Ein Dorf am Rhein streitet über das richtige Ökosystem.
von Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #51/2018
Der Grasfrosch springt vor meinem Schuh weg. Ich versuche, ihn zu fangen. Es ist kalt Ende Oktober, so ist er ist nicht mehr schnell, ich schnappe ihn und freue mich über seine Glitschigkeit und schöne Gestalt. Er will gar nicht mehr herunter von meiner Hand – genießt er ihre Wärme, die die Oktobersonne nicht mehr geben kann? Wir stehen gemeinsam im Rheinwald beim Dörfchen Weisweil am Oberrhein. Links neben uns liegt ein See unter Bäumen, ein toter Altrheinarm, ein Stück Fluss, das ein Standgewässer wurde, abgeschnitten vom Wasserzustrom des mächtigen Rheins, der heute einen Kilometer weiter in einem verschalten Bett reißend fließt, eingedämmt von sieben Meter hohen Erdwällen. Auf unserer Seite Deutschland, gegenüber Frankreich. In dem frisch aufgeforsteten Waldstück stehen kleine Eichen, Ulmen und Linden – für einen Menschen hüfthoch – in weißen Röhrchen, um sie vor Rehzähnen und Gehörn zu schützen. Über 20 000 neue Bäumchen wurden hier in den letzten Jahren gepflanzt, erklärt Günter Vetter, mein Vater. Hier ist sein Jagdrevier. Das Forstamt hat an der kleinen Brücke, die über das Wasser führt, eine Infotafel zum Eschentriebsterben aufgestellt. Alle Eschen und Pappeln – typische Auwaldbäume – werden deshalb gefällt, Holzeinschlag im großen Stil. Der ganze Wald ist voller neugepflanzter Bäumchen. »Die können nicht wochenlang komplett unter Wasser stehen«, sagt mein Vater bestimmt. Er engagiert sich in der Bürgerinitiative »Polder Wyhl/Weisweil so nitt«. »So nitt« ist alemannisch und heißt »so nicht« – gemeint sind die »ökologischen Flutungen«, die vom Regierungspräsidium Freiburg geplant werden. Seit 20 Jahren wird darüber nachgedacht, am Oberrhein »Hochwasserschutzmaßnahmen« zu ergreifen, zur Entlastung der Menschen weiter unten in Köln, Bonn und anderswo im Fall einer Flut. Dafür würde der begradigte Rhein freigelassen, »kontrolliert« versteht sich, um hier den Rheinwald zu überschwemmen. Der Wald, in dem wir stehen, mein Vater, der Frosch und ich, ist nur eines von mehreren solcher Gebiete. Das Regierungspräsidium will »ökologische Flutungen«, die Bürgerinitiative die »ökologische Schlutenlösung«. Interessant, denke ich, die Flutungen sind doch menschengemacht, also »künstlich«. Schluten sind hingegen heute verlandete ehemalige Althreinarme, in denen das Wasser zwischen den »Gießen«, den heute noch wasserführenden Althreinarmen, fließen könnte. Sie müssten dafür ausgebaggert werden – gibt es eine Grenze zwischen »natürlich« und »künstlich«? Das Regierungspräsidium will diese Schluten nicht, sondern die ökologischen Flutungen, die bei hohem Wasserstand den Wald jährlich bis zu 20 Tage stellenweise bis zu drei Meter tief unter Wasser setzen würden, sowie an bis zu 57 Tagen etwa einen halben Meter tief. An diesen 20 Tagen wären die Waldwege nicht begehbar, dafür sollen »zusätzliche Naherholungsmöglichkeiten« geschaffen werden. »Hochwassertolerante Ökosysteme für auenähnliche Tier- und Pflanzengemeinschaften« sollen entstehen. Ob die neu gepflanzten, kleinen Eichen, Ulmen und Linden Teil davon werden könnten, ist unklar. Was bedeutet es für den Grasfrosch, ob die Flutung »ökologisch« ist? Was heißt es für die Fuchsjungen in ihrer Höhle, wenn die Wassermassen kommen? Sie sind kein Teil eines hochwassertoleranten Ökosystems. Darum geht es ja, sagt das Präsidium, damit dann im Fall eines großen Hochwassers keine Füchse mehr sterben und hier wieder Auwald entstehen kann wie vor 200 Jahren. Regelmäßige Flutungen oder eine Katastrophe alle zehn Jahre, statistisch gesehen? Auf welcher Grundlage sollen wir entscheiden, wann der Tod eintreten soll? Hier, auf diesen paar Quadratkilometern Rheinwald, zwischen dem neuen Damm von 1963 und dem alten der ersten Rheinbegradigung aus dem 19. Jahrhundert, lässt es sich fühlen, das Anthropozän. Alles an dieser Landschaft ist vom Menschen verändert, und doch lebt es darin auch ganz unabhängig von uns – die Frösche, die Dachse, die Morcheln, die Gelbbauchunken, die Eisvögel, das indische Springkraut, die Wildschweine, die Haselnussbüsche und viele andere. Am Ufer des Altrheinarms sehe ich einen Nutria, einen amerikanischen Sumpfbiber. Seine Vorfahren konnten im letzten großen Menschenkrieg in Mitteleuropa aus Pelztierfarmen fliehen. Dieser Krieg hinterließ tiefe Mulden im Wald. »Hier haben wir als Kinder gespielt«, sagt mein Vater. Der Rhein ist ein Grenzfluss. Hier verläuft die menschengemachte Grenze zwischen Deutschland und Frankreich. Vor dem Krieg gab es eine Brücke über den Rhein. Heute gibt es nur das Wasserkraftwerk der französischen Stromgesellschaft EDF auf halber Strecke über den Fluss. Das Regierungspräsidium schreibt in einer Broschüre: »Sowohl für die Ökologischen Flutungen als auch für die Ökologische Schlutenlösung darf Wasser nur dann aus dem Rhein entnommen werden, wenn der Rhein mehr Wasser führt, als es den Wasserkraftwerken zusteht. Das entspricht einem Rheinabfluss von mehr als 1 550 m3/s vor Ort.« Vor dem EDF-Werk schwimmen auf dem eingezwängten Fluss Scharen von Schwänen und Kormoranen. Der Fluss ist ein Nutzfluss: für Wasserwerke und Chemiefabriken, tief genug für Frachtschiffe. In den 1970er Jahren sollte hier ein Atomkraftwerk entstehen. Nein, sagten die Menschen. So lange und so vehement protestierten sie, besetzten den Bauplatz im Wald bei Wyhl, bis die Pläne eingestellt wurden. Jetzt sagen sie nein zur ökologischen Flutung. Was haben die Menschen in Weisweil wohl gesagt, als der Rhein Mitte des 19. Jahrhunderts begradigt wurde? Überliefert ist nur, dass sie sich über trockenere Keller und die Ausrottung der Malaria freuten. Davor mäanderte der Fluss Tausende von Jahren viele Kilometer weit nach Ost und West durch den Auwald, jedes Jahr in neuen Bahnen, das Dorf immer in Gefahr, überschwemmt zu werden. Für Fischerboote und kleine Lastkähne war er befahrbar, im Rheinwald stand für die Kähne die Weisweiler Zollstation. Die ersten Landvermesser im 18. Jahrhundert konnten hier keine eindeutigen Gemarkungsgrenzen ziehen, »nicht festlegungsfähig«, wie die Ortschronik Weisweil vermerkt. Der Rheinwald bestand hier aus vielen kleinen Inseln, sie waren alle Allmendeland. 1821 wurden mitten auf ihnen Pappeln und Weiden gepflanzt, um die Staatsgrenze nach Frankreich festzulegen. In den 1860ern wurde der Fluss begradigt und der alte Damm gebaut, der das Dorf vor Hochwasser schützt. Im Wald hinter dem Dorf, vom Rhein abgewandt, ist der Boden trockener. Dort hat mein Großvater, als er Förster war, Mitte des 20. Jahrhunderts, Esskastanienbäume gepflanzt. Meine Großmutter buk einen wunderbaren Maronenkuchen. Jetzt ist ihr Backofen kaputt und sie ist über 90 Jahre alt. »Ich will keinen neuen mehr«, sagt sie schlicht. Alles hat seine Zeit. Als ich ein junges Mädchen war und sie besuchte, haben wir Kastanien gepellt – eine Herbstarbeit, langwierig und schön. Mein Großvater lebte damals nicht mehr, aber die Bäume im Wald, sie trugen reichlich Früchte, und sie tragen sie noch heute. Warum müssen die Menschen in Köln und anderswo am Rhein so nah am Wasser wohnen? Müssen überhaupt Menschen in riesigen Städten wie Köln wohnen? Mit dem Zug aus dem Süden wieder in den Norden unterwegs, fahre ich in Sichtweite des Rheins. Die Zugstrecke von Mainz nach Bonn liegt direkt am Fluss. Er führt wenig Wasser – es sind kleine Inseln aus Kies entstanden, auf denen Menschen spazieren. An den steilen Hängen wächst auf Terrassen Wein. Wer hat diese Terrassen wohl errichtet? Seit wie vielen tausend Jahren, von wie vielen Generationen wurden sie gepflegt? Wem bieten sie Lebensraum? Die Menschen, die vor urdenklichen Zeiten den Berg terrassierten, konnten nicht ahnen, dass wegen ihrer Siedlung, die sie direkt unten am Fluss anlegten, einmal Menschen viele hundert Kilometer weiter südlich über die Art des Rheinwalds streiten würden. Gab es vor der Rheinbegradigung überhaupt Hochwasser, dass die Städtchen am Mittelrhein gefährden konnte? »Werden wir in Zukunft hier überhaupt noch Hochwasser haben?«, fragte mein Vater im Wald. »Durch die Erdüberhitzung fällt immer weniger Schnee in den Alpen, der Schmelzwasser in den Rhein bringt.« »Doch, durch Starkregen«, entgegnete ich, »der wird häufiger«. Ich dachte, ich sähe im Wald einen Grasfrosch. Aber dann sah ich die Wunden des Kriegs, die neuen, kleinen Eichen, die nicht unter Wasser leben können. Ich denke an die Auenlandschaft vor der Begradigung, als Weisweil noch ein Fischerdorf war und hier Lachse gefangen wurden. Ich fühle die Wucht des Anthropozäns, denn die Menschen haben es in der Hand, was aus diesem Grasfrosch wird, und können es dennoch nicht überschauen. Wir tappen im Nebel, wir treffen eine Entscheidung, und wir treffen sie für Tausende von Leuten da draußen – Ameisenleute, Froschleute, Eisvogelleute, Fischleute, Fuchsleute, Menschenleute. Wir Menschen sind nicht die einzigen Leute, die ihren Lebensraum verändern, aber wir sind die einzigen, die es vor sich selbst rechtfertigen müssen. Ich gehe zu meinem Vater nach Hause und unterschreibe die Liste der Bürgerinitiative. Für meinen Vater. Und weil ich das Beste für die Grasfroschleute, die Wildkatzenleute und alle meine Verwandten, drinnen und draußen, hier und in Zukunft erhoffe.