Der Blick aus der Zukunft zurück auf eine geglückte Landwende erlaubt uns ein Resümee dieser Ausgabe sowie den Ausblick auf die nächste.von Oya – Redaktion, erschienen in Ausgabe #50/2018
»Die Menschen des 21. Jahrhunderts waren in der Lage, eine Internationale Raumstation zu betreiben, aber sie fanden keinen Weg, auf sinnvolle Weise Nahrung wachsen zu lassen. Ihre Landwirtschaft – insbesondere auf der Nordhalbkugel – basierte zur Hauptsache auf dem Anbau von Getreide, Soja und Mais, wovon wegen eines extrem hohen Fleischkonsums ein erheblicher Teil an Tiere verfüttert wurde. Mit schwerer Technik und unter Einsatz von Giften wurde auf gewaltigen Ackerflächen jeweils nur eine einzige Feldfrucht angebaut. Deshalb wurden aus den Feldern in weniger als hundert Jahren unfruchtbare Wüsten.« Dieser Text könnte aus einem noch zu schreibenden Buch zur Geschichte der Landwirtschaft aus dem Jahr 2150 stammen – nennen wir es »Geschichte der Landwende«. Wir wollen sie aus der Futur-Zwei-Perspektive (»Was werden wir getan haben wollen?«) vorwegnehmen. Wann aber wäre der Wendepunkt gekommen? War es möglicherweise der trockene Sommer 2018? In welchem Szenario gäbe es eine Chance auf einen Wandel hin zu einem enkeltauglichen Umgang mit Land und Lebensmitteln? Viele Varianten stehen offen.
Den Fortschritt in Frage stellen Das erste Kapitel in der »Geschichte der Landwende« lässt sich schon heute verfassen. Es würde unseren Ururenkelinnen und -enkeln erklären, dass um die zweite Jahrtausendwende Böden weltweit 30- bis 40-mal schneller erodierten, als sie sich regenerieren konnten; dass zwischen 1980 und 2010 die Population an Brutvogelpärchen in Deutschland um durchschnittlich 60 Prozent abgenommen hatte, die der Feldlerche gar um bis zu 90 Prozent; und so weiter und so fort. Wir wagen es, hier das zweite Kapitel vorwegzunehmen. Es widmet sich den Forscherinnen und Forschern, die bereits früh die Erzählung vom segensreichen Fortschritt durch die Erfindung der Landwirtschaft in Frage stellten. Vielleicht würde es mit der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen »kalten und heißen Gesellschaften« beginnen, die Claude Lévi-Strauss, der Begründer der modernen Anthropologie, in den 1960er Jahren geprägt hat. Kalte Gesellschaften passen ihre Lebensweisen ihrer gegebenen Mitwelt an, heiße hingegen streben nach ständiger Innovation und Veränderung und versuchen dabei, ihre Umwelt ihren Bedürfnissen anzupassen. Landwirtschaft ist demnach ein kochend heißes Phänomen. Dann würde wohl der durch Lévi-Strauss inspirierte Anthropologe Marshall Sahlins zitiert werden, der 1968 einen vielbeachteten Aufsatz veröffentlichte, in dem er Jäger-und-Sammler-Gesellschaften als »ursprüngliche Wohlstandsgesellschaften« bezeichnete, um mit dem Vorurteil aufzuräumen, die »neolithische Revolution« habe die Menschheit endlich vom »ständigen Zwang zur Nahrungsbeschaffung« befreit. Das sei »bürgerlicher Ethnozentrismus«, argumentierte Sahlins, denn sich Nahrung aus der unkultivierten Umgebung zu holen, beanspruche nur wenige Stunden am Tag, was Zeit ließe für Aktivitäten wie das »Singen und Ersinnen von Liedern, Musizieren, Sticken ausgefeilter Perlenmuster, Geschichtenerzählen, Spielen, Besuchen anderer Gruppen oder Herumliegen und Ausruhen«. Etwa ein halbes Jahrhundert später, so könnten die Autorinnen der »Geschichte der Landwende« berichten, war Sahlins mit seiner Argumentation immerhin kein Exot mehr. Es galt als gesichertes Wissen, dass die Erfindung der Landwirtschaft die Menschen nicht gesünder gemacht hatte; sie waren kleinwüchsiger geworden, ihre Skelette zeigen Spuren harter Arbeit, ihre Lebenserwartung war deutlich gesunken. Der Psychologe Peter Gray etwa bezieht sich in seinem Buch »Befreit Lernen« aus dem Jahr 2015, in dem er die Geschichte des Spielens untersucht, auf Sahlins. Er führt aus, dass »Jäger und Sammler nicht zwischen Arbeit und Spiel unterschieden, so wie wir es tun. […] Die Vorstellung von Arbeit als etwas Mühevollem war ihnen unbekannt.« Das änderte sich in Ackerbaukulturen entscheidend: »Landwirtschaftlicher Erfolg verlangte nach langen Stunden eintöniger Arbeit, die relativ wenig Geschick erforderte und vielfach von Kindern erledigt werden konnte«, erklärt Gray. »In den nunmehr größer gewordenen Familien mussten Kinder auf dem Feld arbeiten. Statt frei ihren eigenen Interessen nachzugehen, mussten sie nun zunehmend mehr Zeit mit Arbeit im Dienst der Familie verbringen. Die Landwirtschaft schuf auch die Voraussetzungen, die zur Entstehung von Privateigentum und Klassenunterschieden sowie zum Zusammenbruch jener Gleichheit zwischen den Individuen führte, die Jäger-und-Sammler-Gesellschaften kennzeichnet. Da Jäger und Sammler immer umherziehen mussten, um den vorhandenen Beutetieren und essbaren Pflanzen zu folgen, hatte der Besitz eines Stücks Land oder materieller Güter, die über das hinausgingen, was man tragen konnte, keinen wirtschaftlichen Wert. Im Gegensatz dazu mussten bäuerliche Familien Ansprüche auf ihr Land erheben und diese verteidigen. […] Auf diese Weise beförderte die Landwirtschaft Werte, die unter Jägern und Sammlern noch negativ besetzt gewesen waren: Mühsal, Kinderarbeit, Privateigentum, Habgier, Status und Wettbewerb.« Der Vorteil einer landwirtschaftlichen Lebensweise, pro Quadratkilometer mehr Menschen ernähren zu können – nämlich etwa 100 statt nur einen –, war also bitter erkauft. Sie führte zu einem nie zuvor gekannten und bis heute anhaltenden Anstieg der Weltbevölkerung – »aber kann man wirklich behaupten, dass die demografische Entwicklung der Menschheit einen Fortschritt darstellt?«, wendete Lévi-Strauss ein.
Diktaturen verlangten Massenpflanzenhaltung In der »Geschichte der Landwende« würde sicherlich das Buch »Dreck. Warum unsere Zivilisation den Boden unter den Füßen verliert« von David R. Montgomery eine wichtige Rolle spielen. Der Geologe schreibt: »Die Geschichte vieler Kulturen folgt im Wesentlichen einem gemeinsamen Drehbuch. Zu Beginn konnte eine wachsende Bevölkerung durch die alleinige Bewirtschaftung fruchtbarer Talsohlen ernährt werden. Ab einem bestimmten Punkt war man jedoch gezwungen, auch hängiges Gelände zu bewirtschaften. Sobald der Boden durch Beseitigung der Vegetation und fortwährende Bearbeitung brach lag und damit Regen und Abfluss ausgesetzt war, erfolgte ein – geologisch gesehen – äußerst rascher Abtrag der Hänge. In den darauffolgenden Jahrhunderten setzten dann Nährstoffverarmung oder Bodenerosion infolge immer intensiverer Bewirtschaftung die lokale Bevölkerung unter Druck, da Ernteerträge sanken und kein Neuland mehr verfügbar war. Schließlich führte Bodendegradation dazu, dass die wachsende Bevölkerung nicht mehr mittels Ackerbau ernährt werden konnte, wodurch ganze Kulturen gewissermaßen von vornherein zum Untergang verurteilt waren.« Montgomery legt anhand vieler Beispiele dar, wie sich Ackerbaukulturen weltweit den Boden unter den Füßen weggepflügt haben. Ist also jegliche Form von Ackerbau schädlich, nicht nur die moderne Agrarindustrie? Nein, hier lohnt sich ein differenzierter Blick, würden die Autorinnen der »Geschichte der Landwende« argumentieren und zeigen, dass schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts einige des Pudels Kern verstanden hatten. Sie könnten auf das 2004 erschienene Buch des betagten US-amerikanischen Anthropologen James C. Scott verweisen: »Against the Grain. A Deep History of the Earliest States« (nicht ins Deutsche übersetzt). Der Autor fragt darin, warum die frühen Kulturen um 3000 vor unserer Zeitrechnung, die im Mittelmeerraum die ersten großen Städte errichtet haben, ausgerechnet Getreide zum Grundnahrungsmittel erkoren hatten. Getreide beansprucht den Boden stark, ist krankheitsanfällig und macht im Anbau wie in der Verarbeitung viel Mühe. Obendrein sind Getreidebrei oder Brot weder sonderlich gesund noch verträglich. Getreide war aber wie geschaffen für Steuereintreiber, zeigt James Scott. Da es, anders als zum Beispiel die ebenfalls dauerhaft lagerbaren Hülsenfrüchte, nur einmal im Jahr geerntet wird, konnten sich die Mächtigen ein genaues Bild über den Jahresertrag verschaffen und ihren Anteil fordern. Sie brauchten es als Lohn für die Bauarbeiter, die in den frühen Städten wie Uruk Prunkbauten errichten mussten. Staaten, die auf Getreide basierten, entstanden dort, wo Menschen wegen ungünstiger klimatischer Entwicklungen Mangel litten und Feldbau mit Bewässerunggssystemen betrieben, analysiert Scott. Das erforderte einen hohen Organisationsaufwand und begünstigte damit das Entstehen von Machtstrukturen. Die Mächtigen diktierten schließlich, was auf den Feldern zu passieren hatte, und machten Bäuerinnen und Bauern zu Untertanen. Freiwillig hätten diese die Plackerei des Kornanbauens im großen Stil wohl nicht auf sich genommen. Aber, und das ist der springende Punkt, eine große Getreide-Stadt wie Uruk mit 50 000 Einwohnern entstand nicht zeitgleich mit der Erfindung gärtnerischer und landwirtschaftlicher Techniken, sondern erst 4000 Jahre später. In diesem enormen Zeitraum – doppelt so lange wie die Epoche seit dem Beginn unserer Zeitrechnung – hatte Getreide nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Meist wurden aus Körnerbrei vor allem berauschende Getränke hergestellt! Dass die Menschheit lernte, Pflanzen zu kultivieren, hatte nicht zur Folge, dass von einem Tag auf den anderen Siedlungen zwischen Getreidefeldern entstanden. Über Jahrtausende hinweg kombinierten die Menschen gelegentliches Jagen und Sammeln mit Viehzucht und dem Anlegen von Gärten, in denen hier und dort auch mal ein Streifen Einkorn oder Emmer wuchs, erklärt James Scott. Sie seien weitgehend gesund, satt und selbstbestimmt gewesen – eine Inspiration für enkeltaugliche Lebensweisen?
Widerstand und aufbauende Praxis Nach diesem historischen Exkurs könnte sich das nächste Kapitel in der »Geschichte der Landwende« dem Widerstand gegen die Auswüchse der Agrarindustrie in der Zivilgesellschaft widmen – als Zeichen dafür, dass die Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts erkannten, wie sehr ein Fortschreiben des Gesellschaftsmodells von Uruk die Welt über Jahrtausende hinweg gequält hatte. In dem Kapitel über jene Landstriche, die seinerzeit Deutschland genannt wurden, wäre vermutlich von den jährlichen Demonstrationen »Wir haben es satt!« die Rede und von Kampagnen wie »Save our Seeds«, »Ackergifte? Nein danke!«, »Aktion Agrar« und vielen weiteren. Daran würde ein praxisorientiertes Kapitel anschließen, in dem die »Bewegung mit den vielen Namen«, von der Janina Fago in dieser Ausgabe schreibt (siehe Seite 24), oder das Prinzip »Agricare« von Ute Scheub (Seite 49) ebenso vorkommen wie die von dem Permakultur-Designer Stefan Schwarzer organisierten Symposien zu »aufbauender Landwirtschaft«. All dies würde als Beginn einer Netzwerkarbeit zwischen Pionierinnen und Pionieren, die die neolithische Revolution doch noch zu einem guten Ende bringen wollten, gewürdigt werden. Damals, so würde in diesem Kapitel zu lesen sein, begannen die Menschen weltweit den Anbau von einjährigen Feldfrüchten auf großen Flächen – genannt Reinkultur – in Frage zu stellen. Sie fanden in der Geschichte und ihrer Gegenwart positive Beispiele für ganz andere Wege, die Ernährung dicht besiedelter Landstriche zu ermöglichen: Mehr Büsche und Bäume auf den Flächen der heutigen Agrarwüsten, mehr Gärten, Weiden und Wälder – und dazwischen auch das eine oder andere Kornfeld, aber das wäre etwas Besonderes. Den Menschen wurde bewusst, dass sich nicht nur die gesamte Kulturlandschaft, sondern auch die Lebens- und Wirtschaftsweise wurzeltief verändern müsste. Angesichts der Ernährungsgewohnheiten von inzwischen Milliarden Menschen mit urbanisierten Lebensstilen und der Macht der Lebensmittelindustrie war eine solche Entwicklung jedoch zunächst völlig illusorisch erschienen …
Eine enkeltaugliche Zukunft vorauslieben Hier muss die Geschichte abbrechen, denn wir sind in der Gegenwart angekommen. Das, was in dem künftigen Buch im Jahr 2150 über den weiteren Verlauf der Landwende zu lesen sein wird, können wir nur schwerlich vorausahnen. Für die Oya-Redaktion ist aber klar: Wir wollen das Buch weiterschreiben, und zwar schon in der folgenden Ausgabe. Die Frage nach einem enkeltauglichen Umgang mit Land hat menschheitsgeschichtliche Dimensionen – es geht um nichts Geringeres als um das Beenden der kriegerischen Phase der neolitischen Revolution. Der Bauer Sepp Braun drückt es auf Seite 24 mit diesen Worten aus: »Endlich komme ich weg von diesem Kampf …« Es gibt Praktikerinnen und Praktiker, die sich ernsthaft mit einem Wandel der Kulturlandschaft hin zu einem nahrhaften Garten beschäftigen – einige haben zum Beispiel im Rahmen der »Agroforstkampagne« zusammengefunden, und sie schreiben bereits an Artikeln für die kommende Ausgabe. Es gibt solidarische Landwirtschaftsprojekte, die sich Schritt für Schritt in Waldgärten verwandeln oder sich aufs Anpflanzen von Hecken spezialisiert haben. Diese Projekte haben eines gemeinsam: Sie verlassen die bisherigen Schemata des Landbaus, die Tierhaltung, Ackerbau, Gärtnerei und Forstwirtschaft fein säuberlich trennen, und schaffen lebendige Systeme, in denen Artenvielfalt, Wildnis und kultiviertes Land keine Gegensätze sind. Können sie so etwas wie einen Garten Eden schaffen? In der nächsten Ausgabe wollen wir konkrete Praxisbeispiele zeigen und uns auch damit auseinandersetzen, wo diese in der heutigen politischen und wirtschaftlichen Realität an Grenzen stoßen. Aber wir wollen auch über eine enkeltaugliche Kulturlandschaft der Zukunft träumen und Szenarien visionieren, die, gemessen am Bestehenden, noch völlig unrealistisch erscheinen – denn Markus Noppenberger hat recht, wenn er auf Seite 37 sagt: »Alles geht mit den Gedanken los!« Was wäre, wenn im Sommer die Städte halbleer wären, weil die Menschen auf dem Land um kleine und große Sommerküchen herum Ernte-Festivals feierten? Sie würden vielleicht Tomaten und grüne Bohnen ernten und einkochen, Sauerkraut einstampfen, Nüsse und Äpfel pflücken, Öl und Saft pressen, Komposthaufen anlegen, Schafe hüten, Musik machen, tanzen, grillen und sich Geschichten erzählen. Den Winter über könnten sie sich in der Stadt, versorgt mit reichhaltiger Ernte, kreativen, handwerklichen und gemeinschaftlichen Aufgaben widmen. Die wilde, essbare Kulturlandschaft wäre nicht menschenleer wie heute, sondern voller Kinder und Erwachsener, die wieder spielend lernten und aus dem Leben keine Mühe und Plage machten, sondern stattdessen einen dynamischen, spannungsvollen Tanz zwischen Lebewesen, die sich gegenseitig nährten, vollführten. Mehr wollen wir nicht vorwegnehmen, sondern lediglich ankündigen, dass unsere Auseinandersetzung mit enkeltauglichen Formen der Landbestellung hier kein Ende nimmt, sondern in der kommenden Ausgabe unter dem gegenwärtigen Arbeitstitel »Verwilderung« in eine neue Runde geht. Wir freuen uns über Zuspruch, Hinweise und konstruktive Kritik fürs Dezember-Heft.