Einem Haufen farbiger Sandsteine entschwebt die Muse und küsst unsere Autorin. Das Wandbild aus Erdfarben, das sich langsam verwirklicht, dient Judit Bartel zur lehrreichen Selbstreflexion.von Judit Bartel, erschienen in Ausgabe #6/2011
Eine Idee entsteht: Mir begegnet etwas in meinem Leben, das ich spannend finde. In diesem Fall: Beim Ausgraben des Wohnzimmerbodens in unserem alten, nicht unterkellerten Haus fallen mir die Farben der Sandsteine auf. Leuchtendes Gelb, warmes Rot, sogar Violett! Ich lege die Steine zur Seite, damit sie nicht im Container mit dem Aushub verschwinden. Beim Anblick der farbigen Steine scheint mein Inneres blitzschnell Verknüpfungen hergestellt zu haben zu etwas anderem, das mir in letzter Zeit begegnet ist: Vor einem Jahr hatte ich mich mit Erdpigmenten befasst und kannte daher das Verfahren, wie man aus bestimmten Steinen eine malfähige Farbe herstellen kann. Vor wenigen Wochen hatte ich im Zimmer meiner Tochter eine Ecke gelb gemalt – mit natürlichen, aber gekauften Pigmenten. Außerdem war mir beim Aufräumen das Bild eines Mandalas in die Hände gefallen, das ich vor Jahren gemalt hatte und das mich noch immer ansprach. Das waren also die Verbindungen, die mein Inneres beim Anblick der farbigen Sandsteine hergestellt hat – blitzschnell und mir unbewusst. In meinem Bewusstsein war zunächst nur der Gedanke aufgetaucht: Daraus könnte man doch etwas machen!
Mit einer Idee durchs Leben mäandern Während ich weiter Erde schaufele, taucht vor meinem inneren Auge ein noch sehr vages und diffuses Bild auf. Es zeigt einen Raum mit einem kreisrunden Wandgemälde aus Erdpigmenten. Diffus ist die Vision, doch klar wahrnehmbar ist für mich die Qualität, die dieser Raum durch das Wandgemälde erhalten würde. So bahnt sich die neugeborene Idee einen Weg in mein Bewusstsein. Die Idee ist vorerst nicht mehr als ein Same, den ich in den nächsten Tagen immer wieder hervorhole und mit etwas Aufmerksamkeit nähre, aber ansonsten ruhen lasse. Aber dennoch: In einer ruhigen Minute schlage ich etwas vom roten Stein ab und zermahle ihn in unserem Gewürz-Mörser. Im darauf folgenden Urlaub erfreue ich mich immer mal wieder an der vagen inneren Vision eines Wandgemäldes in meinem Zimmer. Ob ich es wohl verwirklichen würde? Ich verspüre eine leichte innere Aufregung, die Idee ist offensichtlich noch da. In dem Moment, als mir die farbigen Steine aufgefallen waren, hatte ich im Kontakt mit meiner Umwelt diese Möglichkeit wahrgenommen: ein Wandgemälde aus am Ort gefundenen Erdpigmenten zu malen. Solche Ideen, die aus der Beobachtung und Interaktion mit unserer Umwelt entstehen, haben wir viele. Was aber brachte mich dazu, diese Idee weiter zu nähren? Ich glaube, ich erahnte in ihr die Möglichkeit, einem meiner Bedürfnisse zu diesem Zeitpunkt zu folgen: mich mit unserem neuen Lebensort zu verbinden, mit meinem eigenen Zimmer und - über ein Zeichen - mit meiner eigenen Mitte. Mit dem allgemein formulierten Wunsch, das neu bezogene Haus »weiter einzurichten« fahre ich ein paar Tage vor meiner Familie aus dem Urlaub zurück. Die Umsetzung der Idee lasse ich mir innerlich offen. Zu Hause hole ich schließlich am zweiten Abend den Mörser hervor. Ich zermahle ein Stück des gelben Steins und verstreiche einen Teil der entstandenen Pigmente mit dem Finger und etwas Wasser auf einem Papier: ein schönes, leuchtendes, sonniges Gelb. Doch beim Zermahlen des violetten Steins, dessen Farbe mich so begeistert hatte, stelle ich enttäuscht fest, dass die Pigmente nicht violett sind, sondern denen des roten Sandsteins ähneln. Da kommt mir der farbige Ton in den Sinn, den ich einmal während eines Waldspaziergangs an unserem früheren Wohnort mitgenommen hatte. Da gab es doch auch ein Violett! Beim Zermahlen erhalte ich tatsächlich ein leicht violettes Pigment. Noch fehlende Brauntöne finde ich am nächsten Abend auf unserem neuen »Hausberg«.
Etwas in die Welt bringen Noch zwei freie Tage liegen vor mir. Ein Entschluss steht an: Weiter unverbindlich herumprobieren oder konkret werden? Aus meinem ersten Beruf – dem Goldschmieden – ist mir vertraut, wie sich Gestaltungsprozesse in ihren verschiedenen Phasen anfühlen. Bislang war ich in der Phase der »Potenzialität«. Sie fühlt sich toll an, ich bin von der eigenen Idee berauscht, und alles scheint möglich. Um in die zweite Phase eintreten zu können, die es mir erlaubt, meine Idee auch in die Welt zu bringen, muss ich über eine Schwelle gehen. Ich muss bereit sein, Entscheidungen zu treffen, dranzubleiben und am In-die-Welt-Bringen zu arbeiten. Und ich muss bereit sein, ein nicht perfektes Resultat einer perfekt anmutenden Idee vorzuziehen. Am nächsten Tag setze ich mich in den Garten, mahle alle Steine und Tone und wasche die gesammelten Erden. Manche sind so fein, dass ich sie nicht mahlen muss. Ich bin berauscht von den vielen unterschiedlichen Pigmenten, fühle mich aber auch ein bisschen verloren. Ich brauche einen Überblick über die Farben, und so rühre ich alle Pigmente mit Stärkekleister als Binder an und bestreiche jeweils ein Farbkärtchen, beschrifte es und notiere das jeweilige Mischungsverhältnis zwischen Binder und Pigmenten. Als ich alle Farbproben habe, wähle ich die besten aus und mache einen Entwurf für mein Mandala. Denn ein Mandala soll es werden, ein Kraftzeichen, das in die vier Richtungen weist – zur Erde, zum Himmel, nach rechts und nach links – und das ein starkes Zentrum hat. Ich orientiere mich an meinem alten Mandalabild. Erst mein knurrender Magen holt mich fünf Stunden später aus meinem Schaffensrausch. Nach einer kurzen Pause gehe ich in mein Zimmer. Wo passt das Mandala hin? Wo kann es seine Wirkung entfalten? Ich schneide den Umriss des Mandalas aus einem Bogen Packpapier aus und hänge ihn probeweise auf. Die optimale Lösung scheint es nicht zu geben. Ich scheue mich, mich endgültig auf eine Wand festzulegen, doch am Abend gelingt mir eine Entscheidung. Am nächsten Tag zeichne ich die Umrisse des Mandalas an der Wand vor und rühre die Farben an. Mit einem kleinen Stück Schwamm beginne ich, die erste Farbfläche aufzutupfen. Ich bin gespannt, wie gut es mir gelingen wird, die Ränder der einzelnen Farbflächen als klare Kante zu gestalten. Nach einiger Zeit der Arbeit kann ich ansatzweise erahnen, wie das fertige Bild wirken wird. Ich bin aufgeregt und neugierig, am liebsten würde ich ganz schnell fertigmalen, um endlich das Aussehen und die Wirkung meines Mandalas erfassen zu können. Doch ich zwinge mich dazu, mich auf jede einzelne Fläche einzulassen. Ich mache Pausen. So gelingt es mir, das Tun zu genießen, anstatt auf das Ergebnis hinzufiebern. Das fertige Wandbild ist nicht so perfekt wie meine ursprüngliche Idee davon. Dafür ist es lebendig, denn es ist in einem lebendigen Prozess in die Welt gekommen und trägt diese Geschichte in sich. Und es strahlt etwas von der ruhigen, zentrierenden Qualität aus, die ich mir gewünscht hatte.
Selbermachen als lebendiger Prozess Als lebendig habe ich mich selbst und mein Tun wahrgenommen. Ich hatte das Gefühl, genau das zu tun, was jetzt in diesem Moment für mich in diesem Umfeld dran war. Die Permakultur hat in den letzten Jahren den Grad der Lebendigkeit als ein Indiz für die Zukunftsfähigkeit von Lebensweisen und Orten entdeckt. Grund genug, mich zu fragen, was mich diesen Prozess und sein Ergebnis als lebendig betrachten lässt. Unter der Fragestellung, was Leben und Lebendigkeit eigentlich ausmacht, hat sich der britische Sozialanthropologe Tim Ingold mit Linien und ihren unterschiedlichen Qualitäten befasst. Er versteht die Spuren, die eine Bewegung, eine Geste, ein Gespräch, ein Spaziergang hinterlassen, als Linien. Dabei unterscheidet er zwischen einer Linie, die aus einer lebendigen Bewegung heraus entsteht, und einer Linie, die in geraden Strichen von einem festgelegten Punkt zum nächsten verläuft. Ich verstehe die frei gezeichnete Linie als Metapher für einen lebendigen Prozess. Der mit Lineal gezogene Strich von einem Punkt zum anderen ist hingegen Metapher für ein Verfahren, in dem mechanisch ein Schritt nach dem anderen abgearbeitet wird. Beziehe ich dies auf das Malen meines Wandbilds, so fällt mir auf: Ich wusste zu Beginn nicht, welche Arbeitsschritte aufeinander folgen würden – wie also die Linie meines Tuns aussehen und wo sie enden würde. Vielmehr habe ich mir nach und nach einen Weg gesucht, um meine Idee in die Welt zu bringen. Mein Tun war in den Worten Ingolds ein Way-Finding, ein Pfadfinden. Aufgrund meiner Vorerfahrungen mit Erdpigmenten und kreativen Prozessen hatte ich bei diesem Wegfinden Anhaltspunkte, an denen ich mich orientieren konnte, vergleichbar mit Wegweisern auf einer Wanderung. Ein weiterer Aspekt ist die besondere Qualität von Zeit. Ich durchlief kein vorab in Zeitabschnitte unterteiltes Verfahren. Ich durchlief vielmehr einen Prozess, der langsam startete, sich zunehmend verdichtete und auf seinen schöpferischen Höhepunkt zubewegte: den Moment, an dem ich so weit war, mit dem Malen an der Wand zu beginnen. Eine Linie, die als dünne, blasse, fast nicht wahrnehmbare Spur beginnt, sich durch mein Leben zu ziehen, die immer mehr anschwillt und an Dominanz gewinnt, bis sie zeitweise meinen gesamten Lebensprozess umgreift. Und die dann auch wieder abflaut und ausläuft. Damit sich so eine Qualität von Zeit entfalten kann, braucht es in unserem durchstrukturierten Alltag Zeiträume, die unverplant sind. Dafür muss ich Kriterien von Effizienz, die mein Handeln sonst oft leiten, fallenlassen. Es war nicht effizient, sämtliche vorhandenen Steine und Erden zu zermahlen und Farbkärtchen von ihnen zu machen, obwohl klar war, dass ich so viele Farben nicht würde brauchen können. Aber während ich das tat, war ich im Flow, war ganz und gar mit meinem Tun verbunden und habe mich ungemein lebendig gefühlt. Lebendig wurde der Prozess auch durch die Tatsache, dass ich mit meinen Händen und nicht mit Maschinen tätig war. Christopher Alexander, ein weiterer Vordenker zu der Frage, was Lebendigkeit ausmacht, spricht von Echo, wenn sich Formen zwar wiederholen, keine aber der anderen genau gleicht. Und diese Spuren des Handgemachten, die leichten Variationen – in der Intensität der Farbe, in der Grob- oder Feinkörnigkeit der Pigmente, im Schwung der Linien, in der konkreten Gestalt der Formen – sieht man auch dem fertigen Objekt an. Sie sind eine Eigenschaft, die ein handgemachtes Ding lebendiger als ein maschinengefertigtes machen. Freiräume und eine Kultur, in denen Menschen wieder mehr Dinge selbstmachen, können auf diese Weise Nährboden für mehr Lebendigkeit in unseren Alltagen werden.
Selbermachen, um mich zu verbinden Als ein von Permakultur inspirierter Mensch möchte ich mit den Orten, an denen ich lebe, in Kontakt treten und wahrnehmen, welchen Reichtum sie in sich tragen. Ich möchte primär mit dem, was ich vor Ort finde, für meine Bedürfnisse sorgen. Das Prinzip »arbeiten mit dem, was da ist« leitet mich dabei. Die Entscheidung, nur mit selbstgefundenen Erdpigmenten zu arbeiten, war eine freiwillige Selbstbeschränkung, die es mir ermöglichte, eine neue Vielfalt an Farbtönen zu entdecken und eine andere, ungewohnt erdige Ästhetik zu entwickeln. Kommentare von Betrachtern wie: »Ach, ich hätte mir die Farben etwas leuchtender vorgestellt« konnte ich dann innerlich schmunzelnd zur Kenntnis nehmen. Meist dauert es länger, etwas selbst zu machen. Und das Geld, das ich sparen kann, weil ich ja (fast) nichts kaufen muss, wiegt den Zeitaufwand meist nicht auf. Für mich ist es immer wieder eine Herausforderung, dann nicht in den üblichen Zeit- und Geldparadigmen zu denken. Ich merke, wie ich mein Selbermachen immer wieder vor mir selbst rechtfertigen muss. Nicht zuletzt ermöglicht das Selbermachen, mich auf ganz andere Weise mit den Dingen zu verbinden, die mich in meinem Leben umgeben. Denn wenn ich weiß, wie etwas entstanden ist, trage ich eine andere Art von Wissen in mir, als wenn ich nur das fertige Ding kenne. Um noch einmal mit Ingold zu sprechen, ermöglicht mir das Selbermachen, »Wissen entlang eines Pfads« – eines Entstehungsprozesses – zu entwickeln, anstatt nur aus der Vogelperspektive Wissen über ein Ding zu haben. Nun habe ich ein schönes Wandbild in meinem Zimmer, aber mir fehlen noch ein paar andere Dinge, zum Beispiel ein Papierkorb. Mache ich mir den auch selbst? Fahre ich in den nächsten Einrichtungsladen und kaufe mir einen für fünf Euro – ohne zu wissen, was entlang seines Entstehungspfads so alles passiert ist? Oder bekomme ich vielleicht einen Papierkorb geschenkt? Selbstgemacht natürlich?
Judit Bartel (32) studierte nach einer handwerklich-gestalterischen Ausbildung Kulturanthropologie und Erwachsenenbildung und inspiriert mit ihrer Bildungsarbeit Menschen, sich selbst als (Mit-)Gestalterinnen und -Gestalter ihres Lebensumfelds wahr- und ernstzunehmen.
Buchtipps • Lynn Edwards, Julia Lawless: Naturfarben Handbuch. Ökobuchverlag, 2003 • Gerd Ziesemann (u. a.): Natürliche Farben. AT Verlag, 2002 • Heinz Knieriemen, Martin Krampfer: Kinderwerkstatt Naturfarben und Lehm. AT Verlag, 2010 • Helena Arendt: Werkstatt Pflanzenfarben. AT Verlag, 2009