von Anna Maria Wesener, erschienen in Ausgabe #44/2017
Titel und Untertitel von David van Reybroucks Untersuchung haben mich zuerst verstört: Ist nicht das – freie, allgemeine, gleiche und geheime – Wahlrecht ein Grundpfeiler unserer westlichen, also der Demokratien? Wie begierig waren wir als Schülerinnen, endlich zur Wahl gehen zu dürfen! Wählen war doch das vornehmste Recht und die Pflicht, der Ausweis unserer Mündigkeit! Nun musste ich umlernen, tat es mit Verblüffung und angesichts der nüchternen, kühlen Methode van Reybroucks gegen mein ursprüngliches Unbehagen mit Überzeugung. Sein Vorgehen ist das eines empirischen Wissenschaftlers im besten Sinn: In vier Teilen führt das Buch von der Beschreibung der »Symptome« von Demokratiemüdigkeit über die umfassende und zuspitzende »Diagnose« dessen, was Wahlen fragwürdig und zu ihrem vorgestellten Zweck gerade nicht geeignet macht. In einer verblüffend zu lesenden »Pathogenese« skizziert der Autor, wie sich das Wählen als Methode zur Ermittlung des Volkswillens so erfolgreich durchsetzen und wie daraus ein »Scheinprozess« werden konnte. Im vierten, »Therapie« betitelten Teil kommen Kritiker der elektoral-repräsentativen, medial geprägten Demokratie zu Wort, werden internationale Beispiele für Bürgerbeteiligung angeführt und unterschiedliche Modelle der ausgelosten und anderweitigen Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern auf Chancen und Risiken hin erkundet. Van Reybrouck erläutert nachvollziehbar, dass das Wahlverfahren von seinen Verfechtern in den USA und in Frankreich nicht mit der Idee einer breiten Beteiligung des Volks favorisiert wurde, sondern vielmehr sicherstellen sollte, dass nur bestimmte qualifizierte, vertrauenswürdige Männer in politische Funktionen und Ämter kamen. Wie der Autor überzeugend zu vermitteln weiß, ist Demokratie jedoch nichts Statisches, sondern lebt von Vielfalt und beständigem Wandel. So wurden in der athenischen Demokratie – männliche! – Vertreter per Losverfahren bestimmt, um persönliche Befangenheit und Korruption zu neutraliseren. Dies war bereits bei den Römern in Vergessenheit geraten. In der Renaissance wurden in bestimmten europäischen Städten Kombinationen aus Los- und Wahlverfahren angewandt, um eine breite Beteiligung – wiederum männlicher – Bürger zu gewährleisten. In Zeiten, die oftmals bereits als postdemokratisch und postfaktisch bezeichnet werden und in denen politische Parteien Umfragen zufolge als die korruptesten Institutionen auf Erden betrachtet werden, ist es höchste Zeit für eine zeitgemäße Wiederverlebendigung der Demokratie und ihrer politischen Prozesse. Dies macht David van Reybrouck deutlich, indem er die heilige Kuh der Wahlen auf sachliche, systematische, kenntnisreiche und daher um so überzeugendere Weise schlachtet.
Gegen Wahlen Warum Abstimmen nicht demokratisch ist. David van Reybrouck Wallstein, 2016 200 Seiten 17,90 Euro