Titelthema

Jenseits von Zeit und Raum?

von Elisabeth Voß, erschienen in Ausgabe #47/2018
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© Markus Altmann

Schon wieder ist ein lieber Freund gestorben. Mehr als 40 Jahre lang gehörte Matthias zu meinem Leben. Wir liebten, stritten und trennten uns und blieben befreundet. Nun ist er mit nur 64 Jahren gestorben, einfach tot umgefallen, und dabei hatten wir doch noch so viel miteinander vor. Es kommt mir irreal vor, dass jemand, der in meinem Leben so wichtig war, plötzlich nicht mehr da ist. Er fehlt mir, und gleichzeitig habe ich nicht wirklich das Gefühl, er sei weg. Den tröstlichen Satz »wie schön, dass du ein Teil meines Lebens warst« habe ich immer wieder umformuliert in »wie schön, dass du ein Teil meines Lebens bist«. Mein Leben ist ja ein Ganzes, und was je dazugehörte, ist und bleibt ein Teil davon. Wenn ein mir nahestehender Mensch gestorben ist, kann ich nicht verdrängen, dass es nur eine einzige Sicherheit gibt im Leben: das Sterben, irgendwann. Seltsam, dass dies sonst in meinem Alltag so wenig präsent ist. Dann denke ich nach über Zeit und Raum, hinterfrage diese Koordinaten des irdischen Lebens.
Als Kind hat mich das viel beschäftigt, und ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es hinter dem Himmel immer weitergeht, wie wohl die Unendlichkeit aussieht und was es mit der Ewigkeit auf sich hat. Einmal bin ich ganz unverhofft in diese Sphäre jenseits von Zeit und Raum geglitten, beim Zähneputzen, einfach so. Ich musste lachen und lief kichernd durchs Haus, so seltsam fühlte sich das an, aber überhaupt nicht unangenehm. Später hatte ich ab und zu solche Erlebnisse – auf Drogen und auch einmal beim Meditieren, das war überhaupt kein schönes Gefühl. Ich habe mich furchtbar erschrocken, als ich irgendwo weit oben war und plötzlich meinen Körper nicht mehr gespürt habe. Angstvoll habe ich die Augen aufgerissen und mich vergewissert, dass noch alles an mir dran ist. Das Meditieren habe ich dann wieder aufgegeben.
Während ich dies aufschreibe, ist es mir wichtig zu betonen, dass ich überhaupt nicht esoterisch drauf bin. Ich hatte mal eine Spiri-Phase in den 1980er Jahren, aber das war mir bald alles viel zu abgehoben. Die Karma-Lehre – mit der ich als Waldorfschülerin schon aufgewachsen war – fand ich richtig schlimm. Wenn vom Abtragen der Schuld aus früheren Leben geredet wurde, habe ich manchmal nach Auschwitz gefragt. Da gab es die obskursten Antworten und oft eine erschreckende Kälte. Die Welt im Hier und Jetzt empfinde ich als ausreichend fordernd und habe weder Zeit noch Lust, tiefer in Jenseitiges einzusteigen. Wenn ich über Zeit und Raum nachdenke, dann ganz weltlich und mit meinem Alltagsverstand. Dass Zeit und Raum relativ sind, ist ja keine esoterische Idee.
Auf der Zeitachse gibt es ein Vorher und Hinterher, aber wie ist das mit Anfang und Ende? Mein Leben auf dieser Erde hat Anfang und Ende, aber vor jedem Anfang und nach jedem Ende geht ja die Zeit weiter, ewig. Die Ewigkeit lässt sich zeitlich nicht bestimmen, denn sobald ich einen zeitlichen Maßstab anlege, verliert sie ihre ewige Qualität und wird endlich. Folgt nicht dar­aus, dass es in der Ewigkeit keine Abfolge von Vorher-Nachher gibt und demnach »immer und ewig« identisch mit »jetzt« ist? Den Raum kann ich ebenso ansehen: In unserem Universum gibt es Hier und Dort, Nah und Fern, aber dann geht es ja immer ­weiter, unendlich. Sobald ich versuche, die Unendlichkeit räumlich zu fassen, gebe ich ihr Begrenzungen – und sie wird endlich. Folgt nicht daraus, dass »überall und unendlich« identisch mit »hier« ist? Wenn ich dann diese Einsicht, dass Ewigkeit und Unendlichkeit sich nicht zeitlich und räumlich bestimmen lassen, weiterdenke, komme ich auf Dimensionen von Sein und Nichtsein: Könnte vielleicht auch »immer und jetzt« dasselbe wie »nie« sein? Und wäre vielleicht »überall und hier« genau dasselbe wie »nirgends«? Die Utopie, Kein-Ort-Nirgends, das Ziel unserer Wünsche und Träume, unerreichbar und doch oft so spürbar nah – darüber habe ich früher mit Matthias viel philosophiert.
Jetzt kann ich nur staunend davor stehen, wieviel es offensichtlich zwischen Himmel und Erde gibt, wovon ich mit meinem kleinen Menschengehirn nur so wenig verstehen kann, und wie großartig und gleichzeitig tröstlich es sich anfühlt, dass es da noch viel mehr gibt, logischerweise geben muss. Wie schön, dass Matthias ein Teil meines Lebens ist, ebenso wie Gini, Walter und Dieter, die alle viel zu früh gegangen sind und die doch nicht weg sind. Wo auch immer ihr seid, und wohin auch immer ich eines Tages gehen werde, das werde ich dann wissen, wenn es soweit ist – und das kann gerne noch eine ganze Weile dauern, denn ich möchte 100 Jahre alt werden, mindestens.
So gebe ich mich dem wohligen Gefühl hin, dass es auch jenseits dieses Lebens in Zeit und Raum noch irgendetwas gibt, das auf mich eher einladend als erschreckend wirkt. Etwas, das ich sicher habe und das mir keine und keiner nehmen kann. Wenn das alles nur Täuschung wäre, und es wäre doch einfach mit einem Knips alles aus und vorbei, dann hätte ich mir das Jenseits wenigstens bis dahin angenehm vorgestellt.


Elisabeth Voß fragte »Wem gehört die Stadt?« in Ausgabe 16, warnte vor »Landgrabbing in Deutschland« in unserer Landwende-Ausgabe 26 und verfasste den »Wegweiser Solidarische Ökonomie«.


Oya im Ohr
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