20 Prozent der über die Nahrung aufgenommenen Energie. Das dabei entstehende Kohlendioxid wird ausgeatmet. Interessanterweise stammt dieses aber nicht aus der Nahrung, sondern aus der Zelle selbst, die sich erneuern muss, um weiterzuleben. Wir atmen also unsere eigenen Körperbestandteilchen aus! Und das Radieschen, das wir heute essen, erzeugt morgen in unserem Hirn vielleicht einen genialen Gedanken, das Schnitzel aus der Massentierhaltung übermorgen ­womöglich schlechte Laune.
»Leben ist ein Prozess, in dem sich eine Identität selbst erzeugt«, schreibt der Naturphilosoph Andreas Weber in seinem Buch »Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie«. Das ist wie eine Software, die ihre Hardware beständig ersetzt und erneuert – außen und innen gehen ineinander über, das eine wird zum anderen.
Das, was ich als meinen Körper, mein Bewusstsein, meine Identität wahrnehme, ist ein billionen­faches Wir, ein unfasslich komplexer Zusammenschluss von 30 bis 100 Billionen Körperzellen, die vor allem in meinem Darm mit noch einmal sovielen Mikroorganismen kooperieren. Würde man die im Schnitt nur einen vierzigtausendstel Millimeter kleinen Zellen aneinanderreihen, ergäbe das vier Millionen Kilometer, und man könnte damit hundertmal die Erde umspannen.
Die US-amerikanische Forscherin Susan Huse fand heraus, dass im menschlichen Darm und auch im Mund die größte Vielfalt an Bakterien-Genen zu finden ist – also just an den Membranen, an denen die äußere Welt zu einer inneren wird. Fast 8000 Arten fanden sich auf der Zunge, über 4000 im Rachen, rund 7000 im Speichel, und in den Zahnfleischtaschen waren es sogar mehr als 14 000 Arten. Witzigerweise wurden hinter dem linken Ohr ebenfalls über 2000 Arten nicht-menschlicher Gene gezählt, in der rechten Ellenbeuge fast 4000. Warum ausgerechnet dort? Das ist dem Forscherteam auch nicht klar. Jedenfalls: Wenn das Außen unseres Körpers genauso billionenfach von anderen Lebewesen bewohnt wird wie das Innen, und wenn »ich« ohne diese Mikro­organismen gar nicht existieren kann, was für einen Sinn hat da noch die Unterscheidung zwischen mir und ihnen?
Auch unsere Haut – die größte und wichtigste Membran zwischen außen und innen – ist über und über von Mikrolebewesen besiedelt. Die meisten davon sind nützliche Helferlein, die Krankheitserregern keinen Platz lassen. Die Haut dient dem Schutz und der Abgrenzung unseres Körpers nach außen, aber auch genau dem Gegenteil: dem Stoffwechsel, dem ständigen Austausch zwischen inneren und äußeren Begebenheiten. Unser größtes Organ atmet, regelt die Körpertemperatur, enthält unzählige Blutgefäße, Nerven und Sinneszellen. Wir sind buchstäblich dünnhäutig und spüren mit unserer Innenseite die Außenseite der Welt. Oder auch umgekehrt: Wir spüren mit unserem äußeren Organ ihre Nach-innen-Gekehrtheit.
Wer aber ist überhaupt jenes »Wir« oder »Ich«? Bei Erwachsenen sterben in jeder Sekunde rund 50 Millionen Zellen ab – das entspricht, aneinandergereiht, einer Zellkette von zwei Kilometern Länge. Gleichzeitig werden in jeder Sekunde fast genauso viele Zellen neu gebildet. Wir verinnerlichen Energie von außen und veräußerlichen sie wiederum in unseren Handlungen. Damit erzeugen wir oftmals neue Energie, etwa wenn wir Feldfrüchte pflanzen und ernten, die wir verinnerlichen, wenn wir sie essen, und dann durch Ausscheidung wieder veräußerlichen – ein end­loser Reigen.
Von jenen stofflichen Bestandteilen, die mich bei meiner Geburt ausgemacht und meine Eltern motiviert haben, mir einen Namen und damit eine Identität zu verleihen, ist in Wirklichkeit längst nichts mehr übrig. 98 Prozent der Atome in meinem Körper werden jedes Jahr ersetzt. Wassermoleküle bleiben höchstens zwei Wochen in mir. Mit am längsten, nämlich ein paar Monate bis Jahre, verbleiben die Teilchen in Knochen und Gehirn. Die allermeisten Bestandteile meines Körpers sind längst in die Atmosphäre veratmet, aus der Toilette in Klärwerke, Flüsse und Meere gespült oder auf andere Weise über die Erde verteilt worden.
Alles, was in mir konstant ist, was meine Identät ausmacht, ist nicht-stofflich. Jedes Jahr wandern ungefähr 1,5 Tonnen Materie in Form von Essen, Trinken und Luft durch mich hindurch und verwandeln sich in »Ute« – oder besser gesagt, in die Information, die »Ute« ausmacht. Eine beständige Wiedergeburt, die auf rätselhafte Weise zustandekommt. »Ununterbrochen kleiden wir unsere Persönlichkeit in neues Fleisch. Ich halte meinen Geist lebendig, indem ich ihn von Atom zu Atom springen lasse. Ein konstanter Fluss. Niemals dieselben Atome, immer derselbe Fluss«, schreibt der Wissenschaftsautor Tor Nørretranders, der dieses Phänomen staunend »permanente Reinkarnation« nennt.
Dieses »Ich« ist also offenbar eine Illusion, ein Hirnkonstrukt, das sich im Lauf der Evolution als nützlich erwiesen haben muss, sonst wäre es nicht entstanden. Der äußerliche Zusammenschluss zahlloser Zellen kann damit seinen Wirt oder seine Wirtin, also »mich«, von innen her in verschiedene äußere Richtungen lenken.
Menschenkörper sind wie winzige Rinnsale in einem gigantischen Strom des Lebens, in dem alle mit allen verbunden sind. Menschen, die als Gärtner Essbares hegen und pflegen, erleben diesen Prozess vielleicht intensiver als andere. Der ­Gartenaktivist ­Rainer Sagawe aus Hameln formuliert das geradezu poetisch: »­Zellen meines Körpers gebe ich in den Gartenkreislauf, die Bodenorganismen nehmen davon etwas auf, über die Symbiose mit den Pflanzen kommt etwas zu mir zurück, ich gebe das wieder in den Garten und wieder kommt etwas zurück – zumindest auf der seelischen Ebene fühle ich mich meinen Gartenlebewesen mehr und mehr verbunden, sie sind wie Familienmitglieder für mich. Die Amsel gräbt Löcher in den Mulch, findet Regenwürmer, und schon ist etwas von mir auch in der Amsel. Sie setzt sich auf den Baum überm Beet und lässt einen weißen Klacks fallen – schon ist etwas von der Amsel im Beet, im Kohlrabi, in mir. Alles was lebt, ist geschwisterlich miteinander verbunden! Ich finde das wunderbar und bin dankbar für die große Verwandtschaft.«
Früher wurden Menschen ausschließlich aus lokalen Materialien »produziert«: Jede Ernährung war zu 100 Prozent lokal, und für arme Menschen in südlichen Ländern ist sie das immer noch. Wir modernen Individuen aus den reichen Ländern des Nordens bestehen hingegen, stofflich gesehen, aus Molekülen vom ganzen Erdball. Wir ernähren uns buchstäblich von aller Welt. Wir sind nicht nur mental, sondern auch materiell globalisiert – unsere Energie stammt aus Quellen rund um den Globus. Was gestern noch in der Reispflanze oder dem Bauern in Indien war, ist heute in mir und morgen im chinesischen Seetang oder in einem Wal am Nordpol. Wir sind ein Mix aus allem und jedem. Buchstäblich auch aus Sternenstaub, denn unser Planet stammt aus Trümmern, die vor Urzeiten durch Sternenexplosionen durchs All geschleudert wurden: »Jeder von uns enthält Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Eisenatome, die in Tausenden von Sternen aus der gesamten Milchstraße entstanden«, schreibt der britische Astronom Martin Rees. Und weiter: »Der Kosmos ist in einem sehr intimen Sinn ein Teil von uns.«
Wir bestehen aber auch zu 70 Prozent aus Wasser – aus Molekülen, die vor Milliarden Jahren auf der Erde entstanden und seitdem in einem ewigen Kreislauf abregnen, durch Boden und Lebewesen hindurchrinnen und als Verdunstungswolken wieder aufsteigen. Unsere DNA setzt sich aus Überresten von Viren und Bakterien zusammen. Unsere Nahrung beruht auf Humus, der durch den Magen von Myriaden von Regenwürmern hindurchwanderte, wodurch der heutige Boden überhaupt erst entstand. Unsere Atemluft enthält die Moleküle anderer Menschen, die uns mit jedem gesprochenen Wort anhauchen. Wahrscheinlich war mindestens ein Atom in uns schon in Nofretete, Hitler oder Gandhi, und auch wir geben Atome und Moleküle weiter an die Zerstörer oder Nobelpreisträger von morgen. Jeder von uns ist in allen, und alles ist in jedem von uns.
Wenn man so denkt und fühlt, dann wird man von ganz allein – und ganz ohne Fernreisen – zum Weltbürger und zur Weltbürgerin, dann verlieren die Begriffe Nation, Rasse und Volk vollends ihren Sinn. Ein solches kosmopolitisches Bewusstsein zu haben, bedeutet auch, zu wissen, was die Buddhisten mit ihrer Idee von der Wiedergeburt schon lange ahnen: Wir sind zufällige Mischungen aus den Überresten von Sternen, Viren, Bakterien, Pilzen, Pflanzen, Tieren und anderen Menschen. Jeder hätte ebensogut auch jede andere Lebensform sein können.
Ein solches Selbstverständnis ist vom sozial­darwinistischen oder neoliberalen Wahn befreit, ein isoliertes Ego zu sein, das sich in der Konkurrenz aller gegen alle durchsetzen müsse. Dieser Wahn hat die Bindungen der Menschen untereinander und zur Natur schwer geschädigt. Gesellschaftliche Isolation und gefühlter sozialer Ausschluss befördern wiederum tiefe Existenzängste und Aggressionen – und darin liegt eine der wichtigsten Ursachen für den Aufschwung totalitärer, fundamentalistischer und populistischer Strömungen.
Umgekehrt ergeben viele Studien, dass Menschen, die in Liebesbeziehungen, Familien, Nachbarschaften, Gemeinden, Belegschaften positiv eingebunden sind, glücklicher und lebenszufriedener sind und weit weniger zu aggressiver Menschenfeindlichkeit neigen – dem Wesensmerkmal von Fundamentalismus. Die Verbundenheit, die auf allen Ebenen der Natur wirkt, ist aber in einer menschlichen Gesellschaft, die seit Jahrhunderten auf der Trennung von Körper und Geist aufbaut, nicht einfach so gegeben. Die Frage nach Verbundenheit zielt deshalb auf den Kern der Krisen, die über die Jahrhunderte hinweg durch Ausbeutung von Lebewesen – menschlichen wie nicht-menschlichen – entstanden sind. Oft ist es nicht möglich, zu diesen Fragen in politischen Kontexten vorzudringen, weil die heilige Kuh der individuellen Freiheit scheinbar die gesamte historische Entwicklung und Dominanz der westlichen Welt rechtfertigt. Es scheint aber notwendig, das Feld dieser Fragen zu öffnen auf der Suche nach einer Kultur, die Freiheit und Verbundenheit nicht mehr als Gegensätze, sondern als ­Basis bodentiefer Demokratie auffasst.   


Ute Scheub (61) ist promovierte Politikwissenschaftlerin, gehört zu den Gründerinnen der taz und lebt als Publizistin in Berlin. Sie schreibt am liebsten Geschichten des Gelingens.

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