Buchtipps

Leben in Kooperation (Buchbesprechung)

von Elisabeth Voß, erschienen in Ausgabe #45/2017

Das Buch »Leben in Kooperation« von Matthias Möller untersucht Aufschwung und Niedergang der sozialreformerischen Mustersiedlung Freidorf am Stadtrand von Basel. Diese wurde im Mai 1919 gegründet und zügig erbaut. Um ein Genossenschaftshaus gruppierten sich Wohnblöcke mit Gärten zur Selbstversorgung. Nach kurzer Zeit lebten dort über 600 Menschen. Das Projekt entsprang der Konsumgenossenschafts­bewegung, die damals eng mit der Arbeiterbewegung verbunden war, und wurde aus ihr heraus finanziert. Die Gründer hingen sozialreformerischen Idealen an, die sie in ein Konzept fassten, das von den Bewohnerinnen und Bewohnern akzeptiert werden musste. Diese sollten durch gute Wohnverhältnisse, ergänzt durch umfangreiche Versorgungsangebote, zu besseren Menschen erzogen werden. Sie waren verpflichtet, in genossenschaftseigenen Läden einzukaufen und ehrenamtlich in Kommissionen für kulturelle Angebote, Maßnahmen zur Gesundheitspflege, Aufsicht über Läden und Grundstücke etc. mitzuarbeiten. Ein reges Vereinsleben schuf Gemeinschaft.
Die ganze Gesellschaft sollte durch konzentrische Kreise verändert werden: im Mittelpunkt die Familie, dann die Nachbarschaft und die Gemeinschaft. Finanzielle Überschüsse sollten weitere Siedlungen ermöglichen. Im Mittelpunkt stand die sorgende Hausfrau. Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg mit zunehmender Technisierung, Individualisierung und weiblicher Berufstätigkeit führte zur Krise des Freidorfs. Es verlor seinen sozialreformerischen Charakter, besteht jedoch bis heute als Wohnungsgenossenschaft.
Anschaulich und detailreich zeichnet der Autor die Entwicklung von der Gründungs­euphorie über die Etablierung gemeinschaft­licher Versorgungsstrukturen bis zum schrittweisen Niedergang nach. Das Buch ist nicht nur ein spannender Bericht aus der Vergangenheit, sondern gibt auch Anregungen für heutige Gemeinschaften. Trotz vieler Unterschiede stellen sich auch heute ähnliche Fragen wie damals für Projekte, die den gesellschaftlich üblichen Wohnformen etwas anderes entgegensetzen möchten. Wie können gemeinschaftliche Strukturen den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen und Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner so angepasst werden, dass sie weiterhin solidarisch und tragfähig funktionieren? Wie können Ideale und Erfahrungen der ersten Generation an neu Hinzukommende so weitergegeben werden, dass diese sich nicht kritisiert oder ausgegrenzt fühlen? Wie können Konflikte kollektiv ausgehandelt werden, damit sich nicht immer mehr Einzelne still und enttäuscht zurückziehen? Das Buch regt an, aus den Fehlern des Freidorfs zu lernen.
 

Leben in Kooperation
Genossenschaftlicher Alltag in der Mustersiedlung Freidorf bei Basel (1919–1969).

Matthias Möller
Campus, 2015, 286 Seiten
ISBN 978-3593504865
34,90 Euro

weitere Artikel aus Ausgabe #45

Photo
Die Kraft der Visionvon Florian Kirner

Traumakollektiv

[Florian Kirner] Als Psychologe haben Sie sich auf die Traumaforschung spezialisiert. Womit genau beschäftigen Sie sich? [­Franz Ruppert] Das Phänomen »Trauma« ist Dreh- und Angelpunkt für ein tieferes Verständnis der menschlichen Psyche. Diese ist

von Silke Hoffmann

Insektenabwehr selbst gemacht (Buchbesprechung)

2016 veröffentlichte der ökobuch-Verlag die deutsche Übersetzung eines Buchs der US-amerikanischen Autorin Stephanie L. Tourles über natürliche Insektenabwehrmittel. Dieser Titel ist interessant für alle, die sich mit den vielfältigen Anwendungsarten von

von Vivien Beer

Gewalt im beruflichen Alltag (Buchbesprechung)

Der Sammelband »Gewalt im beruflichen Alltag«, herausgegeben von Utta Isop, enthält rund 20 Beiträge zu Hierarchie, Ab- und Aufwertungen in Organisationen und Institutionen. Auf 246 Seiten demonstrieren Wissenschaftlerinnen, Lehrer, ­Arbeiterinnen, Geflüchtete und

Ausgabe #45
Nach Hause kommen

Cover OYA-Ausgabe 45
Neuigkeiten aus der Redaktion