Titelthema

Angekommen.

Was bedeutet es, auf dem Boden anzukommen? Leserinnen und ­Leser beantworteten die Frage mit persönlichen Geschichten.

Wachsen
2016. Von Stuttgart-City in ein 500-Seelen-Dorf im Nirgendwo. Von der Dachwohnung im 5. Obergeschoss in ein altes Bauernhaus. Vom 5-m2-Gartenzwerg-Vorgarten zu 4000 m2 Land. Von der breiten, geraden Straße meines bisherigen Lebens abgebogen auf einen holprigen Feldweg, von dem niemand wusste, wohin er führt. Meiner Oma war klar: Das muss scheitern!
Seitdem ist über ein Jahr vergangen. In diesem Jahr bin ich auf dem Boden angekommen – anders als meine Oma sich das in ihren schlaflosen Nächten ausgemalt hatte. Aus dem Wunsch, im Garten gesundes Gemüse anzubauen, wurde eine ganzheitliche Erfahrung. Es ist schwer, das in Worte zu fassen. Ich habe über die unglaubliche Vielfalt der Samen gestaunt, jeder sieht anders aus. Die Kreativität der Natur scheint unerschöpflich. Ich war demü­tige Zeugin, wie aus den kleinen Samen die unterschiedlichsten Pflanzen wuchsen, jede nach ihrem eigenen geheimen Plan. Alles was ich tun musste, war, für gute Bedingungen zu sorgen. Die eigentliche Arbeit machte die Natur selbst.
Ich saß auf dem Boden zwischen dem wachsenden Gemüse und beobachtete das mannigfaltige Leben, das mich umgab: die vielen Tiere, die da krabbelten, krochen und summten, flatterten, huschten und sich kringelten. Da habe ich erfahren, dass ich und wir alle uns in dieses Treiben, in dieses pulsierende Leben unterschiedslos einreihen. Wir sind ein Teil davon, und zugleich ist alles eins. Ich habe reife Früchte gepflückt, Kartoffeln ausgebuddelt und die verschiedensten Wurzeln aus der Erde gezogen, und es hat mich jedes Mal mit Dankbarkeit erfüllt. Ich habe verstanden, dass unser Gemüse kein Produkt ist. Es ist ein Geschenk.
Alexandra Nägeli


Boden der Wirklichkeit
Die Physik wollte es wissen. Sobald die kleinsten Teilchen verstanden sind, haben wir die volle Kontrolle. Quantenphysik kann alles berechnen – aber was? Kilogramm, Meter, Femtosekunden? Nein. Wahrscheinlichkeiten. Wenn ich alle Wahrscheinlichkeiten eines Systems zu einem Zeitpunkt kenne, kann ich sie für die Vergangenheit oder die Zukunft exakt berechnen. Insofern ist Quantenphysik deterministisch. Beispiel: Jetzt ist t, die Einheit für Zeit, gleich 0, also t = 0. Die Wahrscheinlichkeiten für Elektron Hagen, an einem bestimmen Ort zu sein, sind: 50 % zu Hause bei ihm in Dorfding in Mittelbayern, 30 % in Lima, 20 % bei seinem Arbeitsplatz in Badkrach in Obersachsen. Summe 100 %, volle Sicherheit. An t = 666 Stunden: 8 % Dorfding, 20 % Lima, 3 % Badkrach, 69 % bei seiner Stiefmutter in Finstrude im Rheinbach. Also? Jetzt wissen wir alles. Aber wo ist Hagen? Wir kennen nur die Wahrscheinlichkeiten. Hagen hat den freien Willen. So ist es für jedes Elek­tron, für jedes Teilchen, aus dem unsere ­Materie, unser Boden, besteht. Sie sind frei, in einem bestimmten Rahmen – wie wir. Der Boden der Tatsachen, die Elektronen und alle anderen Teilchen, sind lebendig. 

Boden: Stinkt Scheiße? Warum? Schmeckt sie nicht? Wer will sie essen? Kleine Tiere? Bakterien? Ja. Blei wird Gold. Transformation. Scheiße wird Champagner. Sie wird ich. Schöner geht’s nicht.
Universum: Sie wird wir. Wir sie, alle, alles. Scheiße ist alles, alles isst Scheiße. Kreislauf! Was ist schöner als ein Kreis, Kurven, Sonne? Entwicklung ist Spirale. Was ist die Spirale der Scheiße? Bakterien, Einzeller, Menschen, größer?
Schön: Bin ich groß? Schön? Kann Scheiße Schönheit erschaffen? Welche Musik? Nur der Boden? Reicht Scheiße aus? Und der Himmel? Die Sonne? Auch Scheiße? Sind Himmel und Scheiße Liebhaber? Sex ist schön. Leben entsteht. Kunst. Scheiße.   
 Didier Achermann

 
Hommage ans Banale
Kürzlich saßen wir beisammen und schmiedeten Pläne zur Gründung einer Lebensgemeinschaft. Alle nannten sich mehr oder weniger »spirituell orientiert«, ausgenommen Manfred. Wir sprachen über die unverzichtbaren Grundwerte einer Gemeinschaft. Weil es ein Kreisgespräch ohne Diskussion war, kam auch Manfred an die Reihe.
In fundamentalen Runden wie dieser pflegt er lächelnd zu sagen, er habe seinen Vorrednern nichts hinzuzufügen und alles sei gut. So erwarteten wir auch diesmal keinen Kommentar von ihm. Doch nun räusperte er sich, überlegte einige spannende Sekunden lang und sagte dann: »Ich wünsche mir ganz viel Banalität.« Darunter konnten wir uns nichts vorstellen und schwiegen in der Hoffnung, er werde seinen Wunsch weiter ausführen.
Als er unsere wartenden Blicke auf sich liegen spürte, räusperte er sich nochmals und sprach weiter: »Würden wir einsehen, dass wir nichts Besonderes sind, sondern ganz banal Lebewesen wie alle anderen Tiere und Pflanzen auch, dann wäre uns schon viel geholfen. Wir werden geboren, und irgendwann verkrümeln wir uns wieder. Buchstäblich. Das ist auch schon alles. Und in der Zwischenzeit bilden wir uns ein, wichtig zu sein. Die meisten Probleme auf diesem Planeten entstehen schlicht deshalb, weil sich die Leute überschätzen.«
In den folgenden Sekunden fühlte es sich an, als sei unser gedankliches Wolkenschiff auf dem Boden gelandet. Ich hatte sogar den Eindruck, als hätte es in Simons und Carinas Wohnzimmer gerade laut und deutlich gerumpelt. Und dann sagte einer: »Manfred, wenn du jetzt spirituell wärst, hättest du gesagt: Ich wünsche mir mehr Demut. Aber so klingt es irgendwie klarer, banaler. Danke.« Alle mussten grinsen – ­Manfred auch.
Bobby Langer

 
Das Grabeland
Meine Gedanken gehen zurück in das Jahr 1940. Als dritter und jüngster Sohn des damaligen Oberkämmerers, der in dem ostpreußischen Goltzfelde für das Haupt­gestüt Trakehnen die Landwirtschaft leitete, wohnten wir in einer Dienstwohnung mit einem kleinen Stück Grabeland, das nicht ganz die Größe eines Fußballplatzes aufwies. Die Dienstwohnungen hatten kein fließendes Wasser, sondern es wurde der gemeinsamen Pumpe entnommen oder dem Flüsschen Rodup. Zur Wohnung gehörten sechs Räume mit einem großen Kachelofen und in der Aufenthaltsküche eine riesige Feuerstelle mit Herd. Das gemeinsame, sehr große und aus Holz gezimmerte Klosett war außerhalb in den Stallungen untergebracht. Es war sehr luftig dort und nach hinten aufklappbar für den großen Kufenschlitten, der die Verdauungen aufnahm, bis sie dann in dem hinteren Grabeland dem Kreislauf neuen Werdens zugeführt wurden. Zwei Männer besorgten dies, wenn es an der Zeit war, mit einer gewissen selbstverständ­lichen Würde. Einer zog den Schlitten, der andere verteilte die Fracht gleichmäßig. Das Grabeland, oder auch Deputat genannt, brachte wunderbare Kartoffeln hervor, ­Tomaten, Zwiebeln, Gurken und vieles mehr. Eier gaben die Hühner, Speck das ­Familienschwein, Milch, Butter und Käse die Kuh. Damit war in der Kriegszeit nicht nur für die eigene Familie gesorgt, auch die Verwandten in den Städten wurden in den Ferien oder durch Postpakete mit­ernährt.
Können wir in unseren Breiten wirklich vollständig vom verfügbaren Land ­leben? Ein kleines Stückchen Land kann uns tatsächlich das geben, was wir brauchen. Und wie sieht es mit den menschlichen Fäkalien aus? Viele Generationen nutzten sie zur Düngung und hatten ein unbefangenes Verhältnis dazu. Nun, wo wir anscheinend in einer moderneren, besseren Welt leben, sind wir von der Natur getrennt und abhängig von industriellen Vorgaben. Das Grabeland war schon eine gute Sache.
Paul Stöpel


Aufrecht
Ich liege in einem Sonnenquadrat, das durch das Fenster auf den warmen Holz­boden eines Tanzstudios fällt, und bin dabei, mich aufzuwärmen. Ich liebe es, mich mit einer gewissen Trägheit zu rollen, zu wälzen und diesen satten Kontakt mit dem Boden zu spüren: die Stellen meines Körpers, die nacheinander sanften Druck erfahren, wenn sie den Untergrund berühren – wie eine Massage, die mir durch meine eigene Bewegung widerfährt. Spannung weicht aus meinen Muskeln. Ein Moment der Hingabe an die unausweichliche Wucht der Schwerkraft und die Gewissheit, dass dieser Boden mich trägt und unterstützt. Ich lasse mein Gewicht in den Boden fallen und genieße die Kraft, den Auftrieb, der daraus erwächst.
Ja, denke ich, das ist die Lassenskraft, von der zuletzt in Oya so oft die Rede war: Wenn ich meinen Widerstand dagegen aufgebe, dass ich in meinem physischen Sein so unbarmherzig gegen diese Erde gedrückt werde, wenn ich mich den wirkenden Kräften anvertraue, richte ich mich mit Leichtigkeit auf und kann mich frei in jene vertikale Achse begeben, die im Erdmittelpunkt ihren Ursprung hat und weit über mich hinaus reicht. Dann bin ich aufgehoben zwischen Himmel und Erde.
Ich stehe und nehme wahr, wie die Erde an meinen Füßen klebt, und bekomme ein Gefühl für die gewaltige Masse, die da mit mir verbunden ist. Ich erlebe, dass die Erdanziehung auf dieser Masse beruht und dass – ich staune! – auch ich die Erde anziehe. Kraft meiner Masse! Ich fühle mich kraftvoll und zart wie selten zuvor. Ich erlebe ein Duett mit der Erde. Ich wusste nicht, dass das, was uns verbindet, auf Gegenseitigkeit beruht! Jede meiner Bewegungen hat eine Resonanz.
Heike Pourian

 
Erdende Kreisläufe
Mein Leben vollzieht sich in Kreisen wiederkehrender Themen trotz zum Teil radikaler Wechsel von Orten und Beziehungen: stets getrieben vom Motto »hinein in das neue Bewusstsein« und doch auf der Flucht vor dem alten. In den »Vier Edlen Wahrheiten« Buddhas ausgedrückt: die dritte Wahrheit der Befreiung vom Leiden erfahren zu wollen, ohne die erste Wahrheit des Leidens zu erfahren.
So groß ist in diesem Dilemma die Sehnsucht nach Veränderung, nach Nachhaltigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit, dass Wunsch und Wirklichkeit in mir verwischen. Doch wie kann es in diesem ungelösten inneren Konflikt äußeren Frieden geben? Gar nicht! Stattdessen gibt es Sachzwänge, wie nach Lebensabschnitten auf einem Bio-Bauernhof als beratender Volkswirt oder im Bauwagen einer Nachhaltigkeitsgemeinschaft wieder auf Geldverdienen zum Lebensunterhalt angewiesen zu sein. Ich stelle mich der Situa­tion, will sie annehmen, anstatt wieder auszureißen. Dabei ist es mehr ein Aushalten – so groß wiegt der eigene Schatten, dass der Arbeitsalltag mit Büroarbeitsplatz von mir zwangsläufig als monoton, einengend, freiheitsberaubend, ja sogar als humanoide Massentierhaltung empfunden wird.
Wie ist ein Ausbruch aus dem Käfig des eigenen Geists möglich? Ich will Verantwortung für mich selbst übernehmen, sie nicht mehr nach außen, auf die Gesellschaft, den Arbeitgeber, die Ursprungsfami­lie, die Partnerin abschieben. Das Leben spiegelt mir, wer ich tatsächlich zu sein glaube, vollständig in jedem Augenblick. Ein schmerzhafter Weg der Selbsterkenntnis, der mich nun zur »Ersten Edlen Wahrheit« führt, zu den Einsichten über die Ursachen meines Leidens und auch zur Befreiung. Was bleibt, ist der Wunsch, wie Buddha zu werden – und die Angst davor. Doch beides ist vergänglich. Wo ist nun der Boden?
In meinem Herzen, das mich, mein Licht, meinen Schatten und damit auch meine Welt trägt. In Liebe.
Daniel Sieben

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Ausgabe #43
Auf den Boden kommen

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