Permakultur

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Das »Familienhuhn« ist ein neuer Aspekt der solidarischen Landwirtschaft.von Malchus Kern, erschienen in Ausgabe #50/2018
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© Malchus Kern

Im ersten Gang radle ich den Hang hinauf, Kurve um Kurve. Zehn Minuten Fahrradstrecke von der Ravensburger Innenstadt entfernt treffe ich mich mit Siegbert Gerster. Auf dem Hofgut Hinterstrauben, eingebettet ins hügelig-sattgrüne Auf und Ab der oberschwäbischen Landschaft, findet artgerechte Hühnerhaltung auf besondere Art statt. Idyllischer hätte Siegbert Gerster den Empfang kaum gestalten können. Hier oben erinnert nur ein fernes Rauschen an die nahegelegene Bundesstraße. Mein Weg führt mich zunächst an urigen Schottischen Hochlandrindern vorbei. An der nächste Kurve dann das Hofgut: freilaufende Hühner, der Zaun liegt auf dem Boden. Doch Siegbert Gerster erklärt mir als erstes, dass auch hier nicht die völlige »Hühner-Anarchie« herrsche. Gerade heute ist er dabei, die Tiere umzuziehen. Diese ­leben im Hühnermobil und bekommen alle ein bis zwei Wochen eine neue Weide mit frischem Gras. Nur während des Umzugs dürfen sie auch mal ganz ohne Zaun umherlaufen.
Genau genommen ist Gerster nur der Ziehpapa der Tiere. »Seine« Hühner sind tatsächlich »Familienhühner«: Jede der 87 Legehennen hat einen Paten bzw. eine Patin. Dieser oder diese verpflichtet sich für ein Jahr und bezahlt monatlich 13,04 Euro für Futter, Pflege, Informationen – und natürlich für die Eier. Zwischen 0 und 22 Eier gibt es pro Monat. Die genaue Zahl hängt davon ab, wie legelustig die Tiere sind; sie ergibt sich aus der ­Gesamtzahl der Eier der Herde – denn natürlich bekommen die Paten nicht genau die Eier »ihres« Huhns.
»Unser Familienhuhn« ist kein gemeinnütziger Verein oder die Idee eines romantischen Weltverbesserers. Es ist ein wirtschaftlich arbeitendes Projekt, das versucht, die teils unbekannten, oft gut verborgenen Hintergründe unserer Lebensmittelproduktion darzustellen. Denn auch wenn wir gerne die Augen davor verschließen, so kennen wir doch alle die Bilder aus Ställen, in denen Hühner wie übereinandergestapelt leben: gekürzte Schnäbel, ein nacktes »Federkleid«; daneben Masthähne, die sich aufgrund ihres Gewichts kaum mehr bewegen können.
Wir hoffen, dass in der ökologischen Tierhaltung alles viel besser ist – aber wissen können wir es in der Regel nicht. Bei Richtwerten von maximal 3000 Legehennen pro Stall sollte mensch sich auch hier nichts vormachen: artgerechte Haltung sieht anders aus. Ein schockierender Film mit dem Titel »Auf der Suche nach dem glücklichen Huhn« war für Siegbert Gerster Anstoß, sich mit dem Thema zu beschäftigen – und führte dazu, dass er selbst Landwirt wurde. Ihn motivierte das Bewusstsein, dass die nicht-artgerechte Haltung keinesfalls das einzige ist, was in der Hühnerhaltung falsch läuft.
Eigentlich ist Gerster Kaufmann. Selbst auf einem Milchviehbetrieb aufgewachsen, hätte er sich nie vorstellen können, später Landwirt zu werden. 19 Jahre lang arbeitete er im selben Unternehmen, zunächst im Telefonverkauf; am Ende war er als stellvertretender Betriebsleiter für vielfältige Aufgaben zuständig. Mit der Zeit reizten ihn neue Aufgaben, und auch die Frage, was er in der Welt hinterlassen würde, beschäftigte ihn zunehmend. Er suchte Neuland mit Sinn. Doch was tun mit 45 Jahren? Nach all der Zeit die Firma verlassen, die bislang Sinn und Sicherheit gegeben hatte? Gersters Bauchgefühl obsiegte, und so stieg er im Jahr 2016 aus, ohne zunächst einen konkreten Plan B zu haben. Das schaffte Platz für neue Erfahrungen und Begegnungen.
Bereits zwei Jahre zuvor hatte sich Siegbert Gerster der Soli­darischen Landwirtschaft Bad Waldsee angeschlossen. Dort erlebte er, dass SoLaWi chaotisch sein kann – aber auch, dass Menschen, die eine Idee und ein Ziel teilen, gemeinsam arbeiten und ihre persönlichen Meinungen zurückstecken können. Obwohl es zunächst wenig Gemüse gab, hielten die meisten Mitglieder dem Hof engagiert die Treue. In den Jahren 2015/16 hatte er als Teil des Vorstands Gelegenheit, sich vertieft mit dem SoLaWi-Konzept auseinanderzusetzen; er absolvierte einen Basiskurs.
Als Siegbert Gerster vor 14 Jahren auf den mittlerweile brachliegenden Hof seiner Kindheit – das Hofgut Hinterstrauben – gezogen war, hatte er mit der Hobby-Tierhaltung begonnen. Er hielt unter anderem Gänse, Schweine und Hühner. Nachdem er mit der Solidarischen Landwirtschaft in Berührung gekommen war, überlegte er, wie seine Flächen um das Hofgut mit dieser Idee zusammenpassen könnten. Die sich im Umkreis bildenden SoLaWi-Initiativen wollten Gemüse anbauen, aber keine Tiere halten. Wie so oft im Leben führte das eine zum anderen, bis Siegbert Gerster im Februar 2017 eine Solidarische Landwirtschaft mit Tieren gründete. Anfangs hatte er angenommen, dass er nach über zehn Jahren Hobby-Hühnerhaltung wisse, was diese Tiere brauchen – doch gibt es bei der professionellen Haltung noch weitere Dinge zu beachten. Die Lernkurve war in den vergangenen zwei Jahren steil für alle am Projekt Beteiligten. So kamen und kommen auch im Umgang mit den Hühnerpaten immer wieder spannende Diskussionen auf. Siegbert Gerster möchte nämlich nicht nur möglichst glückliche Hühner halten, sondern zugleich auf die vielfältigen Problematiken in der Landwirtschaft aufmerksam machen. Kaum jemand weiß beispielsweise, dass Legehennen in der Regeln nur eine »Saison« lang gehalten werden; mit abnehmender Legeleistung wird eine Henne unrentabel. Doch da es beim Familienhuhn nicht nur um die Eierproduktion geht, dürfen die Hühnerpaten entscheiden, was nach der Saison mit »ihren« Hühnern geschehen soll. Sollen Sie noch ein weiteres Jahr leben und Eier legen? Sollen sie an private Hühnerhalterinnen abgegeben werden? Oder sollen sie im Kochtopf landen? Solche Fragen sorgen für rege Diskussionen.

Keine Hühner ohne Hähne
Besonders ist bei Gersters Familienhuhn auch, dass die sogenannten Bruderhähne aufgezogen werden, denn bei der Vermehrung von Legehennen schlüpfen natürlich ebensoviele männliche Küken. Diese sind bei den professionell üblichen Lege-Rassen für die Mast ungeeignet, da Hühner auf die Legeleistung gezüchtet werden und nicht darauf, dass sie Fleisch ansetzen. Die Familienhühner hingegen sind Teil eines Züchtungsprojekts der gemeinnützigen Ökotierzucht GmbH. Das Ziel ist das »Zweinutzungshuhn«, welches nicht ganz so spezialisiert, dafür aber sowohl für die Eierproduktion als auch für die Hähnchenmast geeignet ist. Die Bruderhähne wachsen in einem Partnerbetrieb auf. Um die höheren Kosten der Aufzucht zu decken, verpflichten sich alle Patinnen und Paten von Familienhühnern, jährlich ­Gockelprodukte der Bruderhähne im Wert von 35 Euro abzunehmen. Ein nachhaltiges Ei ist also nichts für Vegetarier.
Gersters Hühner bekommen nur Futter aus biologischer Erzeugung und – wenn möglich – aus der Region. Offiziell hat er kein Bio-Siegel, doch seine Kunden können sich vor Ort von seiner Arbeitsweise überzeugen. Seiner Meinung nach sollten sich Verbraucherinnen nicht nur auf Siegel verlassen, sondern auf nachvollziehbare Qualität. Dazu gehört die Beziehung zum Erzeuger­hof – und auch ein Preis, der tatsächlich die Kosten deckt. Dass ein Bio-Ei für 24 Cent nicht von einem artgerecht gehaltenen Huhn stammen kann – insbesondere wenn auch Groß- und Einzelhandel mitverdienen –, machen sich viele Verbraucher nicht klar. Natürlich werden bei Siegbert Gerster keine Schnäbel kupiert; frisches Wasser gibt es im Stall wie auch draußen, die Hühner können scharren, sandbaden und haben Versteckmöglichkeiten unter Sträuchern sowie im alten Spielhaus von Gersters Tochter. Drei stolze Hähne passen auf die Hennen auf, denn die Freilandhaltung birgt auch Gefahren, etwa durch Raubvögel.
Nach anfänglichem Zögern fanden sich immer mehr Patin­nen und Paten. Mittlerweile gibt es eine Warteliste, und der Bau eines zweiten Hühnermobils istin geplant. Inter­esse regt sich auch andernorts; in Bad Waldsee und in Wangen bereitet Gerster in Zusammenarbeit mit anderen Landwirten weitere Hühnergemeinschaften vor. Er sieht die »Solidarische Hühnergemeinschaft« als gute Möglichkeit für Betriebe, um neue Geschäftszweige zu entwickeln, zu experimentieren und engere Kontakte mit Kunden zu knüpfen.
Gerster ist ein beständiger und bodenständiger Mensch, doch die Abwechslung reizt ihn noch immer. Er träumt davon, das SoLaWi-Modell auch mit Produkten wie Milch und Fleisch zu etablieren; außerdem möchte er ökologisch hergestellte Hühner­mobile vertreiben. Augenzwinkernd erzählt er mir, dass seine ­Familienhühner auch Fotos machen und E-Mails schreiben können. Einmal pro Monat würden sie einen Lagebericht direkt aus dem Stall verschicken. Gerster leistet grundlegende Aufklärungsarbeit. Die Menschen kaufen mit der Patenschaft auch ein Stück seiner Zeit. Im Grunde genommen, sagt er, wird er viel eher dafür bezahlt als für Hühnereier.


Malchus Kern (28) beschloss mit elf Jahren, sich ohne Schule zu bilden. Heute ist er als Unternehmer im Groß- und Einzelhandel sowie als Berater für Bio-Landwirte und den Bio-Handel tätig.

Kontakt zum Familienhuhn
www.unser-familienhuhn.de

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