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Utopien für Realisten (Buchbesprechung)

von Ute Scheub, erschienen in Ausgabe #48/2018
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Hat irgendjemand in der Runde schon mal davon gehört, dass die USA kurz vor der Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens standen? Ausgerechnet der republikanische US-Präsident Richard Nixon wollte 1969 jeder Familie ein Jahreseinkommen von 1600 Dollar garantieren, was heute etwa 10 000 Dollar entspräche. Es wäre eine kleine Revolution gewesen, denn damit hätten die USA wohl die ganze westliche Welt beeinflusst. Doch ein konservativer Berater brachte das Projekt intern zu Fall.
Hat irgendjemand in der Runde schon mal davon gehört, dass im US-Staat Utah und in den Niederlanden Obdachlose mit kostenlosen Wohnungen versorgt werden? Kostenlose Begleit- und Beratungsprogramme holten seit 2005 zahlreiche Wohnungslose aus der Armutsfalle, brachten sie zurück in Jobs und erwiesen sich am Ende sogar als billiger als die im »Normalbetrieb« anfallenden Kosten für Sozialdienste, Polizei und Justiz.
Diese erstaunlichen Beispiele sind dem Buch »Utopien für Realisten« von Rutger Bregman zu entnehmen. Der junge Niederländer hält ein furioses Plädoyer dafür, utopisch anmutende Ideen einzuführen.
Er rät zur weltweiten Einführung eines bedingungslosen Einkommens. Er propagiert, auch angesichts der kommenden digitalen Maschinenrevolution, die 15-Stunden-Woche. Und er möchte weltweit die Grenzen für Migranten und Einwanderinnen geöffnet sehen. Die meisten Menschen, sagt er, würden sowieso da bleiben, wo sie sich beheimatet fühlen. Aber Migration sei ein »wichtiges Werkzeug gegen die Armut« und komme für die westlichen Staaten am Ende sogar billiger, als immer neue Mauern und Grenzen zu ziehen.
Rutger Bregmans Buch beginnt mit der Behauptung, dass »früher alles schlechter« war: »Während etwa 99 Prozent der Menschheitsgeschichte waren 99 Prozent der Menschen arm, hungrig, schmutzig und krank.« Kapitalismus und Globalisierung, argumentiert er, hätten weltweit die Lebensbedingungen verbessert, Hunger und Krankheiten zurückgedrängt. Er belegt das mit vielen Zahlen und Statistiken. Diese berücksichtigen aber eines nicht: die pla- netaren Grenzen. Erderhitzung sowie hohe Umwelt- und Sozialkosten für Billignahrung kommen bei ihm schlicht nicht vor. Und noch eine grobe Vereinfachung: Er setzt Mangel an Geld mit Armut gleich. Auch Sub- sistenzwirtschaft existiert bei ihm nicht, genauso wenig wie indigene Gesellschaften, die ein gutes Leben jenseits von Tausch- und Geldlogik leben.
Ich muss gestehen, dass ich beim Lesen hin- und hergerissen war. Die aus meiner Sicht falschen Einstiegsbehauptungen des Autors stimmten mich sehr skeptisch. Auf der anderen Seiten fand ich den Schwung der Argumentation erfrischend und die zitierten Fallbeispiele sehr lesenswert.


Utopien für Realisten
Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. 

Rutger Bregman
Rowohlt, 2017, 303 Seiten
ISBN 978-3498006822
18,00 Euro

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