Solidarisches Handwerk – Wege zu einer Ökonomie der Nähe
Das »SolHaWe-Textil« in Herzberg erprobt ökologisch und sozial wertvolles Wirtschaften nach dem Modell der solidarischen Landwirtschaft.von Marius Rommel, erschienen in Ausgabe #48/2018
Hügelige Landschaften, weites Grün, idyllische Täler, kleine Ortschaften – mein Zug durchquert gemächlich den Harz und kommt mit kurzem Rattern am Bahnhof der Kleinstadt Herzberg zum Stehen. Der Weg führt mich durch die gemütliche Innenstadt entlang der Fußgängerzone. Die schöne Fachwerkarchitektur versprüht einen alten, einladenden Charme, das Stadtbild ist multikulturell, die Stimmung lebendig, doch viele Geschäfte stehen leer. Ich treffe Lena Schaumann, Lehrerin und Leiterin des Projekts »Engagierte Stadt Herzberg«. Sie führt mich durch die Straßen des Zentrums und erzählt mir die Geschichte einer Kleinstadt, die mit dem Wegzug junger Menschen, Ladenschließungen im Stadtzentrum und öffentlichen Sparmaßnahmen konfrontiert ist. Im gleichen Atemzug schwärmt sie vom beeindruckenden Einsatz der Herzberger Zivilgesellschaft für Geflüchtete. Die Beteiligten wollen helfen und unterstützen, Orte der Begegnung und Möglichkeiten der Beteiligung schaffen. Das Kernstück ihres bisherigen Engagements entstand bei einer Zukunftskonferenz: die Gründung einer solidarisch organisierten Schneiderei. Die Idee wurde aus dem konkreten Wunsch geboren, der gebürtigen Polin und Schneidermeisterin Dorota Maravic ein sicheres Einkommen sowie einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland zu ermöglichen und gleichzeitig das immer seltener praktizierte alte Handwerk der Schneiderei zu bewahren. »Dorotas Handwerkskünste sind für Herzberg ein Geschenk«, erklärt Lena. »Wenn wir diesen Schatz nicht nutzen, sind wir selber daran schuld. Sie kann nicht nur Änderungen durchführen, sondern alles schneidern, was die Menschen so haben möchten: Kleider, Hosen, Hemden …« Auf der Suche nach einem passenden Organisationsmodell wurden die Herzberger auf die solidarische Landwirtschaft aufmerksam: »Ebenso wie Lebensmittel braucht der Mensch Kleidung. Wir haben uns gefragt, ob sich die Idee des Gemeinschaftsgetragenen nicht auch auf unsere Schneiderei übertragen ließe.« So wurde das »solidarische Handwerk Textil« geboren.
Eine gemeinschaftlich getragene Schneiderin Seit Januar 2017 arbeitet Dorota nun als selbständige Schneidermeisterin im »SolHaWe Textil«. Eine feste Gemeinschaft von 20 Menschen leistet am Anfang des Jahres einen an den Bedürfnissen der Schneidermeisterin orientierten Beitrag und kann im Gegenzug ein Jahr lang ein bestimmtes Kontingent ihrer textilen Handwerkskunst in Anspruch nehmen. Eine Preisliste gibt Auskunft über die unterschiedlichen Leistungen und dient den Mitgliedern des SolHaWe zugleich zur Orientierung, was sie sich im Rahmen ihres Kontingents von Dorota wünschen. Darunter fallen neben maßgeschneiderten Anfertigungen aus selbstgewählten Stoffen, dem Upcycling alter Stoffreste zu neuen Kleidungsstücken sowie der Aufwertung einfacher Kleidungsstücke auch Stoffberatung, die Stoffbespannung von Möbelstücken und private Nähstunden. So wurde aus dem zu großen Pullover aus dem Second-Hand-Laden das perfekt sitzende Lieblingsstück, aus dem alten Hochzeitskleid der Großmutter ein Hingucker der besonderen Art, aus bunten Einzelteilen ein einzigartiger Flickenrock, und selbst der Hund kam zu seinem maßgeschneiderten Overall. Derzeit machen die gemeinschaftsgetragenen Tätigkeiten etwa 60 Prozent von Dorotas Arbeit aus, 40 Prozent werden durch Laufkundschaft mit klassischen Änderungs- bzw. Reparaturwünschen ausgefüllt. Die Möglichkeit, mittels solidarischer Finanzierungsrunden individuelle Mitgliederbeiträge zu bestimmen, wobei einkommensstarke Menschen die finanziell weniger stark aufgestellten durch einen höheren Beitrag entlasten – wie in vielen solidarischen Landwirtschaftsbetrieben bereits üblich –, ist in Herzberg bis dato noch nicht realisiert, aber perspektivisch denkbar. Die neue Form des wirtschaftlichen Austauschs war für alle Beteiligten zunächst ungewöhnlich, doch schnell überzeugten die zahlreichen Vorzüge. »Wir fühlten uns bei der Vertragsunterzeichnung so, als ob wir an etwas Gutem und Neuem mitwirken würden, obwohl wir die weitere Entwicklung noch nicht voraussehen konnten – ein bisschen wie Pioniere, die Neuland beschreiten«, berichtet Lena.
Mehr als nur ein Tauschgeschäft Solidarisch organisierte Projekte können das in unserer Industriemoderne schwindende Bewusstsein darüber, was es bedeutet, für das Leben nützliche und essenzielle Erzeugnisse herzustellen, wieder stärken. Der unmittelbare Kontakt schafft mehr Wertschätzung, Nähe, Vertrauen und Verständnis zwischen allen Beteiligten. Lena meint, die Mitglieder der SolHaWe Textil legten großen Wert darauf, »eben nicht Kleidung aus Bangladesch zu tragen, die unter widrigen Bedingungen hergestellt und um die ganze Welt geflogen wurde«. Sie freuen sich über die Wiederverwendung und Aufwertung bestehender Textilien. In der Werkstatt entstehen Gespräche über Reparaturmöglichkeiten, den Bezug regionaler, ökologisch produzierter Stoffe und hilfreiche Pflegetipps zur Verbesserung der Langlebigkeit. Dorota nimmt auch schwierige Reparaturfälle an, setzt ausgefallene Wünsche um oder ermutigt die Beteiligten, selbst kreativ zu werden. Dabei werden der Zeitaufwand und die Materialkosten, die bei handwerklicher Schneiderei anfallen, für alle sichtbar. So wird nachvollziehbar, was die Schneiderei braucht: Ähnlich wie ein solidarischer Landwirtschaftsbetrieb schätzt Dorota die für das Jahr antizipierten Produktionskosten und kommuniziert sie an ihre Mitglieder. Dadurch kann sie unabhängig von Marktmechanismen, Preis- und Effizienzdruck planen und sicher wirtschaften. Statt auf Marketing und Optimierung zu fokussieren, findet sie Raum für Qualität, Kreativität und Beziehung. Mit strahlenden Augen berichtet Lena von der stolzen Oma, die die selbstgenähte Bluse ihrer Enkelin zu einer Gruppensitzung mitbringt und damit andere inspiriert, mit ihren Enkeln Ähnliches zu nähen, einem Freund ein T-Shirt zu entwerfen oder der Tochter einen Nähkurs zu schenken. Was den Aktiven darüber hinaus besonders am Herzen liegt, sind die Integration neuer Ankömmlinge sowie der Erhalt alter, traditioneller Handwerksfähigkeiten, die in den industrialisierten Ländern kaum noch weitergegeben werden. Deshalb gibt Dorota nun regelmäßig ihr Wissen an geflüchtete Frauen, die in ihren Herkunftsländern als Näherinnen gearbeitet haben und mittlerweile in Herzberg leben, weiter. Auch dabei entsteht ein Raum für Erfahrungsaustausch – und für die Frauen können sich Zukunftsperspektiven eröffnen. Das Konzept schafft somit nicht nur partizipative Strukturen, sondern entfaltet nebenbei eine integrative gemeinschaftsstärkende Wirkung.
CSX-Solidarunternehmen Das SolHaWe in Herzberg ist nicht die einzige Initiative, die sich gemeinschaftsgetraten organisiert. Das Prinzip der solidarischen Landwirtschaft bzw. der Community Supported Agriculture (CSA), das im deutschsprachigen Raum bereits auf weit über hundert Höfen angewandt wird, inspiriert inzwischen nicht nur im Handwerk, sondern in vielen verschiedenen Sektoren Initiativen zu Community Supported X (CSX). Die Bandbreite erstreckt sich von Bäckereien über Restaurants, Brauereien und offenen Werkstätten bis hin zu solidarischem Kaffeehandel. Das SolHaWe Textil hat sich durch die Wahl seines Namens bewusst die Möglichkeit offengelassen, neben dem textilen noch andere Handwerksbereiche gemeinschaftsgetragen zu organisieren. »Wenn wir einen anderen Bereich entdecken, dann ermöglicht uns dieser Name eine einfache Erweiterung; es könnte zum Beispiel eine ›SolHaWe Reparaturen‹ geben«, erklärt Lena. »Manche haben die Begabung, verschiedenste handwerkliche Reparaturen durchzuführen – so jemand könnte durch unser Modell ein Auskommen erhalten.« Die im Jahr 2013 in Berlin gegründete »Vagabund Brauerei« vertrieb ihre lokale Bierproduktion besonders in den Anfängen vornehmlich an einen Solidarkreis. Ein weiteres konkretes Beispiel ist das Pilotprojekt für Kaffeeimport »Teikei« (siehe Seite 70).
Hin zu einer Ökonomie der Nähe Könnte eine gemeinschaftsgetragene Ökonomie Schritt für Schritt einen Teil der globalisierten, langen und ressourcenintensiven Wertschöpfungsketten durch lokale Versorgungsstrukturen ersetzen? Aus wachstumskritischer Nachhaltigkeitsperspektive spricht alles dafür, Wertschöpfungsketten zu verkürzen, den Gemeinschaftssinn zu revitalisieren, Nähe zu schaffen, innerhalb planetarer Grenzen wirtschaftliche Resilienz zu erzeugen, »strukturschwache« Regionen zu stärken und wirtschaftliche Beziehungen persönlicher und lebendiger werden zu lassen. Als Postwachstumsökonom, dem in besonderer Weise das zukunftsfähige Wirtschaften im Lokalen am Herzen liegt, erfüllt mich die Vorstellung mit Freude, wie Wertschöpfung durch einen Verbund zahlreicher diverser Solidarunternehmen wieder Einzug im sozialen Miteinander eines Dorfs oder Stadtteils hält. Die Potenziale von Menschen, vor Ort nützliche Dinge herzustellen, könnten sich entfalten. Dadurch könnte schrittweise eine Ökonomie der Nähe entstehen – wirtschaftlicher Austausch wäre in den sozialen Kontext eingebettet. Im Zusammenspiel mit Energiegenossenschaften, Bürgeraktiengesellschaften, Ernährungsräten, Mietgärten, Regionalmärkten, Bioläden und vielem mehr könnte ein sich wechselseitig stabilisierender Wertschöpfungsraum aufblühen. Wie ließe sich ein solches Zusammenwirken zukunftsweisender Ansätze stabil und resilient gestalten? Bisher verbleiben viele in ihrer Nische, und es gelingt nicht immer, dass sie sich langfristig ökonomisch konsolidieren. Hinzu kommt, dass die Beteiligten häufig enorm viel Zeit und ehrenamtliche Arbeit einsetzen, um ihren persönlichen Idealen gerecht zu werden, und dabei ihre eigenen Ressourcen überstrapazieren. Ich meine, es sind immer die Menschen und nicht Modelle oder Konstrukte, die die Gesellschaft, das Wirtschaftssystem und damit auch jede solidarisch organisierte Wirtschaftsform zum Erfolg bringen oder scheitern lassen. Damit alternative Wirtschaftsformen gelingen, scheint es mir deshalb vor allem anderen wichtig, sich sozialen Prozessen zu widmen. Begrüßenswerterweise ist der Aufbau von Solidarunternehmen in den allermeisten Fällen ein Prozess, der alle Beteiligten in jeder Hinsicht bereichert, auch wenn er sie bisweilen aus ihrer Komfortzone lockt. Für Menschen, die es sich in westlichen »Bequemokratien« gemütlich gemacht haben, mag es ungewohnt und zunächst etwas unflexibel erscheinen, sich für einen Zeitraum von einem Jahr auf eine Hauptversorgungsquelle festzulegen und sich mit dieser kontinuierlich auseinanderzusetzen, anstatt spontan, unabhängig von anderen Umständen konsumieren zu können. Nur wenige sind bereit und geübt darin, Komfort, ständige Verfügbarkeit und ihre Anonymität aufzugeben. Eine gemeinschaftsgetragene Lokalökonomie kann nur funktionieren, wenn sich Menschen wieder öffnen und sich auf Beziehungen samt allen damit verbundenen Herausforderungen einlassen. Das erfordert Zeit, Geduld, Offenheit, Verantwortungsbereitschaft und Gemeinschaftssinn – Tugenden, die in einer beschleunigten Gesellschaft zunehmend verlorengehen und nun wieder neu erlernt werden müssen. Das ist anstrengend, aber es lohnt sich. Die Mitglieder des solidarischen Handwerks können das bestätigen.
Marius Rommel (29) ist Nachhaltigkeitsökonom am »ZOE. Institut für zukunftsfähige Ökonomien« und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt »nascent« der Uni Oldenburg. Mit Leidenschaft setzt er sich für die Wiedereinbettung ökonomischer Strukturen in den lokalen, sozialen Kontext ein. www.zoe-institut.de