Die neue Muse (Buchbesprechung)

von Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #47/2018

Die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt ist in ihrem Essay-Band »Die neue Muse« einer personalisierten Inspirationsquelle auf der Spur, die bislang nicht als solche beschrieben wurde: die »Muse der Zukunftsfähigkeit«. Sie bezieht sich dabei auf den Künstler Joseph Beuys, der in seiner letzten Rede das Erscheinen einer neuen Muse ankündigte: einer Muse, die nicht nur Künstler im engeren Sinn, sondern alle Menschen in­spirieren wolle. Und wie es sich für eine Muse gehört, so lässt auch diese sich nicht einfach in Definitionen einfangen, sondern in sieben essayistischen Bögen umschmeicheln. Dabei blitzen immer wieder neue Facetten auf, was denn »Zukunftsfähigkeit« meinen kann, meinen müsste.
Ziel von Hildegard Kurts Umschmeichelungen ist es, ein »transrationales Narrativ« des »schöpferischen Wandels« zu beschreiben – eine oder viele offene, vielgestaltige Geschichte(n) davon, wie einer »Zukunft mit Zukunft« Raum gegeben werden kann, immer wieder neu schöpferisch zu entstehen. Dabei macht sie deutlich, dass es jenseits der Planungen, des »Futurum«, auch ein »Adventum«, eine auf uns zukommende Zukunft, gibt, die wir nur erwarten können. Hildegard Kurt beschreibt die Grenzen des Rationalen – und auch die Grenzen der Hoffnung, die wir in die Planbarkeit eines öko-sozialen Wandels stecken sollten. Das große Verdienst der Essays ist es jedoch, die feine Balance zwischen dem poetischen Anzweifeln des Rationalen und dem bodenständigen Gebrauch der Vernunft zu halten.
Eine für mich zentrale Frage des Buchs ist die, wie Vielfalt ermöglicht und ausgehalten werden kann – Vielfalt, »kulturelle Diversität als Ressource«. Wie können wir unterscheiden, wer oder was zur Vielfalt
dazugehört, wen oder was wir aushalten können müssen, und wo es wichtig ist, Grenzen zu ziehen? Hildegard Kurt schreibt dazu: »Was hier die Spreu vom Weizen trennt, ist, ob jemand seine Stimme im Dienst von Spaltung, Abtrennung und Hass erhebt oder im Dienst eines wie auch immer verbindenden Miteinanders und Füreinanders auf diesem einen Planeten, der unser aller Heimat ist.«
Wesentliche Teile dieses Buchs verfasste Hildegard Kurt als erste Dorfschreiberin der süddeutschen Gemeinschaft Schloss Tempelhof. Eindrücke und Wahrnehmungen aus dieser Zeit beschreibt sie in präziser, poetischer Sprache. Dabei wird deutlich, dass die lebensfeindlichen Impulse der gegenwärtigen Gesellschaft nur durch viele einzelne Akteure und Initiativen und nur durch eine Verbindung von Bewusstseinsarbeit und ­gesellschaftspolitischem Engagement – durch Arbeit »im inneren Atelier und im Atelier zwischen den Menschen« – überwunden werden können.
Die wunderbaren Bögen, die Alltags­beobachtungen aus Tempelhof immer wieder mit langen philosophischen Gedankenstränge verflechten, machen das Buch zu einem Lesegenuss. »Die neue Muse« ist eine höchst anregende Lektüre, die Denkwelten miteinander verbinden und begründete Hoffnung sprießen lassen kann.
 

Die neue Muse
Versuch über die Zukunftsfähigkeit.
Hildegard Kurt:
thinkOya, 2017
192 Seiten
ISBN 978-3947296002
24,80 Euro

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