Oya-Praktikantin Carolin Waldmann sprach mit ihrer Mutter Claudia über das Leben in der Überflussgesellschaft.von Carolin Waldmann, Claudia Waldmann, erschienen in Ausgabe #52/2019
Seit Mitte Januar wirke ich als Praktikantin in der Oya-Redaktion mit. Das tue ich im Rahmen von »Project Peace«, einem einjährigen Programm, in dem ich mit sieben anderen jungen Menschen eine zukunftsfähige Kultur auf individueller und kollektiver Ebene erforsche und erlebe. Für einen bestimmten Zeitraum des Jahres besuchen wir Projekte des sozial-ökologischen Wandels. Mich hat es zur Gemeinschaft in Klein Jasedow an die Ostsee getrieben. Neben anderen Projekten ist hier auch das Oya-Büro beheimatet. Als ich ankam, erreichten uns gerade die ersten Interviews für diese Ausgabe, und ich spürte den Impuls, selbst ein solches zu führen – und zwar mit meiner Mutter. Ich hatte ihr bereits von Oya erzählt und ihr Interesse geweckt. Sie selbst war bisher jedoch keine Oya-Leserin. Sie lebt in Bayern in einem 12 000-Seelen-Ort namens Peiting und arbeitet in der Apotheke. Im Nebengewerbe vertreibt sie pflanzliche Öle und Naturprodukte. Ihre Faszination für die Düfte der Welt hat sie zu einer Ausbildung als Aromaberaterin geführt. Wir verabredeten uns für ein Telefongespräch.
[Carolin Waldmann]Sag mal, Mama, worüber machst du dir heute Sorgen, wenn du auf die gesellschaftlichen Entwicklungen und Probleme schaust? [Claudia Waldmann] Das Hauptproblem sehe ich momentan im ökologischen Bereich. Es ist unbegreiflich, wie wir mit der Erde umgehen! Nicht weniger beunruhigt mich das Humanitäre – dass Menschen in den Ländern des Südens verhungern, während wir hier Millionen von Lebensmitteln wegwerfen, weil wir stets einen Anspruch auf die perfekte Ware bis 20 Uhr haben, was nur auf Kosten anderer und der Natur geschehen kann. Eine immer größer werdende Öffentlichkeit bekommt das alles mit, handelt aber nicht. Ich erlebe junge Leute, die den Bio-Joghurt wegwerfen, weil sie meinen, er sei kurz vor dem Ablaufdatum schon ungenießbar. Dass Containern offiziell verboten ist, finde ich besonders unverständlich. Eine Bekannte holt sich oft weggeworfene Lebensmittel von einem großen Supermarkt für ihre Tiere und gibt mir davon gelegentlich etwas für die Enten. Sie ist ganz verzweifelt, wenn sie dort sieht, dass 20 Kisten Bananen im Müll landen. Solche Verschwendung auf ganz Deutschland hochzurechnen, ist unerträglich! Unsere Ressourcen sind doch nicht unendlich!
Ja, dieses unendliche Wachstum, das wir meinen, leben zu können, wird bald keine Grundlage mehr haben. Die Zuwanderung von Geflüchteten hat ja auch ihre Ursache in unserem Egoismus und dem Übermaß an Konsum in den reichen Ländern. Daraus resultieren viele Streitpunkte, vor allem mit denjenigen Deutschen, die selbst unterhaltsbedürftig sind. Ich beobachte, dass Hartz-IV-Empfänger und Menschen, die nicht zurechtkommen oder nicht integriert sind, oft Hass auf solche, die zuziehen und unterstützt werden, entwickeln. Das nutzt die Propaganda von rechten Parteien aus. Unser Sozialstaat ist meiner Meinung nach fast zu großzügig. Wer nicht arbeiten will, findet immer einen Weg, um staatlich unterstützt zu werden. Ich finde, der Staat fördert zu wenig Eigenständigkeit – damit fördert er auch Konkurrenzdenken.
Erlebst du diese Auswirkungen in deinem Umfeld? Ja, in der Apotheke, in der ich arbeite. Dort erlebe ich oft Menschen, die Hartz IV beziehen, die keine Lust auf Arbeit haben, nicht aufhören, zu rauchen und unsinnige Dinge zu kaufen. Sie äußern sich auch oft abfällig über Zugezogene. Mich belastet das sehr – obwohl das auf dem Land, wo ich wohne, noch harmlos ist. In den Städten ist das bestimmt viel drastischer.
Hast du das Gefühl, dass du zu positiver Veränderung in unserer Überfluss- und Konkurrenzgesellschaft beitragen kannst? Sicherlich, beispielsweise dadurch, dass ich selbst nicht so viel kaufe, selbst wenn das Angebot noch so verlockend ist. Konsum lässt sich in allen Bereichen des Lebens reduzieren. Das ist zwar schwierig – wir sind alle wahnsinnig verwöhnt –, aber da kann ich persönlich an mir arbeiten. Die Gesetze kann ich nicht verändern, dazu bin ich nicht befugt.
Kannst du im Leben das verwirklichen, was dir wichtig ist? Was tust du in deiner Zeit besonders gerne? Ich denke schon, dass ich mich zum großen Teil verwirklichen kann. Derzeit bin ich fasziniert von psychologischen, soziologischen und spirituellen Themen; das reicht vom Thema »Körpersprache« bis zur Frage, was »höhere Macht« bedeutet und wie weit die Wirkung des eigenen Willens reicht. Allgemeine Regeln des Zwischenmenschlichen müssten meiner Meinung nach schon in der Schule unterrichtet werden, ebenso wie ein Verständnis für die Relevanz der eigenen Meinung und die Bedeutung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Dann würde niemand missionierend oder arrogant behaupten: Ich habe die einzige Wahrheit gefunden und bin der Nabel der Welt. Wenn im kleinen Kreis mehr Toleranz gelebt werden würde, gäbe es auch weniger Dramen in den Firmen und in der Politik. In diesem Sinn würde ich gerne unterrichten oder sinnvoll tätig sein, dafür müsste ich aber Psychologie oder Soziologie studieren. Dem steht im Weg, dass ich ein regelmäßiges Einkommen brauche, da neben dir auch deine beiden Geschwister noch in der Ausbildung sind. Außerdem bin ich nicht mehr die Jüngste. Für die Zukunft kann ich mir aber schon vorstellen, dass ich in der Lebensberatung arbeiten werde. Ganz konkrete Vorstellungen habe ich noch nicht, aber ich werde vielleicht eine Ausbildung in diesem Bereich absolvieren. Gibt es Menschen in deinem nahen Umfeld, die sich für deine Themen interessieren oder damit in Resonanz sind? Seit 40 Jahren habe ich eine Freundin, die durch bestimmte Lebenssituationen inzwischen auch ähnliche Interessen hat wie ich. Sonst finde ich sehr wenig Resonanz, denn mein Umfeld hat ganz andere Wertvorstellungen. Ich habe mich schon oft als Außenseiterin gefühlt. Manchmal erlebe ich Anfeindungen. Als Vegetarierin habe ich früher unter extremen Vorurteilen mir gegenüber gelitten. Mittlerweile wird meine Ernährungsweise jedoch anerkannt, viele zeigen sogar Interesse. Ich bin relativ häufig in Kontakt mit Menschen, die anders denken als ich, jedoch habe ich damit kein Problem. Trotzdem wäre es schön, wenn ein größerer Kreis meine Gedankenwelten teilen würde.
Was hindert dich daran, dich mehr zu vernetzen? Gute Frage – ich müsste wohl gezielt übers Internet, vielleicht über einen Blog, auf mich aufmerksam machen. Je nachdem, wo ich bin, mache ich jedoch lebendige, erfüllende Erfahrungen im Kontakt mit anderen, vor allem bei Vorträgen und Kursen.
Findest du auch Wege, in deinem Alltag deine Themen zu leben und in die Welt zu bringen? Das ist für mich derzeit das Schwierigste. Ansatzweise erlebe ich das bei der Arbeit. Wenn ich in der Apotheke an der Theke stehe, spüre ich, dass ein seelisches Wesen vor mir steht und Krankheiten aus seelischen Zuständen resultieren. Das will jedoch fast niemand wissen, denn dann müssten die Kundeninnen und Kunden mehr Verantwortung für ihre Krankheiten übernehmen. Trotzdem kann ich in der Apotheke so auf die Menschen eingehen, dass es ihnen bessergeht. Wenn ich sie sensibel anspreche, wollen sie oft auch alternative Vorschläge hören, worauf ich ihnen dann zum Beispiel etwas Homöopathisches anbiete, das auch ihre Psyche unterstützt.
Wenn du dir die Zukunft vorstellst – wie siehst du dann die Welt? Da habe ich zu wenig Wissen, muss ich ehrlich sagen. Sicherlich sind die Auswirkungen des Klimawandels und unseres Umgangs mit der Erde dramatisch – aber ob alles, was in den Medien gesagt wird, wirklich stimmt, kann ich nicht wissen. Man könnte ganz vieles zum Positiven ändern, das muss auch passieren! Viele sagen: Wenn das so weitergeht, ist in 50 Jahren alles kaputt. Aber jede und jeder Einzelne kann bereits im kleinen Radius sehr viel bewirken und mit Leidenschaft – aber ohne missionarisch zu sein – das eigene Umfeld im positiven Sinn »infizieren«.
Nach dem Interview fiel mir auf, dass ich meiner Mutter noch nie solche Fragen gestellt habe. Sie hat mir zurückgemeldet, dass sie sich nach unserem Gespräch sehr gestärkt gefühlt hat und dankbar für diese Gelegenheit zum Austausch war. Daraus nehme ich vor allem mit, dass wir uns wieder mehr Zeit füreinander nehmen sollten, um uns Fragen zu stellen – Fragen, die unmittelbar das Wesentliche berühren, uns einander begegnen lassen und wieder die Neugier und Aufmerksamkeit für das uns bekannte Gegenüber wecken. Ich muss auch zugeben, dass ich stolz bin auf meine Mutter – dass sie ein hohes Problembewusstsein für unsere Überflussgesellschaft hat und in ihrer Generation Impulse für ein Umdenken setzt.
Carolin Waldmann (18) ist seit August 2018 Teil des Programms »Project Peace«, das junge Menschen bei der Suche nach ihrem Weg, sich positiv in die Welt einzubringen, begleitet. Selbstbestimmte Bildung, Singen und Schreiben liegen ihr sehr am Herzen.
Claudia Waldmann (56) wohnt in Peiting in einem Haus mit großem Garten, wo ihre drei Kinder aufgewachsen sind. Sie arbeitet in der Apotheke und ist Aromaberaterin. Nebenbei vertreibt sie ätherische und pflanzliche Öle sowie weitere pflanzliche Lebensmittel.