Wie ich einmal von Berlin in eine westdeutsche Kleinstadt zog. Ein persönlicher Rückblick auf die Wendejahre.von Elisabeth Voß, erschienen in Ausgabe #46/2017
Auf die Frage, ob ich über das »Projekt A« in Neustadt an der Weinstraße schreiben möchte, wo ich vor über 20 Jahren gelebt habe, habe ich sofort zugesagt – allerdings mit dem Hinweis, dass ich lieber über meinen Weg dorthin erzählen möchte als über das Projekt selbst. Inspiriert dazu hatte mich schon der Beitrag von Dieter Halbach über Sieben Linden in Oya-Ausgabe 43. Eine Fernsehdiskussion zwischen drei älteren Herren, irgendwann im Jahr 1988: Der bekannte österreichische Zukunftsforscher Robert Jungk und der Berliner Politologieprofesser Fritz Vilmar kritisieren den in den Westen ausgebürgerten Kritiker des real existierenden Sozialismus Rudolf Bahro für sein Buch »Logik der Rettung«. Etwa zehn Jahre zuvor hatte ich Einreiseverbot in die DDR erhalten, ebenso wie alle anderen, mit denen ich mich in Westberlin für die Freilassung des inhaftierten Dissidenten Bahro eingesetzt hatte. Die Stasi schleuste damals einen Beobachter in unsere Soligruppe. Mittlerweile lebte Rudolf in einer Gemeinschaft in Niederstadtfeld in der Eifel. Er setzte sich für einen umfassenden radikalökologischen Wandel ein, denn er sah eine menschheitszerstörende Apokalypse heraufziehen. Dabei schreckte er auch nicht vor ökodiktatorischen Fantasien zurück, propagierte einen »Fürsten der ökologischen Rettung« und sogar einen »grünen Adolf«. Ich politisierte mich damals gerade wieder, ausgelöst durch die Atomreaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986. Kurz nach der erwähnten TV-Diskussion gab es einen Bericht über den Bürgerkrieg in irgendeinem afrikanischen Land – damals schien Fernsehen für mich eine große Bedeutung zu haben. Mich berührte die Lebensfreude der Menschen, die in all der Gewalt und Zerstörung zwischendrin, wenn die Kämpfe ruhten, lachten und tanzten. Nach der ersten Irritation – »Wie können sie nur?« – empfand ich Sehnsucht nach solcher Intensität, die ich aus meinem eigenen, abgesicherten Leben kaum kannte. Mit dem Berliner »Zeitlos-Zentrum« organisierte ich einen Workshop mit Rudolf, den ich bis dahin nicht persönlich kannte. Trotz manch unterschiedlicher Vorstellungen teilten wir die Sehnsucht nach einem radikalen Bruch mit dem Bestehenden. Ich schloss mich dem »Informationsdienst Ökodorf« an. Mit unserem Rundbrief »Ökodorf-Informationen« warben wir für ein einfaches Leben in Selbstversorgung. Fast wäre ich damals am Redaktionssitz im Lebensgarten Steyerberg hängengeblieben. Initiator war der Universitätsdozent Jörg Sommer aus Heidelberg, der mit einer Gruppe »Selbstversorgung als Selbstbestimmung« ein solches Ökodorf vorbereitete. In Berlin lud ich regelmäßig zu Veranstaltungen zum Thema »Anders leben – anders arbeiten« ein. Gemeinsam besuchten wir Rudolf in Niederstadtfeld. Wenn ich heute daran zurückdenke, dann wundere ich mich, wie streng wir waren. In der Ökodorf-Gruppe diskutierten wir, ob die Selbstversorgung schon zu Beginn hundertprozentig sein müsse oder ob wir es langsam angehen. Richtig Streit gab es um die Frage, ob wir Tiere halten wollen, damit wir Leder für unsere eigene Schuhproduktion hätten. Wir lebten vegetarisch, da schien mir das absurd; alle hatten ja noch genug Schuhe für die nächsten Jahre. Aber manchen war es wichtig, gleich alles »richtig« zu machen. Ein Freund behauptet bis heute, ich hätte damals verkündet, dass ich keine Wohnung bräuchte, sondern in einem Tipi leben wolle. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Sehr gut erinnere ich mich aber, dass wir die Idee hatten, keinen Strom zu verwenden. Ich fand das vollkommen richtig, theoretisch. Bis ich anfing, mir das praktisch vorzustellen. Eine Weile kämpfte ich mit mir, dann fasste ich mir ein Herz und gestand den anderen, dass ich mir das mit meinen beiden Kindern so ganz ohne Strom doch nicht vorstellen könne. Zumindest eine Waschmaschine hätte ich ganz gerne.
Der kurze Sommer der Umland-Träume Und dann fiel die Mauer. Berlin hatte plötzlich ein Umland, was der Berliner Ökodorf-Gruppe einen ganz neuen Drive gab. In Brandenburg suchten wir nach geeigneten Orten und Ländereien sowie nach Menschen, die mitmachen wollten. Auch Dieter Halbach war mit dabei. Ich hatte ihn in »Il Capanno« in der Toskana besucht, als er noch versuchte, dort Leute zu finden, die benachbarte leerstehende Höfe übernehmen (siehe Oya-Ausgabe 6). Das Anwesen lag abseits, mit meinen Kindern musste ich einen weiten Weg durch den Wald laufen. Als wir ankamen, regnete es. Ein warmer Sommerregen, wir zogen uns aus und tanzten, es war wunderschön. Aber dort zu leben, das konnte ich mir nicht vorstellen. In der Noch-DDR versuchten wir, unsere Ökodorf-Ideen auch der Politik nahezubringen. Wir wurden zum Bezirkstag Dresden eingeladen, ich sollte den Vortrag halten. Dieter und eine weitere Mitstreiterin begleiteten mich. Den Vortrag hatten wir gemeinsam mit Wissenschaftlern des WZB (Wissenschaftszentrum Berlin) ausgearbeitet. Ich war furchtbar aufgeregt, denn ich hatte noch nie vor so vielen Leuten gesprochen. Am 8. März 1990 stand ich vor den anzugtragenden Politikern (an Politikerinnen erinnere ich mich nicht) und erzählte ausgerechnet ihnen, denen sich gerade die westliche Konsumgesellschaft öffnete, vom Teilen: Dass es nicht nötig sei, dass jede und jeder ein eigenes Auto hat, dass Waschmaschinen im Keller ökologischer seien, als wenn sich alle eine eigene kaufen, usw. Sie hörten höflich zu, die Irritation stand spürbar im Raum, manche lachten. Die Rede wurde im Radio übertragen, Zeitungen berichteten. Im folgenden Jahr wurde das Lebensgut Pommritz bei Dresden gegründet, aber ist eine andere Geschichte. Im Juni 1990 organisierten wir, gemeinsam mit den Grünen, dem Netzwerk Zukunft und der Naturfreundejugend in einer ehemaligen SED-Parteihochschule in Kleinmachnow (bei Berlin) eine »Ost-West-Begegnung Selbstorganisierte Lebensgemeinschaften – Kommunen, Ökodörfer, spirituelle Gemeinschaften und andere alternative Lebensformen«. Aus dem westdeutschen Kommunenetzwerk kam Kritik; uns wurde vorgeworfen, wir würden die Leute im Osten missionieren. Im Vorbereitungsreader hatte ich darauf hingewiesen, dass es mir wichtig sei, das, »was in den Nischen der Marktwirtschaft an Gemeinschafts-Praxis und -Theorie entwickelt werden konnte, nun auch denen verfügbar zu machen, die diese Möglichkeiten bisher nicht hatten (wobei die Privilegien der ›Westler‹ auch auf Kosten der ›Ostler‹ entstanden, mensch denke z. B. an die ungleiche Verteilung der Folgen des Zweiten Weltkriegs)«. Über 400 Menschen kamen nach Kleinmachnow – trotz zum Teil kritischer Haltung auch viele aus westdeutschen Kommunen –, um »verschiedene Formen gemeinschaftlichen Lebens und Arbeitens als gesellschaftliche Alternative zu diskutieren; Vorstellungen von und Erfahrungen mit solchen Lebensformen auszutauschen; Menschen kennenzulernen, die am Aufbau selbstorganisierter Lebensgemeinschaften interessiert sind« (Einladungstext des Vorbereitungsreaders). Auch Rudolf Bahro war dabei. Ich wollte raus aus Berlin, vom Berliner Umland war ich jedoch bald desillusioniert. Dort machte sich Goldgräberstimmung breit, die Leute hofften auf Golfplätze und Investoren, wir Ökos störten. Vor allem konnte ich mir nicht vorstellen, meine Kinder auf eine ostdeutsche Schule zu schicken und sie den dort üblichen autoritären Zuständen auszusetzen. Der Ökodorf-Gruppe um Dieter Halbach, die vor ihrem jetzigen Standort in Sieben Linden zunächst in ein Projektzentrum nach Groß Chüden in der Altmark ging, mochte ich mich auch nicht anschließen, denn von den radikalökologischen Ideen hatte ich mich immer mehr entfernt. Mittlerweile war ich Redakteurin der »Contraste – Monatszeitung für Selbstorganisation« und fuhr öfter zum Plenum nach Heidelberg. Es ergab sich, dass ich bei der Gelegenheit auch Leute in Neustadt an der Weinstraße besuchte, und so die »Wespe« kennenlernte, das »Werk selbstverwalteter Projekte und Einrichtungen«. Neben dem Projektzentrum »Ökohof«, einer ehemaligen Fabrik, gab es dort einige Kollektivbetriebe und Wohngemeinschaften. Der anarchistische Autor Horst Stowasser hatte in einer Broschüre das »Projekt A« beschrieben als Schritt zur antikapitalistischen Umgestaltung einer westdeutschen Kleinstadt, von der aus letztlich die ganze Welt revolutioniert werden sollte. Die Idee gefiel mir, vor allem aber fand ich die Leute dort sympathisch und die Gegend wunderschön. Nach vielen Kennenlernbesuchen packte ich 1993 meine Sachen und zog mit den Kindern nach Neustadt – wo wir immerhin für drei Jahre blieben … \ \ \
Mehr zu Rudolf Bahro Ein Nachruf von Elisabeth Voß aus Contraste 161 vom Februar 1998: kurzlink.de/NachrufBahro