von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #46/2017
Es empfiehlt sich, den Blick weich werden zu lassen, seinen Augen zu trauen und das Bild als das zu nehmen, was es ist: fototechnische Reproduktion, mit Licht gemalte Poesie, dokumentarisches Zeugnis. Der unbewehrte Blick des ersten Mals lässt die Augen weiter und tiefer sehen. Beides, Weit- und Tiefsicht, kann einen die Arbeit von Wim Wenders lehren – vielleicht deshalb, weil der Filmemacher und Fotograf selbst ein lebenslang Sehenlernender ist. Und als wechselseitige Wesen sind wir, wenn wir etwas in der Tiefe lernen, immer auch Lehrer für andere. Meine Lehrzeit begann in der Kindheit. Jede Woche radelte ich am Vorabend des Programmwechsels die vier Kinos der Stadt ab, um die neuen Filmplakate zu studieren. Einmal hing da ein Plakat, das mir länger im Gedächtnis blieb als alle anderen. Es zeigte eine Frau und einen Mann von hinten, die – die Tür eines Leichtflugzeugs zwischen sich tragend – durch eine Wüstenlandschaft gingen. Hätte mein Vokabular als Zehnjähriger das hergegeben, hätte ich das Bild als anheimelnd dystopisch, verstörend romantisch oder völlig »out of place« beschrieben. So aber staunte ich wortlos. Es verging ein Jahrzehnt, bis ich das Roadmovie »Bis ans Ende der Welt« zum ersten Mal sah – bei einer Vorstellung des fünfstündigen Director’s Cut im Münchner Filmmuseum. Dort lernte ich etwas über den unbewehrten Blick: Es habe, so erzählte Wenders, bei den Dreharbeiten in Australien langer Überzeugungsarbeit bedurft, um die Komparsen vom Stamm der Mbantua dazu zu bringen, eine Begräbnisszene »zu spielen«, ja, ihnen begreiflich zu machen, dass die von Jeanne Moreau dargestellte Figur nicht wirklich tot gewesen sei, sondern nur in der Logik des Films beigesetzt werden würde. Es sei ihnen als Ding der Unmöglichkeit erschienen, ein Bestattungsritual für jemanden abzuhalten, der tot und doch nicht tot war. Schließlich ließen sie sich darauf ein, die Szene genau ein Mal zu spielen. Ohne Probe, ohne zweite Klappe. Der unbewehrte Blick kennt keine ironische Brechung, kein Als-Ob. Als einer der wichtigsten Erneuerer des deutschen Films seit fünf Jahrzehnten ist Wenders ein meisterhafter – wenn auch zuweilen zögernder – Geschichtenerzähler. Seine Rolle als Fotograf verstehe er hingegen genau umgekehrt, erzählte er einmal in einem Interview: »Da komme ich als Zuhörer, und lasse mir von einem Bild, einem Ort seine Geschichte erzählen.« Ein Roadmovie, das von erzählendem Ort zu erzählendem Ort – zwar nicht ans Ende, doch aber an einige Enden der Welt – führt, ist auch die Auswahl der in dieser Ausgabe abgebildeten Fotografien von Wim Wenders: Die menschenleere Landschaft (Ausgabe #46, Seite 22) in Brandenburg ist unverkennbar eine Kulturlandschaft und liegt doch völlig selbstgenügsam da. Nur ein paar Zaunpflöcke, die offenkundige Beweidung und eine Kirchturmspitze am Horizont erinnern daran, dass die hier abgebildete auch eine Welt der Menschen ist. In einer ähnlich menschenleeren Szenerie in Armenien (Ausgabe #46, Seite 39) sind ein abgehalftertes Riesenrad und andere Relikte menschlicher Zivilisation zu sehen. Im Gegensatz zum Bild davor ist diese Abwesenheit menschlicher Bewohner eine augenfällige. Dann ein Stück American Way of Life – das sich nicht mehr ohne Assoziationen zu dessen Scheitern und imperialer Dimension betrachten lässt – aus Jerusalem (Ausgabe #46, Seite 50), der Stadt des (unmöglichen) Friedens. »Inventing Peace« heißt ein Buch von Wim Wenders und Mary Zournazi über eine Ästhetik des unbewehrten Blicks. Irgendetwas will die menschenverlassene Landschaft im Stil des Malers Andrew Wyeth (Ausgabe #46, Seite 62) nicht geisterhaft wirken lassen: Ist es die Wärme des Präriegrases? Das Licht des amerikanischen Westens? Etwas, das der Ort selbst erzählt? Die Reise endet mit einem Hund als Führer um den Ayers Rock, an einem sprichwörtlichen Ende der Welt, das einen Bogen zu den Anfängen schlägt – einen denkbar weiten zur brandenburgischen Landschaft, einen motivischen zum Filmplakat meiner Kindheit und einen anthropologischen zu den Aborigines. Es hat etwas Wohltuendes, ein Bild, das nichts weiter will, als seine Geschichte zu erzählen, als das nehmen zu können, was es ist: »In diesem einen Bild ist dann alles drin: Anfang und Ende der Geschichte. Und ich will dem nichts hinzufügen«, beschrieb Wenders seine fotografische Arbeit. Der unbewehrte Blick lässt die Augen weiter und tiefer sehen: Sieh und lausche – welche Geschichte erzählt das Bild? \ \ \