Über Widersprüche zwischen Form und Anliegen des Anti-Adultismus.
von Emil Funkenflieger, erschienen in Ausgabe #52/2019
Das Wort »Adultismus« begegnet mir in letzter Zeit immer häufiger. Seit dem Artikel »Weil du jünger bist als ich« von Helen Britt (Oya 45, »Nach Hause kommen«) wird es auch im Oya-Umfeld diskutiert. Es bezeichnet innere Haltungen oder äußere Strukturen, durch die Menschen aufgrund ihres jungen Alters diskriminiert werden. »Das kannst du noch gar nicht verstehen, dafür bist du noch zu jung« oder »Kinder muss man manchmal zu ihrem Glück zwingen« sind typische Beispiele für adultistische Aussagen. Wer eine Zeitlang seinen Blick dafür schärft, wird eine Vielzahl von kleinen, unscheinbaren und doch überall wirksamen Gewohnheiten und Strukturen entdecken, die eine ungerechte Behandlung junger Menschen ausdrücken und zugleich reproduzieren. Dass ein solches neues Wort auftaucht, schafft die Möglichkeit, diese Form der Diskriminierung schnell und treffend zu bezeichnen und stärker ins Bewusstsein zu rücken. Doch wo beginnt das Phänomen Adultismus, wo hört es auf? Kann der Begriff helfen, diskriminierende Behandlung zu stoppen? Birgt er auch die Gefahr, das Kind mit dem Bad auszuschütten? Es ist mir ein Anliegen, auf einige Gefahren und Missverständnisse, zu denen das Wort und die Perspektive verleiten können, hinzuweisen, denn leicht wird die wertvolle Haltung, aus der dieser Begriff entstanden ist, bei einer unzulänglichen Vereinfachung vergessen und schließlich völlig verkehrt! Eine typische Aussage, die mir im Kontext von Adultismus-Kritik schon öfter begegnet ist, lautet, dass Alter und Erfahrungsreichtum nicht zusammenhängen würden. Auch aus dem erwähnten Artikel in Ausgabe 45 lässt sich dies herauslesen, wenn kritisiert wird, dass mit Erwachsenen »Reife« assoziiert wird. Mich verwundert diese Vereinfachung. Selbstverständlich kann es sein, dass jüngere Menschen in einem bestimmten Bereich mehr Erfahrungen haben als ältere. Generalisiert bedeutet diese Aussage jedoch, dass eine wesentliche Qualität älterer Menschen, nämlich ihr Erfahrungsreichtum, missachtet wird. Im Anti-Adultismus drückt sich meiner Beobachtung nach oftmals eine Ansicht aus, die sich gegen die begriffliche Einteilung in »Kinder« und »Erwachsene« richtet, weil diese den jeweiligen Menschen in ihrer Individualität nicht gerecht würde. Daraus wird gefolgert, dass Jüngere und Ältere nicht grundsätzlich verschieden seien und dass jede Kategorisierung und Einsortierung aufgrund des Alters falsch und diskriminierend sei. Sicherlich ist etwas Wahres daran, dass diese Begriffe »konstruiert« sind, dass sie zumindest teilweise willkürlich sind und viele der Attribute und Nuancen, die in ihnen mitschwingen, nicht passen. Warum etwa sollten Erwachsene nicht spielen oder weinen? Warum glauben wir, dass Kinder »kindisch« sind? Ich halte es für wichtig, solche einengenden Vorstellungen aufzuspüren, wahrzunehmen und Veränderung zu ermöglichen. Doch es genügt nicht, bei dieser Dekonstruktion stehenzubleiben und zu behaupten, Kinder und Erwachsene seien gleich. Denn es hat auch etwas zu sagen, dass Maria Montessori ihr ganzes Leben der Aufgabe gewidmet hat, zu zeigen, dass Kinder anders sind als Erwachsene und worin diese Andersartigkeit besteht. Sie spricht zum Beispiel davon, dass der Lernprozess von Kindern grundsätzlich viel leichter durch den Versuch einer Belehrung gestört wird als der von Erwachsenen, weil es bei Kindern viel öfter um basale Themen geht, die selbst erfahren werden müssen und nicht durch Worte vermittelt werden können. Erwachsene bauen hingegen auf viel mehr Erfahrungen auf, so dass sie auch abstrakte und von anderen übermittelte Erfahrungen fruchtbar in ihren Lernprozess einbinden können. Auch wenn Maria Montessoris Erkenntnis im Einzelfall nicht zutreffen mag, empfinde ich sie als eine hilfreiche Leitlinie, die dazu beitragen kann, einen stimmigen Umgang mit Kindern zu finden.
Überforderung statt Augenhöhe Die Sehnsucht, die Kategorien »Kind« und »Erwachsener« aufzulösen, liegt sicherlich darin begründet, Kindern endlich ihre Gleichwertigkeit zuzugestehen. Das wiederum verleitet dazu, die Unterschiede zwischen Menschen verschiedenen Alters zu leugnen. Je mehr uns die gewohnheitsmäßige Diskriminierung von Kindern auffällt, desto mehr sehnen wir uns nach Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit. Hier entsteht nun ein Problem, denn wir sind aufgrund unserer gesellschaftlichen Prägung daran gewöhnt, den Wert eines Menschen an seinen Fähigkeiten zu messen. In dieser Perspektive kollidiert unser Wunsch nach Gleichwertigkeit mit der Tatsache, dass Kinder in bestimmten Bereichen über weniger Fähigkeiten verfügen. So kommt es, dass wir aus Angst, Kindern ihren Wert abzusprechen, ihnen Fähigkeiten zusprechen, die sie nicht haben. Bedauerlicherweise wird in solchen Fällen von Kindern verlangt, Entscheidungen zu treffen, für die sie keine Erfahrungsgrundlage haben, was sie überfordert und dazu zwingt, sich wie kleine Erwachsene zu verhalten. So kann die anti-adultistische Perspektive bewirken, dass in dem Versuch, die Kindheit der Kinder zu schützen, ihnen diese zunehmend genommen wird. Anti-Adultismus darf jedoch nicht dazu führen, dass Kindern notwendige Unterstützung versagt wird. Aus der Einsicht, dass es ungerecht und unnötig ist, Kindern in der Schule vorzugeben, was sie zu lernen haben, sollte nicht folgen, dass wir sie nicht mehr unterstützen, wenn es darum geht, gemeinschaftlich herauszufinden, was wichtige Inhalte und Fähigkeiten für ein glückliches Leben sein könnten. Zweifelsfrei verfügen Kinder oftmals über weitaus mehr Fähigkeiten, als weithin angenommen wird. So berichten viele Eltern, die ihre Kinder windelfrei aufwachsen lassen, dass schon sehr kleine Menschen kommunizieren können, wann sie aufs Klo müssen. An demokratischen Schulen lassen sich zahlreiche Beispiele dafür beobachten, dass auch schon junge Kinder sehr wohl in der Lage sind, vernünftige und weitsichtige Entscheidungen zu fällen. Auch möchte ich jene Fähigkeiten nicht verkennen, die tatsächlich vor allem Kinder haben und die wir beim Erwachsenwerden vielleicht notwendigerweise verlieren – zum Beispiel die, unvoreingenommen an Dinge heranzugehen.
Gleichwürdigkeit statt Gleichmacherei Gerechtigkeit besteht meiner Überzeugung nach darin, Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu werden. Viele Denkerinnen und Denker haben schon darauf hingewiesen, dass die Gleichheit der Menschen nicht in der realen Gleichheit ihres Seins besteht, sondern in der Gleichwichtigkeit ihrer Bedürfnisse und Willensimpulse. Die Tatsache, dass Kinder in vielen Bereichen grundsätzlich weniger dazu in der Lage sind, ihre Bedürfnisse selbst zu erfüllen, braucht kein Grund zu sein, sie zu bevormunden. Wir können anerkennen, dass sie in vielen Fällen besondere Unterstützung brauchen, ohne sie in irgendeiner Weise abzuwerten. Je genauer wir die Ungleichheit und Unterschiede zwischen jungen und alten Menschen verstehen, desto besser können wir dazu beitragen, dass beider Bedürfnisse und Willensimpulse als gleich wichtig betrachtet werden. Es gilt also nicht nur, falsche Vorstellungen und Kategorisierungen zu verwerfen, sondern auch neue, stimmige aufzubauen. Ich kann die Sehnsucht nach spontanen, echten und authentischen Begegnungen und den daraus resultierenden Wunsch, all die erlernten Kategorisierungen, die einen echten Kontakt zu dem einzigartigen Menschen vor mir verhindern, endlich weglassen zu können, gut verstehen. Dazu gehört aber vor allem das Anerkennen von Unterschiedlichkeit. Eine heile Welt, in der alle gleich sind, halte ich für eine Illusion. Leiden und Verletzungen gehören zum Leben. Wenn wir uns darauf einlassen, entsteht nicht nur eine Lebens-, sondern auch eine Leidenskunst. Deren Ausbildung scheint mir ein viel lebensdienlicherer Weg zu sein als die Bekämpfung jeglicher Form von Schmerz, Tod und Leiden.
Jenseits von Feindbildern Paradoxerweise scheint die prinzipielle Ablehnung von Kategorien oftmals dazu zu führen, dass neue, völlig unzulänglich vereinfachende entstehen. Aus Ablehnung des Feindbilds »unerzogenes Kind« wird schnell das Feindbild »adultistischer Erwachsener«. Die Schuld wandert nur eine Ebene weiter, und wenn der Schuldige feststeht, brauche ich mich selbst nicht mehr zu ändern. Letztlich bleibt eine derartige Schuldzuschreibung in einem Denken verhaftet, in dem es leicht identifizierbare Täter und Opfer gibt. Es wird gehofft, das Problem sei aus der Welt, sobald der Schuldige gefunden ist. Ich selbst sollte mich also fragen, ob ich womöglich den Anti-Adultismus zu einem vereinfachten Feindbild konstruiere, dem ich die Schuld an einer zu kurz gedachten Adultismuskritik zuschiebe. Damit würde sich die Katze in den eigenen Schwanz beißen. Ich verstehe, dass ich unter Verwendung des alten Denkens dasselbe nicht verlassen kann – ein Sprung ins Neue muss geschehen! Beim Versuch, überkommene Strukturen zu überwinden, bleiben wir oft in der Art und Weise, wie wir uns darum bemühen, im Alten verhaftet. So kann es passieren, dass auch der Anti-Adultismus in der Form noch enthält, was er seinem Inhalt nach zu überwinden trachtet. Ich frage mich also: Wie kann ich in meinen Veröffentlichungen Schuldzuschreibungen entkommen? Ist es möglich, dass dieser Text nicht Ausdruck einer Antwort, sondern Ausdruck einer Suche ist? Das Wort »Adultismus« kann genutzt werden, um klar und kraftvoll die gewohnheitsmäßigen menschenunwürdigen Umgangsweisen mit jungen Menschen zu erkennen und anzuprangern. Doch kann es zu einem Totschlagwort verkommen, das Gespräche beendet und Menschen trennt. Dabei erscheint es mir wichtig, dass mit dem Erkennen der nicht mehr passenden Umgangsweisen eine gemeinschaftliche Suche nach einem sinnhaften Miteinander beginnt. Auf diese Suche können wir uns in zwei verschiedene Richtungen begeben. Sie kann sowohl über die Wut zum Mut als auch über die Trauer zur Demut führen. Erst wenn Mut und Demut zusammenkommen, kann die Suche heilsam sein. Wie die ersten Schritte dazu aussehen können, möchte ich hier an kurzen Beispielen skizzieren. Beginnen wir mit der ersten Richtung. Ich spreche zunächst als junger Mensch: »Ich möchte, dass meine Bedürfnisse und Wünsche ernstgenommen und gehört werden, selbst wenn ich sie noch nicht so gut ausdrücken kann und noch nicht so viel Erfahrung damit habe, wie sie sich umsetzen lassen. Ich möchte, dass achtsam und vorsichtig mit diesen zarten und zerbrechlichen Pflänzchen umgegangen wird, die meine Wünsche, Träume und Sehnsüchte sind. Ich glaube nicht, dass irgendjemand besser weiß als ich, was gut für mich ist. Ich habe es satt, dass über meine Zeit, meine Zukunft, wann ich wo mit wem bin, was ich zu lernen habe und was mich zu interessieren hat, entschieden wird!« Vielleicht reagieren viele auf Rat von erfahrenen Menschen deshalb so allergisch, weil sie ihr Leben lang erlebt haben, dass der Rat eher eine Forderung ist. Die für Kinder oft undurchschaubare Vermischung von Ratschlägen und Forderungen hat vielfach zu einem tiefen Misstrauen gegenüber der älteren Generation geführt. Können wir davon geprägten Erwachsenen überhaupt noch Ratschläge annehmen, die wirklich als Unterstützung und nicht als heimliche Manipulationen gemeint sind? Um das abzuschütteln, kann die Perspektive des Anti-Adultismus in uns eine Wut wecken, die uns die Kraft zum Handeln gibt. Für sich alleine bleibt sie aber eine ohnmächtige und zerstörerische Kraft, abhängig davon, ob »die Erwachsenen« aufhören, Kinder zu manipulieren. Von dieser Abhängigkeit und den durch sie entstehenden Fronten können wir uns nur verabschieden, wenn wir auch in Richtung der Älteren Verständnis entwickeln. In ihrem Sinn frage ich: »Wie könnte eine Kultur aussehen, in der die älteren Generationen sich mit ihrer Erfahrung und mit ihrem Wissen so gesehen und wertgeschätzt fühlen, dass sie kein Bedürfnis mehr danach verspüren, die Wünsche und die Willensimpulse der jüngeren Generationen zu lenken? Welches gesunde und berechtigte Bedürfnis versteckt sich hinter den Manipulationstechniken vieler Erwachsener?«
Zwei Blickrichtungen zusammenführen In der Psychotherapie gibt es die Erkenntnis, dass alle Verhaltensmuster – und wenn sie noch so unnütz und lebensfeindlich wirken – irgendwann einmal ihren Sinn hatten, um ein dahinterstehendes Bedürfnis zu erfüllen. Erst aus einem Erkennen und Akzeptieren der Verhaltensweisen und Bedürfnisse (zum Beispiel demjenigen nach Wertschätzung der eigenen Erfahrungen) kann eine Haltung wachsen, die eine Veränderung der konkreten Verhaltensstrategie ermöglicht. Von einem solchen Verständnis bin ich selbst in vielen Fällen noch weit entfernt. Ich möchte mir aber Zeit geben und geduldig sein. Eine neue Kultur, eine neue innere Haltung kann nicht »gefordert«, »erzogen«, »belehrt« oder »durchgesetzt« werden. Vielleicht geht es darum, erst einmal die Trauer zu fühlen, die entsteht, wenn wir anerkennen, wie es ist. Vielleicht kann sich aus dieser Demut ein Interesse entwickeln, das ein zartes, immer tieferes Verstehen ermöglicht, das Wut in eine nach vorne gerichtete Gestaltungskraft transformieren kann. Es ist mir ein Anliegen, den Zorn über die Verletzung der Würde junger Menschen zu wecken, doch es ist mir ebenso ein Anliegen, die Trauer zu fühlen, die entsteht, wenn wir entdecken, wie sehr wir die Würde der älteren Menschen verletzen, indem wir den Wert ihrer Erfahrungen missachten. Erst durch beide Perspektiven entsteht die Heilkraft, die Wunden schließen und Wunder geschehen lassen kann. Das Wort »Adultismus« impliziert, dass wir ihn überwinden müssten. Damit wird meiner Erfahrung nach in den allermeisten Fällen verdeckt, dass wir gar nicht wissen, wie wir den Umgang zwischen den Generationen gestalten wollen. Ich habe die Hoffnung, dass die Perspektive des Anti-Adultismus nicht als Endpunkt der Erkenntnis betrachtet wird, sondern als Anfang, der den Zugang zu weiteren Sichtweisen eröffnet und bei dem die notwendige, oft anstrengende und genauso oft wunderschöne Suche nach stimmigen Formen des Miteinanders erst beginnt.
Emil Funkenflieger (26) wurde beim Verfassen dieses Text von Gedanken von Juli Vethacke (24), inspiriert. Beide sind seit einigen Jahren als Teil der Wanderuni unterwegs. Seit einem Jahr üben sie sich gemeinsam in weltgestaltender Wanderphilosophie.