Nachruf auf eine bemerkenswerte Frau.
von Geseko von Lüpke, Elke Loepthin, erschienen in Ausgabe #44/2017
Am 15. Januar dieses Jahres [2017] verstarb die große Botschafterin afrikanischer Spiritualität und Stammeskultur Sobonfu Somé. Tausende haben sie in Seminaren, Ritualen, Fortbildungen und Vorträgen erlebt: Das tiefdunkle Gesicht war wie gekrönt von dem orangenen Tuch, das sie oft trug. Von den leuchtenden Augen dieser alterslos wirkenden Frau aus dem westafrikanischen Volk der Dagara ging eine stille, aber unbedingte Kraft aus. Sobonfu Somé war Autorin, Lehrerin und die wohl wichtigste weibliche Stimme afrikanischer Spiritualität. Nun ist sie nach langer Krankheit in ihrem Heimatland Burkina Faso zu den Ahnen gegangen, die eine so große Rolle in ihren Lehren spielten: »Die Dagara sind einfache, traditionell lebende Menschen, die in Lehmhäusern wohnen, ihr Leben voller Rituale und in lebendiger Gemeinschaft verbringen und leidenschaftlich mit ihren Ahnen und dem Geist, dem ›Spirit‹, verbunden sind«, hat sie oft erzählt. Sobonfu Somé stammte aus dem kleinen Ort Dano. Was sie vermittelte, war die Liebe zum Sein: mit sich, mit der Gemeinschaft, mit den sichtbaren und unsichtbaren Dingen, mit dem geheimnisvollen und profanen »großen Ganzen«. Zu feiern, zu ehren, zu tanzen, zu beten, zu trauern, zu lachen – so, wie es im Kern des Menschseins jeder kennt und ersehnt, aber immer seltener berührt. In den Lehren dieser Frau war alles durchzogen von einem Lebens-Sinn, den man erforschen kann und nicht verstehen muss, aber von dem man ein Teil ist. Warum? Weil in ihrem Weltbild alles Teil von allem ist und alles Sinn ergibt.
Botschafterin eines Weltbilds der Verbundenheit Für die Dagara ist jedes neugeborene Wesen ein kleiner Lehrer, dem geholfen wird, sich selbst zu finden. Im Fall von Sobonfu begegneten die Ältesten beim »Ritual des Hörens« schon vor der Geburt einem wachen Geistwesen, das voller Beweglichkeit und Reiselust schien, das in neue Gefilde aufzubrechen strebte und zugleich nichts lieber mochte und schützen wollte als die alten Rituale. Sie wählten ihren Namen Sobonfu, »Hüterin der Rituale«. Das war der Auftrag, mit dem Sobonfu Somé ins Leben geschickt wurde: hinauszugehen in die Welt, damit das alte Wissen nicht sterbe. Denn in den westafrikanischen Dörfern war schon zur Mitte des 20. Jahrhunderts spürbar, dass das traditionelle Leben im Niedergang war. Zu stark war die Unterdrückung durch die kolonialen Mächte, zu manipulativ die christliche Missionierung, zu allgegenwärtig der Einfluss der westlichen Konsumgüter, Medien und Ideen. Doch bei den Dagara-Ältesten herrscht mindestens ebenso lang die Überzeugung, dass der westliche Lebensstil eine gefährliche Krankheit ohne spirituelle Werte, ohne Gemeinschaft, ohne Sinn sei; eine Lebensform, die zu Gewalt, Armut, Kriminalität und Drogensucht, ja letztlich in die Selbstvernichtung führe. Fänden die Menschen der modernen Welt nicht über den Weg der persönlichen Transformation ihre Seele wieder, dann werde sich auch die moderne Zivilisation im globalen Norden auflösen, glauben sie. Ihr Auftrag an Sobonfu Somé war kein geringer: Als Botschafterin sollte sie das alte Wissen des Volks bewahren, indem sie es in die weite Welt trug, wo es gebraucht wurde. Doch Sobonfu Somé musste schon bald begreifen, dass ihre Lebensaufgabe eigentlich noch größer war, wie sie erklärte: »Die Ältesten hatten im Sinn, die alten indigenen Traditionen nicht nur zu erhalten, sondern sie durch Verbreitung langfristig zu schützen. Denn Afrika ist so damit beschäftigt, sich zu modernisieren, dass es alles Alte zunehmend ablehnt. Also war es meine Mission, die alten Rituale überleben zu lassen – vielleicht gar nicht in Afrika selbst, sondern hier im Westen, wo meine Leute sie vielleicht irgendwann wieder auflesen können.« Wer Sobonfu Somé erlebte, konnte eine Brückenbauerin zwischen uralten Traditionen und der Moderne sehen. Es schien, als könne sie mit Wärme, Präsenz und Lebendigkeit ein gemeinschaftliches Gewebe schaffen, das allgemein zu verschleißen droht. In ihren Kursen wurden Lieder, Kreistänze, Witz und Gelächter zu Wiederentdeckungs-Werkzeugen der verlorenen Verbundenheit. Das Spiel, das sie schnell mit den stets anwesenden Kindern improvisierte, und ihr authentisches, respektvolles Kommunizieren auf Augenhöhe mit den Kleinsten schienen die Seele der Gemeinschaft zu wecken und aus vereinzelten Sinnsuchenden einen Stamm zu machen. Aus dem mitfühlenden Austausch zwischen kulturellen und spirituellen Traditionen schien sich ein neuer Mythos für unsere Zeit zu weben, indem das verbindende Heilige spürbar wurde. Die Wiederentdeckung der Rituale schien einer bislang unbekannten Innenwelt in der sichtbaren Realität hier und heute Gestalt zu geben.
Gründlich vorbereitete Mission Es sollte allerdings Jahrzehnte dauern, bis Sobonfu Somé den Auftrag ihres Lebens verstehen, annehmen und umsetzen konnte. Ihre Kinder- und Jugendjahre erlebte sie in der ständigen Begleitung ihrer Mentoren, die das Potenzial ihres Wesens zu entfalten halfen. »Da muss ein Saatkorn in dir immer wieder Nahrung und Wasser bekommen, damit – wenn du in deiner Aufgabe ankommst – starke Wurzeln und ein aufrechter Baum da sind, an dem Früchte wachsen können. So wurde ich vorbereitet.« Zu ihrer Ausbildung gehörte, alles mitzuerleben, jede Gemeinschaftserfahrung in sich aufzusaugen, jedes Ritual in seiner momentbezogenen, einzigartigen Ausdrucksform so oft zu erleben, dass es wie ein innerer Werkzeugkasten für die Zukunft verfügbar sein würde – für Rituale um Geburt und Tod, zu Streitschlichtung und Liebe, Freude und Trauer, Hingabe und Trance, für die Vielfalt von Gemeinschaft und die großen Übergänge im Leben. Wie alle anderen jungen Männer und Frauen ging sie durch das große Ritual der Initiation, in der das kindliche Selbst stirbt und sich der erwachsene Mensch selbst neu gebiert. Über das Schwellenland, wo das Alte nicht mehr gilt und das Neue noch nicht spürbar ist, sagte sie: »Eine Initiation nimmt den Menschen, zerteilt ihn in tausend Stücke, vermischt sie wie ein Kartenspiel, wirft alles hoch in die Luft. Und wenn dann alles in einem großen Durcheinander auf dem Boden landet, lautet der Auftrag: ›Nun setze dich wieder neu zusammen!‹ Es geht darum, sich richtig zusammenzusetzen, anders als bisher. An deinem Widerstand kannst du ablesen, wie sehr du dich vor wirklicher Veränderung und deinem ganzen Potenzial fürchtest, das aus dir geboren werden will.« Auch Sobonfus Identität wurde in diesem Prozess zerschlagen und von ihr neu zusammengesetzt. Doch der Schmerz, die Angst, der Einbruch des Unerwarteten, die radikale Freiheit des eigenen Selbst, sich immer wieder neu zu definieren, wurden dabei ihre Werkzeuge für die spätere Begleitung von Menschen in aller Welt. Die größte Herausforderung ihres Lebens erlebte die Hüterin der Rituale, als ihr Volk sie in die Fremde schickte, damit sie ihre Lebensaufgabe antrete. Dazu gehörte eine arrangierte Hochzeit mit Malidoma Somé, einem in Michigan, USA, lehrenden Anthropologen, der zugleich Schamane bei den Dagara ist. Die beiden rauften sich zusammen – und doch fiel die junge Sobonfu in eine tiefe Depression.
So wichtig wie das Atmen Das kalte Land voll von moderner Technik, aber voller entwurzelter Menschen ohne funktionierende Gemeinschaft war für sie wie ein Schock: ein schmerzhaftes Aufwachen gegenüber dem Zustand der Welt außerhalb der vertrauten Dorfwelt Westafrikas. Das Heimweh vermischte sich mit Angst, das einsame Leben als Hausfrau in amerikanischen Vorstädten traf sie ins Herz: »Ich muss jemanden berühren können, jemanden begehren können, muss mein Auge auf jemanden werfen können, um mich gesund zu fühlen. Damit wir uns wohlfühlen, müssen wir täglich mindestens 15 Umarmungen bekommen! Allein die menschliche Berührung ist Medizin; ihr Mangel legt sich wie ein Winter auf unser Leben.« Erst in der Isolation erkannte sie bewusst den ungeheuren Wert des afrikanischen Gemeinschaftslebens. »Für mich ist Gemeinschaft wie das Atmen«, erzählte sie. »Sie ist der Geist, der jedem einzelnen einen heiligen Raum gibt, um sich zu entfalten, ist wie eine Schale, in die das Geschenk, das jedes Individuum mitbringt, sich ergießen kann: Hier kann das Geschenk ankommen, sich verwirklichen, frei werden, anstatt den Träger zu belasten oder zu erdrücken. Ohne Gemeinschaft ist das Individuum in einem Zustand der Verrücktheit, weil jeder tief innen weiß, dass seine Existenz einen Grund hat und er der Gemeinschaft etwas zu geben hat. Je weniger du weißt, wohin mit dieser Gabe, desto verrückter wirst du; du trägst etwas, was scheinbar niemand will.«
Das Heilige im Alltag sehen In Amerika begann sie, mit Freunden gemeinschaftliche Rituale durchzuführen und dabei Stück für Stück die Kosmologie und Spiritualität der Dagara zu lehren, zu denen sie jedes Jahr für Monate zurückkehrte. Ihre Botschaft traf im Westen auf so viel Zuspruch, dass sie ihr Wissen in Büchern festhielt: »Vom Glück des Scheiterns – Wie wir durch Krisen und Verluste zu uns selbst finden«, »Die Gabe des Glücks – Rituale für ein anderes Miteinander«, »In unserer Mitte – Kinder in der Gemeinschaft.« Diese in zahlreiche Sprachen übersetzten Bücher machten Sobonfu Somé als wichtige Vertreterin afrikanischer Spiritualität bekannt. Der Begriff der Spiritualität hat dabei nichts Religiöses, sondern meint die in der modernen Welt verlorengegangene Nähe zum Heiligen im Alltag. In Afrika ruht das Spirituelle gleich hinter dem Profanen. Wenn dem Verborgenen im Ritual der Raum geöffnet wird, den Alltag zu durchdringen, zeigt es sich. Dann sei der »Spirit« überall, wie Sobonfu sagte: »Der Spirit ist in jedem Fels, in jedem Hund und jeder Katze, in den Bäumen und Bergen, im Himmel – Spirit ist überall. Es ist die geistige Lebenskraft in jedem dieser Wesen und Dinge; die Kraft, die sie einmalig und zu dem macht, was sie sind. Spirit ist auch nicht außerhalb von uns Menschen, sondern etwas tief in uns, mit dem wir geboren sind und das mit uns wächst, während wir durchs Leben gehen. Du kannst es fühlen und schmecken und riechen. Es ist etwas sehr Reales und alles andere als Einbildung.« In ihrer Welt gab es keine Bereiche, die von diesem Heiligen getrennt wären. Alles geschehe im heiligen Gewebe der Gemeinschaft: Empfängnis, Geburt, Initiation, Heirat, Trennung, Tod. Auch das Trauern – im Westen ein verborgener Akt – geschieht in der Gemeinschaft. Dazu Sobonfu: »Mit einem Kummer alleine zu bleiben, ist deshalb so schwierig, weil der oder die Trauernde dann weder Anerkennung noch Unterstützung dafür von der Gemeinschaft bekommt. So kann ein Trauerprozess sich über Jahre hinziehen, der eigentlich nur ein paar Stunden währen bräuchte.« Glauben zu leben und sich in Ritual und Alltag dem Größeren zuzuwenden, ist auch in Afrika ein ständiger Versuch. Doch anstatt sich – wie die moderne Welt – abzutrennen vom Heiligen, gibt es in Afrika noch vielerorts eine Spiritualität, die immer wieder versucht, das Gleichgewicht zwischen Individuum, Gemeinschaft und dem Heiligen zu erneuern, den Zustand der Gnade zu berühren – und nicht zu resignieren, wenn man scheitert. Hier, empfahl Sobonfu Somé, könne Europa von Afrika wirklich lernen: »Gnade ist dieser perfekte Ort des Gleichgewichts, in dem alles ineinandergreift. Hier kann persönliches Wachstum geschehen, welches das Individuum auf seinem Weg weiterbringt. Wenn wir das schmerzhafte Wachsen nicht mehr erfahren, sterben wir. Deshalb ist es für mich ein Weg, immer wieder zu sagen: ›Ja, ich lebe!‹« Die letzten Jahre in Sobonfus Leben waren von einer fortschreitenden Erkrankung geprägt, deren Ursache ungeklärt blieb. Ihr Wunsch, ihre Mission zu vollenden, war ungebrochen. Mit großer Zähigkeit bildete sie eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern in Deutschland aus, initiierte sie und begleitete sie noch kurz vor ihrem Tod bis zur Abschlussprüfung. Einen Teil ihrer Verantwortung und ihres Wissens hat sie somit weitergegeben. Sie drückte den Wunsch aus, dass es hier in der westlichen Welt gelebt und bewahrt würde. \ \ \
Elke Loepthien (36) gründete die Ideen- und Tatenschmiede »Circlewise« und das »Hollerbusch-Zentrum für Verbindungskultur und Zukunftsfähigkeit« im Bodenseekreis. Sie schätzt sich glücklich, über Jahre von Sobonfu Somé als Lehrerin, Beraterin und Freundin begleitet worden zu sein.
Geseko v. Lüpke (58) ist Journalist, Autor, internationaler Netzwerker und Leiter von Visionssuchen und Seminaren zur Tiefenökologie. Der Vater von drei Kindern lebt in einer kleinen Gemeinschaft auf dem Land bei München.