Kulturpflanzen, die sich selbst vermehren, gehören zur Lebensgrundlage.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #6/2011
In der Schorfheide nördlich von Berlin, im Ort Finowfurt, lebt Jürgen Reckin und vermehrt seine Schätze. Einige hat er aus den entferntesten Winkeln der Welt zusammengetragen. »Bei den Amish in den USA fand ich eine Salatform, die bei uns schon lange ausgestorben ist, den Hirschzungensalat. Er kann sich selbst aussäen und wächst heute wild überall in meinem Garten. Pflanzen, die den Wildformen nahestehen, sind ursprünglicher in ihrer Biochemie und enthalten eine viel höhere Konzentration an nahrhaften oder heilsamen Inhaltsstoffen.« Jürgen Reckin schloss in den 70er Jahren zunächst ein Lehrerstudium ab, studierte dann Biologie, Chemie und Ökologie in Potsdam. Bei Professor Hans Karl Oskar Stubbe, dem weit über die Grenzen der DDR bekannten Agrarwissenschaftler und Genetiker, Gründungsdirektor des Instituts für Kulturpflanzenforschung in Gatersleben in Sachsen-Anhalt, promovierte er über kanadischen Wasserreis. Seine Professoren schickten den engagierten Studenten gerne auf Reisen. Im Rahmen eines UNESCO-Projekts zum Erhalt der Vielfalt von Kulturpflanzen besuchte Jürgen Reckin sogar Vietnam. »Da ging es ums Ganze. Der dort übliche Reis wollte in den kälteren Gegenden nicht gut wachsen. Der Vietnam-Krieg war gerade erst zu Ende, alles lag voller Kriegsgerät. Es drohten Versorgungsengpässe und Hungersnöte. Mir fiel ein, dass ich aus Ungarn einen Reis kannte, der auch kalte Winter verträgt. Er ließ sich in Vietnam im großen Stil sehr gut anbauen.«
Ein Hoch auf die Vielfalt Die Pflanzen-Mitbringsel von seinen Reisen gingen nicht nur nach Gatersleben. Jürgen Reckin richtete auch ein großes Gartengelände in der Schorfheide ein. Für die DDR hatte ein solches Reservoir der Vielfalt noch einen Wert, in der Nachwende-Zeit begann das Gelände zu verwildern. Um einige der mitgebrachten Sorten kümmert sich Jürgen Reckin nach wie vor in Eigenregie. Er fand auch nach der Wende eine Tätigkeit, die ihn reisen ließ. Als Mitarbeiter der kleinen bayerischen Naturheilmittel-Firma »Pharmos Natur« ging es jetzt in tropische Länder, deren Pflanzenvielfalt ihn förmlich berauschte: »Zu sehen, wie ein Grundmuster, eine Struktur, eine physiologische Eigenart, wie Geschmack, Farbe oder Form beinahe bis zum Gehtnichtmehr variabel sind – das macht Spaß, und wenn man sich damit beschäftigt, kommt etwas Gutes dabei heraus.« Aus Reckins Arbeit im Rahmen von Pharmos entstand unter anderen ein Naturheilmittel auf der Basis von grüner Papaya – und daraus ein Fair-Trade-Projekt mit angegliederter Schule. Es ist ein Glücksfall, dass in den letzten Jahren einige Studenten, z. B. von der Fachhochschule Eberswalde, auf Jürgen Reckin aufmerksam geworden sind. Sie wollen mit ihm forschen und experimentieren, seinen einmaligen Erfahrungsschatz heben. Zum Beispiel solche Kunstgriffe lernen: »Den sogenannten ewigen Kohl kann man eigentlich nur vegetativ vermehren, er blüht nie. Ewiger Kohl ist enorm gesund, er enthält erstaunlich viel Glutein und pro 100 Gramm 5000 Mikrogramm Beta-Carotin. Gewöhnlicher Blattsalat schafft es nur auf 1800 Mikrogramm. Ich habe ihn zum Blühen gebracht, indem ich ihn ein bisschen gequält habe. Eigentlich soll man Pflanzen nicht quälen, aber in diesem Fall war der einzige Weg, den Kohl so stark austrocknen zu lassen, bis er aus Not Blüten getrieben hat. Dann ließ er sich spontan mit violettblättrigem Grünkohl aus Schweden kreuzen. Beide Sorten sind nicht sehr winterhart, aber in der Spaltungs-Generation der Kreuzung mendeln Kombinationen heraus, von denen Einzelpflanzen selbst die extremen Temperaturen des letzten Winters überstanden haben. Sie sind bis in die Sprossenspitze grün geblieben«. Mit einer Studentengruppe möchte Jürgen Reckin jetzt einen Apfel züchten, der sich wie ein Wildapfel aus dem Kern vermehren kann, aber nicht so sauer ist wie ein wilder Apfel, sondern so lecker schmeckt, dass ihn auch Kinder gerne essen. Saatgutvermehrung lernen Wenn Laien in die Saatgutvermehrung einsteigen wollen – wohin sollen sie sich wenden? Jürgen Reckin empfiehlt das »Handbuch Samengärtnerei«, herausgegeben von der österreichischen Organisation zur Erhalt der Kulturpflanzenvielfalt »Arche Noah« und der entsprechenden Schweizer Stiftung »Pro Specie Rara«. Eine gute Idee ist auch, bei »Dreschflegel« im Schaugarten mitzuhelfen. Dreschflegel ist ein Zusammenschluss ökologisch wirtschaftender Betriebe für Saatgutvermehrung, die gemeinsam einen Versand für Saatgut betreiben. Dessen Ertrag stützt einen Verein, in dem züchterisch wie politisch gearbeitet wird. »Wer im Bereich Pflanzenzucht selbst aktiv werden will, muss vor allem beobachten lernen,« erklärt Jürgen Reckin. »Den Lebenszyklus der Pflanzen studieren, verstehen, wie sie sich auf natürliche Weise aussamen, wo man eingreifen muss, um kein wildes Durcheinander zu verursachen, und wo man die Vielfalt einfach sich selbst überlässt.« Ja, richtig. Beobachten lernen!