Ein Besuch in der Welt der Freinet-Pädagogik.
von Ulrike Oemisch, Johanna Laier, erschienen in Ausgabe #45/2017
»Bei uns wird Lernen nicht erzwungen, sondern ermöglicht und gefördert«, erklärt Ingrid Bähr, Mitglied im Leitungsteam der Prinzhöfte-Schule Bassum. Damit bringt sie etwas Wesentliches auf den Punkt: Freinet-Pädagogik beginnt mit einer Haltung – zu den Kindern, zur Schule, zum Lernen und vielleicht sogar zur Welt; einer Haltung der Achtsamkeit und Sensibilität im Wissen darum, dass alle Menschen im Lernen einen eigenen Weg gehen. 2016 feierte die Freinet-Kooperative e. V., Netzwerk und Dachverband der Freinet-Pädagogen in Deutschland, ihr 40-jähriges Jubiläum. Diese pädagogische Richtung entwickelte sich seit den 1920er Jahren: Célestin Freinet begann in einer der vielen einklassigen Dorfschulen in Frankreich zusammen mit Kollegen, den Unterricht zu verändern – zunächst allein, später mit Gleichgesinnten an anderen Schulen. Dabei stießen sie auf vier Prinzipien freien Lernens: freie Persönlichkeitsentfaltung, Selbstverantwortlichkeit, Zusammenarbeit und die kritische Auseinandersetzung mit der Umwelt. Freinet selbst nannte seine pädagogischen Überlegungen, Ideen und Anregungen nie »Pädagogik« – er erkannte, dass Menschen von sich aus lernen wollen. Dementsprechend ging es ihm darum, aus den Alltagserfahrungen sinnvolle Formen des Lernens zu entwickeln, die Trennung von Schule und Leben, von Kopfarbeit und Handarbeit zu überwinden. Sein Ansatz wendete sich von der Schule als kultureller Institution der Belehrungen ab und begriff Schule eher als Werkstatt, als Erfahrungs- und Experimentierraum, als lebendigen Organismus – als »Kooperative«.
Den Kindern das Wort geben Die vier Prinzipien des Freinet’schen Ansatzes verbinden heute ein weltweites Netzwerk von Menschen, die dem Lernen einen weiteren Raum geben wollen, als es die staatlichen Bildungssysteme vorsehen. Besonders zentral ist das Prinzip des freien Ausdrucks, der freien Persönlichkeitsentfaltung des Menschen. Dafür steht in der Freinet-Bewegung der Begriff »das Wort geben«. Monika Zeugner, langjährige Leiterin der Freinet-Kindertagesstätte Prinzhöfte, erklärt ihn folgendermaßen: »Damit ist gemeint, darauf zu achten, was von den Kindern selbst kommt. Was sind ihre Interessen, Bedürfnisse, Wichtigkeiten, welchen Weg wollen sie gehen? Wann ist ihr persönlicher Zeitpunkt für welche Lernerfahrung – wer kann das wissen, wenn nicht das Kind, der Mensch selbst?« Um den freien Ausdruck anzuregen, entwickelte Freinet zum Beispiel die »Schuldruckerei«, in der die Kinder mit Klapppresse und Bleisatz zugleich Autorin, Setzer, Druckerin, Buchbinder, Verlegerin und Buchhändler in einer Person werden, und die es bis heute an vielen Freinet-Bildungsorten gibt. Der Buchdruck ist ein Ausdrucksmittel für eigene Gedanken und Erlebnisse, freie Texte werden gesetzt und zu Papier gebracht, ein sinnlicher Zusammenhang von geistiger und körperlicher Arbeit entsteht. Freinet schrieb: »Beim Drucken wird die Sprache von den Händen der Kinder auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, sie ist keine anonyme Formulierung mehr, sondern wird ihre eigene Schöpfung. Die Kinder, die über die technischen Mittel ihrer Arbeit verfügen, können von nun an der traditionellen Passivität des Unterrichteten den Rücken kehren und machen sich zum Subjekt ihrer Erziehung, die nicht als einsames Abenteuer, sondern als kollektive Selbstschöpfung in der Druckerei aufgefasst wird.« Dazu regt auch der Ansatz der »natürlichen Methode« an, die der Pädagoge Jochen Zülch folgendermaßen schildert: »Es gibt keine Fächertrennung. An irgendeiner Stelle fängst du an, dich mit etwas zu beschäftigen. Dabei entdeckst du etwas, was du klären willst. Du fängst an zu untersuchen, findest Antworten. Dabei entsteht ein Lernprozess.« Entsprechend geprägt ist seine langjährige Arbeit als Freinet-Pädagoge: »Zwar gebe ich Anstöße, manchmal erkläre ich auch Aufgaben, aber im besten Fall wird ein Arbeitsprozess von einem Schüler oder einer Gruppe angefangen, und entwickelt sich dann irgendwohin.«
Demokratie ernst gemeint Ingrid Bähr berichtet über das Leben an der Prinzhöfte-Schule: »Die Schülerinnen und Schüler bewegen sich bei uns auf zwei Ebenen in der Selbstorganisation: In der Morgenversammlung der Lerngruppen strukturieren sie ihr inhaltliches Lernen des Tags, besprechen ihre Lernanliegen, organisieren sich in Forschungsgruppen und klären, ob sie Hilfe oder Materialien benötigen. Ein Lernanliegen kann zum Beispiel sein: Warum schmelzen die Polkappen? Wie lange dauert es noch, bis sie weg sind? Neben der inhaltlichen Ebene reflektieren sie auch ihre Selbstorganisation als Gruppe, setzen sich mit ihrem Umgang untereinander auseinander, besprechen das Einteilen bestimmter Dienste, planen ihre Klassenfahrten und treffen gemeinsam Entscheidungen zu ihren selbstgewählten Regeln. Auf diese Weise lernen und erleben sie Demokratie als lebendige Realität und erfahren Selbstwirksamkeit in jeder Richtung. Ganz ähnlich setzt sich das auf der Schulversammlung alle zwei Wochen fort, wo 100 Schüler aller Altersstufen gemeinsam die Planung des Schulfests abstimmen, die Schulregeln nachbessern oder andere wichtige Themen zusammen durchgehen können.« Summt ein solcher Schulorganismus meistens friedlich und harmonisch vor sich hin? Lutz Wendeler vom Leitungsteam der Freinet-Weiterbildung antwortet zur Rolle des Aushandelns und der politischen Aspekte des Freinet-Ansatzes: »Freinet-Pädagogik nimmt neben der Entwicklung des Individuums auch die der Gruppe, und damit im größeren Kontext auch der Gesellschaft, in den Blick. Aus den Bedürfnissen von Individuum und Gruppe können Konflikte entstehen. Freinet machte den daraus resultierenden Aushandlungsprozess zum Mittelpunkt seiner Pädagogik. In diesem Spannungsfeld muss die Pädagogik agieren und das Individuum befähigen, innerhalb der Gruppe eigenständig wirken zu lernen. Die Pole zwischen den Bedürfnissen des Individuums und denen der Gruppe müssen immer wieder neu ausgehandelt werden, weil die Überschneidung situativ ist.« Konsens oder Konsent – letzteres bedeutet, dass niemand unter den Anwesenden einen schwerwiegenden Einwand hat – werden oft erst nach langem Verhandeln und Diskutieren erreicht. Die Lernbegleiterinnen haben das gleiche Stimmrecht wie alle und können in diesen Runden nicht plötzlich bestimmen, wo es langgeht. Auf diese Weise entsteht Wertschätzung für den Weg einer Gruppe als Gemeinschaft, für die persönliche Entwicklung aller Beteiligten und ein Prozessverständnis. Dies unterscheidet sich deutlich von konventionellen Schulen. Gedeiht die Freinet-Pädagogik also nur in den raren, kleinen Inselparadiesen der Freien Schulen? Ganz im Sinn des Gründers ist dieser Ansatz heute allein durch die Mitglieder der Freinet-Kooperative in 99 Schulen, 11 Kindergärten, 15 Hochschulen und 8 Verlagen präsent. Die meisten Freinet-Pädagogen bewegen sich jedoch täglich im staatlichen Bildungssystem – wie Markus Spannan, der an einer staatlichen Schule im Bremer Süden arbeitet: »Für mich ist es sehr wichtig, mit einem Freinet-Ansatz an staatliche Schulen zu gehen! Kinder an Privatschulen kommen häufig schon aus Elternhäusern, wo über Bildung nachgedacht wird und dies auch für die Kinder einen Stellenwert hat. An der staatlichen Schule – und gerade an meiner Schule – ist der Anteil der Kinder, die nicht aus bildungsaffinen Elternhäusern kommen, sicherlich höher. Auch sie sollen erreicht werden, gerade diese Kinder brauchen die Freinet-Pädagogik! Haltung lässt sich auch an staatlichen Schulen umsetzen.« Eine Schulleitung, die offen für Freiräume und den Lernenden zugewandt ist, ist hier eine große Unterstützung. Auch eine gute Kooperation im Kollegium macht das Umsetzen neuer Ideen und Projekte leichter. Davon können viele Freinet-Pädagogen als Einzelkämpfer und Dauer-Exoten nur träumen. »Was ist an den Regelschulen möglich?«, fragen sie in der ganzen Republik. Zwar sind inzwischen in der Evolution des Bildungssystems Freiräume entstanden. »Werden aber nicht häufig nur die ›Methoden‹ übernommen, wobei es viel mehr auf das Menschenbild ankäme?«, fragen sich Gisela Tamm und Gesa Meisen, beide langjährig in Vorstand und Geschäftsstelle der Freinet-Kooperative tätig: »Wir erleben die heutige Bildungsgeneration als enorm angepasst. ›Demokratische Schule‹ prangt als Etikett über Strukturen, die weiterhin fest in Lehrerhand bleiben – sie könnten viel weiter gehen. Viele Essenzen sind auf dem Weg in den Mainstream verwaschen oder verlorengegangen.«
Aus der Bewegung heraus lernen Alle Lehrenden haben gewisse Spielräume, die sie – ungeachtet der Strukturen der Einrichtungen – mit eigener Haltung ausfüllen können: Wie und womit lässt sich also ein Freinet-Ansatz einbringen? Célestin Freinets Zitat »Adler steigen keine Treppen!« ist der Titel einer zweijährigen Weiterbildung, die sich dieser Frage widmet. Lutz Wendeler erklärt die Hintergründe des Titels so: »Viele Didaktiker oder Systemiker gehen von einer Linearität des Lernens vom Einfachen zum Komplexen aus. Das ist in der Realität schrecklich langweilig. Von Natur aus sind Probleme eher überkomplex, sonst wären es keine. Wissen beweist sich an schwierigsten Situationen im wirklichen Leben. Es müsste also heißen: vom Komplexen zum Einfachen. Lösungen zu finden ist kein linearer Prozess nach dem Motto: Hier liegt das Problem, dann kommt eine Krise, und irgendwann findet man durch tastendes Versuchen eine Lösung. ›Treppenstufen steigen‹, also aufbauendes, lineares Lernen, ist didaktischer Unsinn. Adler als Symbole für die Kraft des Sich-eigenständig-Bildens lernen den Flug aus der Bewegung heraus.« Dieser Ansatz soll in der Weiterbildung vermittelt werden. »Die Bausteine des Programms haben zwar Überschriften, ergeben aber keinen Plan, was genau behandelt wird«, erklärt Lutz Wendeler. »Menschen, die in der Lage sind, sich selbst zu organisieren, sollen sich frei ausdrücken, Heterogenität begegnen und demokratisch handeln können.« In einer Zeit, in der weltweit demokratische Strukturen systematisch abgebaut werden, ist der Freinet-Ansatz aktueller denn je. Die Herausforderungen unseres Jahrhunderts beschränken sich nicht mehr auf Teilbereiche – sie erfordern Mut, Kraft und Selbstvertrauen, Entdeckerinnen und Erfinder, die neue Wege wagen, lebensnahe Lösungen entwickeln und sich und die Gemeinschaft selbst organisieren. »Wer hier groß wird, merkt irgendwann, dass man viel mehr man selbst ist – weil wir uns entwickelt haben und nicht erzogen wurden«, sagt Jan-Ole Eilers beim Schulfest der Prinzhöfte-Schule, die er selbst zehn Jahre besucht hat. Nach dem Abitur am Gymnasium hat er nun sein Lehramtsstudium angetreten. Seinen Weg geht er mit der klaren Vision: Schule verändern und Zukunft gestalten. \ \ \
Ulrike Anna Oemisch (39) leitet die Geschäftsstelle der Freinet-Kooperative. Die Permakultur-Designerin und Landschaftsgärtnerin lebt im Zentrum Prinzhöfte, wo ihre Kinder die Freinet-Kindertagesstätte besuchen.
Johanna Laier (37) studierte Grundschullehramt und das Leben auf Reisen. Sie arbeitet an einer staatlichen Freinet-Schule in Tübingen. Zum Ausgleich erntet sie im Sommer Heu in den Bergen oder wandert in der Natur.