Wie aus einer Kirschenplantage ein essbares Paradies wird.
von Susanne Aigner, erschienen in Ausgabe #50/2018
Das hessische Witzenhausen ist für seine Kirschen und seine Universität für Ökologischen Landbau bekannt. Die Kirschen werden hier meist im Nebenerwerb kultiviert. Anfang April verwandelt die Kirschblüte das ganze Werratal in ein Blütenmeer, das viele Touristen anlockt. Zur Kesperkirmes wird eine Kirschkönigin gewählt, und zur Erntezeit im Juli werden überall die Früchte verkauft. Ein Kirschenparadies also, ganz im Einklang mit der Natur? Leider nein. Hinter der Fassade verbirgt sich eine intensive Bewirtschaftung mit viel Chemie. Viele Male im Jahr werden die Plantagen gegen Schädlingsbefall gespritzt. Das schadet nicht nur den Insekten, sondern auch der Gesundheit der in der Nähe lebenden Menschen. In Deutschland gab es früher etwa 500 Süßkirschensorten. Heute werden gerade mal eine Handvoll Sorten kultiviert, die den Richtlinien des Großhandels entsprechen. Geschmack spielt dabei kaum eine Rolle. Immer mehr große und alte Bäume werden abgeholzt, um den niederstämmigen Platz zu machen, weil diese leichter zu beernten sind. So wird eine über Jahrzehnte gewachsene Kulturlandschaft allmählich zerstört, und besonders wertvoller Lebensraum für Insekten verschwindet Baum für Baum. Wie lange noch wollen wir dabei untätig zusehen? Das fragten wir uns in einer Arbeitsgruppe von Transition Town Witzenhausen. Als im Oktober 2014 eineinhalb Hektar mittelhochstämmiger Kirschbäume über Nacht gerodet worden waren, gründeten wir das Aktionsbündnis »Kulturlandschaft erhalten«. Die Idee, eine Öko-Obstwiese mit Vorbildcharakter zu bewirtschaften, war geboren. Erst nach zwei Jahren fanden wir eine ein Hektar große Plantage, etwa vier Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, die zum Verkauf stand. Sie gehörte einem alteingesessenen Kirschbauern, der uns zu unserem Alternativkonzept gratulierte. Intensive kommerzielle Bewirtschaftung, wie er sie betrieben hatte, erklärte er, habe keine Zukunft. Um den Kaufvertrag abschließen zu können, gründeten wir den gemeinnützigen »Obstgarten e. V.«. Das schön gelegene Südhang-Gründstück mit niederstämmigen Kirschbäumen, einigen Apfel- und Pflaumenbäumen, eingerahmt von wuchernden Brombeeren, verfügt über ein erhebliches Potenzial für die Kultivierung verschiedenster Obst- und Nussbäume, Beerensträucher sowie Gemüse und Kräuter. Gleich in unserer ersten Gartensaison 2017 hatten wir aber Pech: Alle Blüten erfroren bei einem Kälteeinbruch im April. Doch davon ließen wir uns nicht entmutigen. Eine große Schafherde half dabei, das meterhohe Gras unter Kontrolle zu bringen. Mit dem Mäher des netten Nachbarn wurde nachgemäht, anschließend schnitten wir das wuchernde Brombeergestrüpp zurück. Seitdem wird die Wiese gelegentlich mit Schafen beweidet und einmal im Jahr gemäht.
Das Biotop stärken Wie sollte sich unsere Traumwiese nun in der Zukunft entwickeln? Alte Obstsorten, Erdbeerbeete, Wildschutzhecken – alle brachten Ideen ein. Ein Plan wurde erarbeitet, der Elemente aus der regenerativen Landwirtschaft enthält. Dabei wurde vor allem das »Keyline Design« angewendet. Bei diesem Planungswerkzeug geht es darum, Wege zu finden, das Wasser als wichtigsten »Nährstoff« möglichst effektiv zu verteilen und so lange wie möglich für das Pflanzenwachstum zu nutzen. Wesentlich dabei ist, sich bewusst zu machen, welche topografischen Formationen der Landschaft dazu am besten beitragen können, zum Beispiel um die Unterschiede zwischen feuchten und trockenen Bereichen auszugleichen. Seit wir nach diesem Plan auf unserer Wiese weitere Bäume pflanzen, entsteht ein sich harmonisch in die Landschaftstopografie einfügendes Muster von Baumreihen. Es erinnert an Höhenlinien auf einer Karte, entspricht diesen aber nicht. Die zur sogenannten Keyline parallel verlaufenden Baumreihen fallen leicht zu den Kuppen hin ab. Würde genau nach Höhenlinien gearbeitet, ergäbe sich ein ungleichmäßiges und unnötig kompliziertes Muster, das sehr umständlich zu bearbeiten wäre. Im Keyline-Design werden oft kleine Gräben angelegt, in denen Wasser, das bei Starkregen nicht vom Boden aufgenommen wird, entlang der Baumreihen zu trockenen Stellen auf dem Gelände fließt. Das wollen wir in Zukunft auch verwirklichen. Bis die Bäume so groß sind, dass man dieses Design vom Tal aus bewundern kann, wird es noch einige Jahre dauern. In einem trockenen Sommer wie dem vergangenen ist eine effektive Nutzung des Wassers entscheidend. Damit der Boden auf unserer Wiese in Zukunft wieder länger Wasser halten kann, orientieren wir uns am »Holistic Planned Grazing«. Bei diesem Beweidungssystem werden die Tiere immer nur kurz auf einem Bereich der Wiese gehalten, so dass ihre Ausscheidungen sowie das Wurzelwachstum der Gräser schnell zur Speicherung von Kohlenstoff im Boden beitragen.
Soziales Wachstum Bei einer heterogenen Gruppe wie der unseren bleiben Konflikte nicht aus. Einige von uns bringen sich mehr ein als andere oder schaffen auf eigene Kosten Baumaterial und Geräte an. So kann es schon vorkommen, dass sich die »Fleißigen« ausgenutzt und die weniger Aktiven in Fragen der Gestaltung übergangen fühlen. Zum Glück konnten wir sich anbahnende Konflikte bisher immer rechtzeitig lösen. So ist der Obstgarten nicht nur ein ökologisches Experimentierfeld, sondern auch ein soziales. Immer wieder beschäftigt uns das Thema Finanzierung. Geräte, Material und Pflanzgut müssen gekauft, Maschinen gemietet und instandgehalten werden. In diesem Jahr brachten uns die Kirschen dank einer Spitzenernte ein erstes kleineres Einkommen ein. Anfang Juni – vier Wochen früher als üblich – waren bereits die ersten Früchte reif. An zwei Selbstpflück-Tagen kamen etliche Gäste, die Kirschen gegen Spenden ernteten. Dazu gab es Kuchen und Getränke. Zusätzlich boten wir in der Fußgängerzone Kirschen gegen Spende an. Nebenbei entdeckten wir, das unsere Kirschen, die seit zwei Jahren nicht mehr gespritzt worden waren, keinerlei Maden enthielten. Dafür mag der letztjährige Kirschenausfall verantwortlich sein; vermutlich wurde dadurch der Zyklus der Schädlinge unterbrochen. Unbehandelte Kirschen ohne Schädlinge könne es gar nicht geben, hieß es in der Fachwelt immer. Die Ernte ging noch weiter, bereits Anfang August waren die ersten Reineclauden reif. Auch der Apfelbaum brach unter der Last seiner Äpfel fast zusammen. Inzwischen blicken wir auf zwei Jahre Obstwiese zurück. Zahlreiche Besucher sind über die Wiese gegangen. Sie ist ein Ort, an dem sich Menschen treffen, austauschen, gemeinsam arbeiten und feiern oder einfach nur am Lagerfeuer sitzen. Verschiedene Gruppen verweilen in unserem Obstgarten – neben einer Wildnispädagogikgruppe auch das Projekt »Grüner Falter«, das ihn als Basisstation für eine Wanderung zur Selbst- und Wertereflexion nutzte. Immer wieder kommen spontan Menschen vorbei, manche wollen dauerhaft mitmachen. Aus der ehemaligen Kirschplantage soll ein vielfältiges, essbares »Paradies« entstehen, mit dem wir unsere Obst-Selbstversorgung weiter ausbauen. Nicht in allen Punkten sind wir uns immer einig, in einem aber schon: Die Kirsche als kommerzielle Monokultur wollen wir nicht haben. Neben anderen Obstbaumarten darf sie aber gerne weiterhin einen Platz auf unserer vielfältigen Wiese einnehmen.
Susanne Aigner (47) studierte Ökolandbau und arbeitete auf Biohöfen im In- und Ausland. Sie lebt als freie Agrarjournalistin in Witzenhausen, wo sie in drei Gärten aktiv ist.
Hendrik Gaede (29) ist im Vorstand des Vereins »Obstgarten Witzenhausen e. V.«. Er arbeitet als Obstbaumpfleger und Berater für regenerative Landwirtschaft. hendrik.gaede@relawi.org
Interesse an Führungen durch den Garten? obstgarten@web.de