Titelthema

Der Transformator von nebenan

Beim Gespräch mit dem Wirtschaftsanwalt Frank Geiser aus ihrer Nachbarschaft gewann Ute Scheub überraschende Erkenntnisse.von Ute Scheub, Frank Geiser, erschienen in Ausgabe #52/2019
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Kennengelernt habe ich Frank Geiser als freundlichen Nachbarn, begabten Musiker und Hobbykoch, der im Rahmen eines »Lebendigen Adventskalenders« die Tür seines Reihenhauses in Berlin-Zehlendorf für die Nachbarschaft öffnete. Zur Freude von Kindern und Erwachsenen begleitete er Weihnachtslieder am Klavier und schenkte leckere Suppen aus. Im Alltag ist er ein international vernetzter Wirtschaftsanwalt in Berlin. »Im Rahmen seiner Sanierungs- und Manage­menttätigkeit übernimmt er interimsweise Geschäftsführungs-, Vorstands- und Aufsichtsratspositionen in nationalen und internationalen, privaten sowie börsennotierten Konzernen«, steht auf seiner Homepage. Als Anhängerin einer ökosozialen Gemeinwohlökonomie bin ich kein Fan von Großunternehmen. Ich wollte trotzdem mehr wissen und bat den vielbeschäftigten Wirtschaftsanwalt um ein Interview. Er sagte sofort zu. Und im Verlauf des Gesprächs stellte ich staunend fest, dass wir in vielerlei Hinsicht einer Meinung waren, obwohl wir aus verschiedenen Welten kommen.
Wir sind in seiner Kanzlei in der Nähe des Kudamms verabredet, dem Berliner Standort der »Sozietät GrothmannGeiser«. Eine noble ­Gegend. Intarsien schmücken das edle Treppenhaus, in den Fluren der Kanzlei hängt moderne Kunst, im Hintergrund läuft leise ­Musik. Der Anwalt – große, blaue Augen im offenen Gesicht – lacht mir entgegen. An seinem Jackett trägt er eine Margerite. Auch sein Arbeitszimmer ist voller Bilder, darunter das großformatige Foto eines jungen Mädchens.


[Ute Scheub]  Wer ist das?
[Frank Geiser]  Meine 20-jährige Tochter. Ich sage ihr gerne: Die Menschen können nur glücklich werden im Leben. Mehr geht nicht. Das kann mit Geld zu tun haben, muss es aber nicht.

Oya hat nicht viel mit Geld zu tun. Diese Zeitschrift funktioniert wie solidarische Landwirtschaft. Kennen Sie das Prinzip?
Ja. Wir vertreten auch landwirtschaftliche Projekte. Zum Beispiel einen Demeter-Verein, der seelisch Kranke in die Landwirtschaft integriert. Ich kenne das Landleben aus eigener Anschauung. Ich komme aus einem Dorf in der Nähe von Maastricht.

Sie waren oder sind Niederländer?
Ja, ursprünglich; jetzt bin ich eingebürgerter Deutscher. Meine Familie bestand aus Viehhändlern, Müllern, Bäckern und Metzgern. Wenn die Schule aus war, pflügte ich nachmittags mit dem Traktor, um mein Taschengeld aufzubessern. Ich liebe Wald und Tiere und stecke gerne die Händen in den Boden.

Und so einer wird Wirtschaftsanwalt?
Ich habe gleichzeitig eine starke unternehmerische Prägung mitbekommen. Dort waren viele Kleinbetriebe. Es gab auch Anwälte in der Familie, einer beschäftigte sich mit Insolvenzrecht. Deshalb hatte ich nie Berührungsängste mit Unternehmen.

Wann, wo und was haben Sie studiert?
Das war in den 1980er Jahren. In Gießen waren es Jura und ­Betriebswirtschaft, in Berlin Jura, in Bordeaux Weinbau!

In Berlin nur auf dem Kreuzberg möglich …
… und in Köln, Frankfurt und Speyer lernte ich Verwaltungsrecht. Zuerst hatte ich eine verwaltungsrechtliche Prägung, dann geriet ich durch Zufall in den Wirtschaftsbereich und beschäftigte mich mit dem Delisting – dem Rückzug börsennotierter Unternehmen von öffentlichen Handelsplätzen. Gegenwärtig kümmere ich mich darum, Unternehmen zu gründen, zu kaufen und zu verkaufen, durch die Insolvenz zu begleiten. Ich berate auch Nachbarschaftsvereine und Großverbände. Meine großen Kunden sind nur zum Teil in Berlin ansässig, viele sitzen im Ausland, zum Beispiel ein Softwarekonzern in Kanada. Die Hälfte meines Arbeitslebens bestreite ich auf Englisch. In Frankfurt/Oder habe ich eine gescheiterte Halbleiterfabrik in eine funktionierende Solarmodulfabrik überführen und dabei mehrere hundert Arbeitsplätze retten können.

Am Tag des »Lebendigen Adventskalenders« erzählten Sie, Sie hätten es sich auch vorstellen können, Musiker zu werden.
Ja, es gibt auch einen Familienzweig, der sich für Musik und Kunst interessierte. Mein Vater war in unserer Gegend als Maler bekannt, für die »Kreisklasse« reichte es. Ein Onkel war Kirchenmusiker. Ich selbst spiele Kirchenorgel, Klavier und Akkordeon. Früher habe ich viel in Messen gespielt, etwa bei der Frühmesse auf dem Dorf oder in meiner Klosterschule. Wir treffen uns heute noch mit dem damaligen Pfarrer in der alten Gemeinde. Er trat damals recht revolutionär auf, mit Jeans und Rollkragenpulli, und fuhr einen rostigen Golf mit einem Schild hintendrauf: »Überholen Sie mich ruhig, ich beerdige Sie persönlich.« Dieser Pfarrer machte mir die Kirche nahbar. Später wurde er wegen seiner Progressivität nach Afrika »strafversetzt« und baute in Burundi eine Station auf.

Sind Sie gläubig?
Ja. Ich erlebte eine katholische Kirche für alle, verbindend und integrierend. Unser Dorf war ähnlich unorthodox wie der Pfarrer: Der Papst lehnte Empfängnisverhütung und Abtreibung ab, aber wir nahmen das nicht so ernst. Man konnte ja alles beichten.

Sie hatten die Qual der Wahl zwischen Musiker und Anwalt?
Oder Fahrzeugtester oder Archäologe, der Pyramiden ausgräbt. Aber nach meiner Bundeswehrzeit entschied ich mich für Jura. Mich fasziniert, wie man Regeln entwirft, die ein gedeihliches Zusammenleben fördern. Deshalb habe ich mich später auch in Osteuropa engagiert und zum Beispiel die Republik Moldau auf einem Weg zu stärkerer Demokratisierung begleitet. Die Krimkrise machte das aber zunichte. In Deutschland beklage ich im Moment eine Überregulierung, eine Flut von Gesetzen und Regelungen. Niemand hat mehr einen Blick für die Rechtsbefähigung der Menschen, die komplett überfordert sind. Dabei ist es für mich ein Anliegen, Regeltreue zu fördern. Das ist auch in einer multikulturellen Gesellschaft wichtig. Wie will ich mit zu vielen ­Regeln in ein gedeihliches Miteinander kommen? Wir brauchen Augenmaß für die Eigenverantwortung.

Mir gefällt die dezentralisierte Schweizer Demokratie. Wenn man Menschen vor Ort Selbst- und Mitbestimmung erlaubt, braucht man national viel weniger Regeln.
Ja, das gefällt mir auch, genauso wie die konsensgeprägte Demokratie in Schweden und den Niederlanden. Menschen werden dort nicht so schnell abgehängt. In Deutschland aber ist die gesellschaftliche Schere in den letzten 30 Jahren immer stärker aufgegangen. Und international haben wir jetzt die Trumps, Erdoğans und Putins – die Menschheit scheint doch wieder dem Irrsinn zu verfallen.

Viele Menschen in Ostdeutschland haben das Gefühl von ­andauernder Fremdbestimmung. Ihnen wurden die westdeutschen Gesetze übergestülpt, einschließlich Grundgesetz, ohne dass sie eine Chance zur Mitbestimmung hatten.
Das konnte ich aus nächster Nähe miterleben. Ich war mit dem Sohn des Botschafters der Bundesrepublik in der DDR befreundet und konnte den Runden Tisch miterleben. Dort wurde eine neue gesamtdeutsche Verfassung geschrieben, die aber von der Bundesregierung verworfen wurde. Damit hätten wir ganz andere Schwerpunkte setzen können! Im Zug der Wieder­vereinigung wechselte ich vom Lehrstuhl an der FU Berlin zur Treuhandanstalt und habe dort bei der Privatisierung des Unternehmens­bereichs 5 mitgewirkt: Hotels und Gästehäuser, Kinos, Stadtbäckereien, Binnenfischereien und kleinere Fahrzeughersteller der DDR. Für diese Unternehmen brach nach dem Mauerfall der osteuropäische Markt zusammen. Lkw fanden keine Abnehmer mehr, weil die Leute Westwaren haben wollten. Aber in manchen Bereichen konnte ich schönes Neues entstehen lassen.

Was denn?
Im Rahmen von »Management Buy-out« konnten die Beschäftigten manche Betriebe erfolgreich übernehmen. Aber ich habe in dieser Zeit gelernt: Das Rechtswesen ist rein virtuell und kann sich von einem Tag auf den anderen völlig auflösen. Ich habe zeitweise in Neubrandenburg westdeutsches Recht unterrichtet. Ostdeutsche Juristen legten ihre Bücher auf den Tisch: »Die brauchen wir nicht mehr.« Verstörend! Menschen wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Dennoch bin ich froh und glücklich, dass die Wiedervereinigung ohne Blutvergießen geschah!

Jetzt beraten Sie Großkonzerne …
Als Dörfler war ich immer neugierig auf die Welt. Ich wollte immer wissen: Wie machen es andere Menschen? Jetzt betreue ich Großunternehmen aus verschiedenen Branchen: Software, ­Autos, Transportwesen, Energiewirtschaft, Windkraft, Solaranlagen, ­Lebensmittel, Industrieverbände, Sozialverbände. Berlin ist hier ja seit etlichen Jahren der Dreh- und Angelpunkt.

Damit haben Sie keine moralischen Bauchschmerzen?
Ich bin ein glühender Verfechter der erneuerbaren Energien. Wir könnten schon heute unseren Energiebedarf ohne Kohle und Atom decken. Die Gesamtkosten werden nicht richtig gerechnet, die Umweltschäden werden nicht eingerechnet. Es war ein großer Fehler, dass die staatliche Förderung der Erneuerbaren zu früh reduziert wurde. Das hat in Deutschland 60 000 Arbeitsplätze vernichtet.

Wieso zählen 20 000 Kohle-Jobs eigentlich mehr als 60 000 im Bereich der Erneuerbaren?
Das ist einfach zu beantworten: Weil die Kohle-Lobby traditionell stark mit den Entscheidungsträgern verbunden ist. Aber dahinter steckt auch, dass Menschen nicht durchgängig nachhaltig und vernünftig denken.

Macht Ihnen der mögliche ökologische Kollaps Sorgen?
Ja. Die nächsten drei oder vier Generationen werden mit einer spürbar veränderten Umwelt zu tun haben. Wir hatten früher eine gute Art der Landwirtschaft – wieso müssen wir das jetzt nochmal wiedererfinden? Aber was Ernährung anbelangt, haben wir als Verbraucher vieles selbst in der Hand. Wenn wir Billigfleisch nicht mehr kaufen, bleiben die Hersteller auf ihrem Müll sitzen.

Haben Sie Mandanten in diesem Bereich?
Ja. Einer betreibt eine eigene Tierhaltung und Schlachtung, aber nur mit 300 Tieren pro Tag, nicht mit 30 000. In unserem Dorf kannten wir noch fast jedes Tier persönlich; es hatte Platz und Auslauf. Die jetzige Entwicklung finde ich verstörend.

Geraten Sie manchmal in moralische Konflikte mit Ihren Mandanten?
Nein, denn ich suche sie mir aus. Schon als Student nahm ich mir vor: Ich vertrete nur Personen, die nett sind, mit interessanten Fällen, die angemessenes Geld einbringen. Das stellt sicher, dass ich hinter meinen Mandaten stehen kann. Tierquäler vertrete ich nicht. Übrigens beobachte ich auch in anderen Bereichen, etwa bei großen Getreidemühlen oder Zuckerherstellern, dass sie wegkommen von der Massenproduktion. Südzucker nimmt jetzt ­gerade Kapazitäten aus dem Markt.

Was halten Sie vom Vorwurf der »Verspargelung der Landschaft« durch Windparks?
Da habe ich zwei Seelen in meiner Brust. Ich unterstütze die Windenergie, wo ich kann, aber ich finde auch, dass Landschaften erhalten werden müssen. Ich sehe die Zukunft zum Beispiel in Kleinwindanlagen auf Hausdächern – oder in versiegelten Flächen, die Solarstrom produzieren. Das Philipshaus in Berlin hat eine Fassade aus Solarmodulen und produziert mehr Energie, als es verbraucht.

Unser Nachbarschaftsverein plant die »klimafreundliche Papageiensiedlung«, die bis 2030 CO2-frei werden soll. Wie sähen unsere denkmalgeschützten Häuser dann aus?
Sie sind dann energieautark. Auf jedes Dach gehört eine Solaranlage. Im Keller steht statt einer normalen Heizung eine Speicherbatterie. Noch ist eine herkömmliche Hausheizung mit rund 10 000 Euro billiger. Speicherbatterien kosten zwei- oder dreimal so viel, sind aber dennoch die richtige Investition in eine bessere Zukunft.

Sind erneuerbare Energien die Lösung für alles?
Natürlich nicht. Ich bin da noch nicht zu Ende mit meinen ­Gedanken. Machen wir Afrika kaputt, indem wir dort die dafür nötigen seltenen Erden fördern lassen? Ich finde es übrigens schade, dass die Energieversorgung privatisiert wurde und nicht zur staatlichen Grundversorgung gehört. Jetzt wird vieles, was in den 1980ern privatisiert wurde, etwa Wasser oder Wohnungs­gesellschaften, für viel Geld wieder rekommunalisiert. Aber ­offenbar gibt es in der Wirtschaft immer Wechselbewegungen. Aus kleinen Einheiten werden riesige, die dann wieder zerschlagen werden. Staatsbetriebe werden privatisiert und vice versa. Das ist nicht sehr vernünftig, es wird viel Geld verbrannt. Aber Menschen scheinen das zu brauchen, um in Bewegung zu bleiben.

Wie wird die Wirtschaft 2030 aussehen?
Ich denke, es wird genügend Jobs für alle geben. Ich wünsche mir auch wieder mehr analoge Wirtschaft: eine gute Landwirtschaft, viel Handwerk. Die Internetwirtschaft ist so flüchtig. Und es ist doch bedrohlich, dass die Finanzwirtschaft an einem einzigen Tag so viel umsetzt wie die Realwirtschaft in einem ganzen Jahr. Das führt auch zu Bankenkrisen. Ich setze auf das Handwerk, weil wir alle ja analog leben und nicht digital.

Das sagen Sie mal den Jugendlichen vor ihren Handys …
Im Umfeld meiner Tochter erlebe ich den neuen Trend, sich gegen soziale Medien aufzulehnen. Wir haben damals für alles Mögliche demonstriert, heutige 16-Jährige demonstrieren für den Kohleausstieg.

Sie haben auch Mandanten aus der Finanzwirtschaft …
Ja, aber auch die suche ich mir aus. Es gibt auch andere Akteure, etwa die GLS-Bank. Wenn ich Mandate habe, hinter denen ich nicht stehe, kriege ich schlechte Laune. Und das erspare ich mir. Ich bin sehr dankbar dafür, dass wir heute in Frieden leben können, Bildung genießen durften, genug zu essen haben.

Gutes Schlusswort. Danke für das Gespräch!


Beschwingt verließ ich die Kanzlei. Für mich war dieses Gespräch eine echte Überraschung. Mir fiel eine Studie ein, wonach nur fünf bis zehn Prozent aller Menschen von der Notwendigkeit einer Transformation überzeugt sein müssen, um diese in Gang zu bringen – vorausgesetzt, sie befinden sich auf allen Ebenen und auch in Schlüsselpositionen der Gesellschaft. Es scheint mir, dass Frank Geiser zu diesen »Transformatoren« gehört.

 

Ute Scheub (63) ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Mitbegründerin der taz. Als freie Autorin befasst sie sich vor allem mit Wegen in eine enkeltaugliche Landwirtschaft.

Frank Geiser (52) stammt aus Holland und ist seit 1996 als Wirtschaftsanwalt tätig. In seiner Berliner Kanzlei berät er nationale und internationale Unternehmen und Finanzdienstleister. Er spielt ­Orgel, Klavier und Akkordeon und liebt die erneuerbaren Energien.

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