Ein Plädoyer für Geschichtsbewusstsein.von Philipp Blom, erschienen in Ausgabe #52/2019
I Ich bin als Kind der Aufklärung aufgewachsen und hatte das Glück, in einem Haus voller Bücher zu leben. Das hat meine Fantasie befeuert, wenn auch manchmal ganz anders, als erwartet. Ein Beispiel: Wie alle Vierzehnjährigen fand ich das Leben überwältigend und unerklärlich – also griff ich in den Bücherschrank und fand Immanuel Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Ich hatte gehört, dass das ein großes Buch sei, und ich hoffte, die Philosophie würde mir mein Leben erklären, in klaren Sätzen und Regeln. Das Ganze war irgendwie erhaben und klang sehr beeindruckend, aber es machte mich ratlos. Mein Leben stand Kopf, und das System des großen Kant hatte nichts dazu zu sagen. Wie viele hoffnungsvolle Leser vor und nach mir legte ich das Buch enttäuscht zur Seite. Und trotzdem war da diese Idee, in die ich mich – ich war schließlich im richtigen Alter – unsterblich verliebte: die Behauptung, dass ich einen Pfad durch diese chaotische Welt aufspüren könne und die dafür nötige Landkarte nicht in einer heiligen Schrift zu finden sei, nicht in einer Bibliothek oder einem Mythos – sondern in mir, in meiner Vernunft: einer Fähigkeit zu denken, die allen Menschen eigen und so natürlich wie das Atmen ist. Aus der ersten intellektuellen Liebe ist eine lebenslange, nicht immer reibungslose Beziehung zum methodischen Denken geworden, eine seltsame Fernbeziehung zu jenen leuchtenden Ideen von Leuten, die längst nicht mehr am Leben sind. Die für mich wichtigste Begegnung dieser Art war die mit dem unwiderstehlich sinnenfreudigen und scharfsinnigen Denis Diderot im vorrevolutionären Frankreich, der als Herausgeber der großen »Encyclopédie« bekannt wurde und der in seinen Briefen, literarischen Texten und Essays ein radikal humanistisches Weltbild erschrieb und erdachte. Diderot und die anderen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts lebten zu einer Zeit, in der die hellsten Köpfe gerade begannen, die ersten Atemzüge der Moderne zu spüren. Bei ihnen lernte ich, dass weder die Aufklärung noch die Philosophie überhaupt aus einem Katalog von Lehrsätzen und dicken Büchern bestehen, sondern aus einer Landschaft von Debatten, Provokationen, Entwürfen und Experimenten. Philosophie ist, wie die Schweizer Philosophin Barbara Bleisch es formuliert, »riskantes Denken«. In einer Welt, in der die Macht von Thron und Altar absolut war, wagten es diese Denker, alles um sich herum und in sich selbst in Frage zu stellen und neu zu begreifen. Sie ließen sich durch Zensur und Geheimpolizei nicht einschüchtern und riskierten sogar, durch ihre skandalösen Gedanken über Religion und über Menschenwürde zu Fremden im eigenen Land und in der eigenen Familie zu werden. Trotz dieser oft sehr realen Gefahren erwies sich das klare Denken als unwiderstehlich und hat dadurch unsere Gegenwart geprägt: Menschenrechte, liberté – égalité – fraternité, life – liberty – and the pursuit of happiness, Demokratie, Naturwissenschaft, die Befreiung der Sklaven, das Ende der Kirchenherrschaft und die Emanzipation der Frauen wären ohne die Aufklärung buchstäblich undenkbar.
II »Wir sind alle Kinder der Aufklärung.« Dieses Bekenntnis ist inzwischen zur Phrase verkommen. Politiker, Journalisten und Historiker reden so, als wäre es eine selbstverständliche Tatsache. Dabei widerlegt gerade die Gegenwart ganz offensichtlich solche Bekenntnisse, denn es hat in westlichen Ländern seit dem Ende des Totalitarismus keinen so weitreichenden und mächtigen Angriff auf die Aufklärung gegeben wie heute. Die Aufklärung ist der Versuch, das kritische Denken und den Respekt vor Fakten höher zu achten als Meinungen, Vorurteile, Gefühle, Traditionen oder Dogmen. Dieses Prinzip ist plötzlich in die Defensive geraten: In Zeiten von Fake News, in denen Faktenwissen von Filterblasen abgewehrt wird, ein amerikanischer Präsident sich selbst als Lügner täglich überbietet und in denen auch hierzulande »stichhaltige Gerüchte« bemüht werden, um die alte Mär von der jüdischen Weltverschwörung wieder wachzukitzeln, muss man diesen Punkt nicht weiter ausführen. Auch die universellen Menschenrechte sind längst zu einer rhetorischen Beschwichtigung zusammengeschnurrt. Denn selbstverständlich gilt global ein Zwei-Klassen-Menschenrecht. Wer im reichen Westen geboren ist, hat mehr Rechte, mehr Freiheiten, mehr Chancen – und das auch auf Kosten anderer. Christoph Ransmayr, kürzlich aus Ruanda zurückgekehrt, formuliert diesen Zusammenhang so: »Ohne die hier geschürften Erze und seltenen Erden, ohne die Gold- und Silber- und Diamantenminen und unzähligen anderen Bodenschätze, ohne die hier eingebrachten Ernten, ohne die Arbeitskraft von Abermillionen Sklaven und Billigstlohnarbeitern wäre Europa wohl bis zum heutigen Tag noch längst nicht jenes Paradies, als das es in jenen Flüchtlingsströmen ersehnt und bewundert wird …« Dieses Paradies ist, wie alle Paradiese, bedroht. Das universelle Denken und die universellen Menschenrechte sind abgelöst worden vom Rückzug auf das Eigene, auf die Nation, die Grenze. Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind offensichtlich nur dann attraktiv oder durchsetzbar, wenn sie von hohen Mauern und Stacheldraht geschützt werden. Sie sind eben unsere Freiheit und unsere Gleichheit. Aber was ist diese Freiheit wert, wenn sie darin besteht, nichts wissen zu müssen, nicht informiert sein zu müssen, sondern es sich wiederkäuend bequem zu machen? Und was ist die angemessene Reaktion auf Bürgerinnen und Bürger, denen offensichtlich ihre Mündigkeit lästig, Freiheit zu anstrengend und Gleichheit suspekt ist, die eine gefühlte Wahrheit einer durchdachten vorziehen? In diesem Kontext nimmt der Satz »Wir sind Kinder der Aufklärung« eine andere Bedeutung an. Immer öfter wird er auf dem ersten Wort betont und soll bedeuten: Wir sind Kinder der Aufklärung – keine Moslems also, keine kulturfremden Eindringlinge, denn die sind nicht wie wir, sie sind unaufgeklärt, nicht integrierbar, sollen bleiben, wo sie herkommen. Wir wollen behalten, was wir haben, wir bleiben, wie wir sind. So wird die Aufklärung zur Waffe für den Erhalt des Status quo der Reichen und der Mächtigen.
III Die Demontage der Aufklärung reicht weit über Europa hinaus. Auf dem ganzen Globus entstehen autokratische Staaten, werden längst überwunden geglaubte, autoritäre Strukturen und nationalistische Identitäten zum Programm oder zur Praxis, verlieren Wahrheit und Wissenschaft an Verbindlichkeit, greift freiwillige Verdummung Raum. Vielleicht ist das einfach eine Reaktion auf die grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft innerhalb von gerade einmal drei Generationen. Nach dem Fortschritt kommt der Rückschritt. Vor dreihundert Jahren war es einfach, an den Fortschritt zu glauben – heute beginnen die Nebenwirkungen des Fortschritts seine ursprüngliche Absicht zu überwältigen, und so kann sich Fortschritt selbst in sein Gegenteil verkehren. Vielleicht ist dies der Anfang vom Ende der aufklärerischen Gesellschaften. Nach uns der ethnische Pluralismus. Wir bewegen uns zwischen den Kulissen der Aufklärung wie Schauspieler mit dem falschen Text im Bühnenbild eines längst abgespielten Stücks.
Aber warum passiert all das gerade jetzt, zu einer Zeit, in der weniger Menschen hungern denn je, weniger Menschen gewaltsam sterben und in der in unseren Ländern mehr Wohlstand und mehr Sicherheit herrschen als je zuvor? Weil es immer mehr Menschen mit der Angst zu tun bekommen. Immer mehr Menschen fürchten den Verlust von Besitz und Status, den Verlust einer vertrauten Welt, den Verlust der Hoffnung. Immer mehr Menschen sehen eine wachsende Kluft zwischen der offiziellen, liberal geprägten Wirklichkeit und dem, was sie selbst erleben. Die globale Wirtschaftsordnung ist zu einer bitteren Parodie der aufgeklärten Gedanken mutiert, auf die sie sich beruft. Sie ersetzt die Rationalität durch die Rationalisierung, den Universalismus durch den globalen Markt, die Freiheit des Menschen durch die Wahl der Konsumenten zwischen Produkten und die Gleichheit durch statistische Normierung. Bürgerrechte werden zu Garantieleistungen, denn in dieser Welt braucht man keinen Pass, sondern eine Kreditkarte. Im globalen Maßstab hat diese Parodie der Aufklärung alte soziale Strukturen zertrümmert und – um mit dem polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman zu sprechen – eine »flüssige Moderne« geschaffen, in der Gesellschaften, Märkte, Ökosysteme und Identitäten in dauerndem Aufruhr sind. Diese Parodie erklärt einen Teil der Angst, die in unsere Gesellschaften sickert. Zur Veränderung kommt die Verlogenheit. Politiker und Ökonominnen sprechen von Wirtschaftswachstum, von Innovation und Produktivität, von Vollbeschäftigung und Wohlstand, aber gleichzeitig verdienen immer weniger Menschen immer mehr, während immer mehr Menschen begreifen, dass es für sie keine bessere Zukunft gibt, dass sie zwar für das System funktionieren müssen, das System aber nicht für sie. Immer mehr Menschen spüren, dass die künstliche politische Idylle der Nachkriegszeit vorbei ist, dass die Geschichte zurückgekehrt ist nach Europa, mit all ihren längst überwunden geglaubten Schattenseiten – und mit ihr ihr Lebensabschnittsgefährte, der alles beherrschende Markt. So wird die Zukunft nicht mehr als Verheißung, sondern als Bedrohung erlebt. Wir werden nicht noch reicher werden, noch sicherer und noch privilegierter. Die schönste Hoffnung unserer Gesellschaften ist es deswegen geworden, Zukunft überhaupt zu vermeiden und in einer nie endenden Gegenwart zu leben. Diese Zukunft aber kommt längst zu uns: in Form warmer Winter und cleverer Algorithmen, aber auch zu Fuß oder in Booten, in Gestalt von Menschen. Reiche Gesellschaften können sich Zeit kaufen, um große Veränderungen hinauszuschieben, aber sie kaufen sie auf Kredit von ihren Kindern.
IV Kein Wunder, dass es viele Menschen angesichts dieser dauernden und fließenden Destabilisierung mit der Angst zu tun bekommen, und so sehen sich immer mehr Menschen nach Alternativen zu einem System um, das ihre Ängste nicht beschwichtigen kann, das keinen realistischen Grund zur Hoffnung bietet. Die liberale Demokratie aber hat mit der Religion eines gemeinsam: Sie kann nur dann bestehen, wenn genug Menschen an sie glauben. Tatsächlich aber ziehen sich immer mehr Menschen zurück – aus der Demokratie, aus der Verantwortung, aus dem ganzen Getue mit Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Es ist der Rückzug vom globalen Markt in die Festung Europa. Das Stück, das zwischen den Kulissen der Aufklärung aufgeführt wird, droht, uns völlig zu entgleiten.
V Wir sind alle Kinder der Aufklärung, sagen wir, und benutzen diesen Satz als eine Art Regenschirm gegen das Unbekannte. Wir sind Nachkommen von Pionieren, die etwas riskiert haben, um uns ein bequemes Leben mit verbrieften Rechten zu ermöglichen, eine Generation von Erben, die sich heimlich für moralisch überlegen hält, weil ihre Vorfahren einmal mutig waren. Vielleicht ist es an der Zeit, endlich erwachsen zu werden. Erwachsenwerden heißt immer, sich den eigenen Ängsten zu stellen. Angesichts der Politik von Angst und Hass, die sich auch in Europa immer weiter ausbreitet, ist es an der Zeit, zu begreifen, dass neben der Erderwärmung heute noch ein weiterer Klimawandel stattfindet, ein Wandel der zivilisierten und oft ungeschriebenen Regeln und Haltungen, durch die Demokratie erst möglich wird. Die liberale Demokratie ist eine sehr junge und fragile Regierungsform, ein historisches Experiment mit offenem Ausgang. Demokratie in unserem Sinn gibt es auch in vielen Ländern Europas überhaupt erst seit wenigen Jahrzehnten, und in manchen wird sie längst aktiv ausgehöhlt. Sie ist kein Naturzustand, sondern läuft immer Gefahr, selbst zur Kulisse zu verkommen, zum Legitimisierungstheater für Autokraten. Demokratie kann die Voraussetzungen, die sie braucht, um zu bestehen, nicht selbst schaffen. Sie ist nicht nur auf starke Institutionen angewiesen, sondern auch auf weniger klar definierbare Voraussetzungen: auf ein gewisses Grundverständnis, auf eine Art von Anständigkeit, Selbstkontrolle, Respekt im Umgang mit anderen, Respekt vor Fakten. Wenn diese Voraussetzungen unterminiert werden, gerät die Demokratie aus dem Gleichgewicht und wird irgendwann zusammenbrechen. Das macht es so gefährlich, dass wir in ängstlichen Gesellschaften leben. Ängstliche Menschen denken anders, nehmen die Welt anders wahr als zuversichtliche. Jene, deren Beruf und Strategie es ist, Wählerinnen und Konsumenten zu manipulieren, wissen: Wer die Ängste kontrolliert, kontrolliert auch die Menschen. So verschiebt sich das Meinungsklima fast unversehens weg von Ideen wie Menschenrechten und Freiheit und hin zu Identität und Sicherheit in einer feindlichen Welt und damit von der Diskussion zur Konfrontation. Vor dieser Drohkulisse verblasst die rationalistische Aufklärung zum Scherenschnitt mit gepuderter Perücke.
VI Ist also die Aufklärung überholt, ist sie hoffnungslos kompromittiert durch ihre Nähe zur Macht, oder ist sie, wie manche argumentieren, überhaupt ein Fehler gewesen, ein historischer Irrweg? Aufklärung ist riskantes Denken. Wir, die Erben, wollen dieses Risiko nicht mehr eingehen. Wir wollen eigentlich keine Zukunft, wir wollen nur, dass unsere privilegierte Gegenwart nie aufhört, obwohl sie zusehends um uns herum bröckelt und gespalten wird. Um das, was kommt, nicht zu erleiden, sondern zu gestalten, bedarf es nicht nur neuer Techniken und Effizienzsteigerungen, keiner hohen Mauern und keiner Abschreckung, sondern einer Transformation des westlichen Lebensmodells, denn erst, wenn Menschen wieder einen realistischen Grund zur Hoffnung haben, wird die Angst verschwinden. Dafür brauchen wir den Mut, wieder etwas zu riskieren beim Nachdenken über die Welt und über die eigene Position in ihr. Die Aufklärung ist nötiger denn je, aber nicht in ihrer rationalistischen Verengung oder ihrer ökonomischen Parodie.
Für meinen besonderen Freund, den Enzyklopädisten Denis Diderot, war die Erfüllung des Lebens schon Mitte des 18. Jahrhunderts nicht die Rationalität, sondern die volupté, die Sinnlichkeit, die Lust. Wir leben nicht aus Vernunft allein; wir verdanken unser Leben buchstäblich dem Begehren, dem Eros, der uns täglich antreibt, weiterzumachen, der uns den Mut gibt, Rückschläge zu überwinden, neue Möglichkeiten zu suchen, mit anderen zu kommunizieren. Aber Sinnlichkeit ist kein Wettbewerb rationaler Individuen. Begehren und Empathie brauchen, suchen Kommunikation und Berührung, schaffen Auseinandersetzung und Solidarität. Ich bin Mensch, weil ich begehre, weil ich mit anderen Menschen mitempfinde; und ich kann nur dann gut leben, wenn auch andere es tun. – Und plötzlich entsteht aus dem Begehren eine Ethik. Das aufgeklärte Denken beginnt, zu unserer Leidenschaftlichkeit zu sprechen – und sogar zu unserer Angst.
VII Was wäre, wenn eine neue, dringend gebrauchte Aufklärung mit einer Rehabilitierung der Leidenschaft beginnen würde? Was wäre, wenn wir uns selbst als leidenschaftliche Wesen begreifen würden? Was wäre, wenn wir lernen würden, uns als aufgeklärte Menschen im Licht der Wissenschaft als Homo sapiens zu verstehen, als eine Art, die 98 Prozent ihres Erbguts mit Schimpansen teilt und deren besondere Begabung – eine Art symbolisch abstrahierende Schlauheit – sie innerhalb von wenigen Jahrtausenden unerwartet erfolgreich und zahlreich gemacht hat? Dann würden wir begreifen, dass wir nicht erhaben sind über die Natur, sondern mitten in ihr. Wir würden sehen, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind, dass die Erde uns nicht untertan ist, sondern dass wir ein winziger Teil eines komplexen Systems sind, das übrigens auch ohne uns weiterbestehen wird. Homo sapiens würde lernen, sich selbst als hochinteressanten, aber problematischen Primaten zu begreifen, der nicht immer die Klugheit hat, seine Leidenschaft oder seine Intelligenz sinnvoll einzusetzen, und den es trotz oder wegen aller technischen Errungenschaften mehr denn je nach Zugehörigkeit, Stabilität und Sinn verlangt. Da aber die Stabilität der westlichen Gesellschaften auf ständigem wirtschaftlichen Wachstum beruht, ist er gezwungen, unentwegt seinen künstlichen Heißhunger zu befriedigen. Dieser Heißhunger lässt sich nur auf Kosten anderer stillen – und viele von diesen anderen haben das begriffen und wollen lieber beim großen Fressen dabei sein als beim großen Verhungern. Auch so entsteht globale Migration. Die Wirtschaftsleistung unterdessen wächst und wächst, also ist die Gesellschaft, die Regierung, das Land erfolgreich, zumindest aus der Sicht der offiziellen Beurteilungen. Aus der Perspektive der Natur stellt sich die Sache freilich anders dar. Einer unserer wichtigsten kulturellen Partnerorganismen ist Hefe, die es Menschen seit Jahrtausenden ermöglicht, Dinge wie Brot, Bier und Wein zu produzieren. Hefe ist ein einzelliger Pilz, der sich explosiv vermehrt, indem er Zucker frisst, immer weiter, unersättlich, bis alle Ressourcen aufgebraucht sind und er an seinen eigenen Ausscheidungen erstickt und verhungert. Auf individuellem Niveau haben Hefepilze zwar keinen Mozart und keinen Shakespeare hervorgebracht; kollektiv aber scheinen Menschen über Jahrmillionen der Evolution wenig mehr gelernt zu haben als die Hefe. Wir fressen uns dem eigenen Ersticken entgegen. Aber anders als Hefepilze kann Homo sapiens sein Verhalten durch Verständnis, Fantasie und Empathie ändern – und so vielleicht eine Zukunft möglich machen, in der die Ökonomie als Teil der Ökologie begriffen wird und Menschen als Primaten, die dazu neigen, sich selbst hoffnungslos zu überschätzen. Das wäre riskant für unseren Wohlstand und den Status quo. Das wäre aufklärerisch.
Wer heute vierzehn ist, erbt eine Welt mit immensen Risiken. Wer aber bereit ist, die Dynamik des aufgeklärten Denkens gegen die Dogmen der Gegenwart zu kehren, wer bereit ist, selbst zu denken und riskant zu denken, kann Teil einer Zukunft werden, in der es sich zu leben lohnt; nicht als Kind oder als Erbe, sondern als Teil der Natur, als empathischer Primat – und aus Leidenschaft für ein gutes Leben.
Philipp Blom (49) wurde in Hamburg geboren. Er studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford, wo er über Nietzsche und das Rassendenken im Kulturzionismus promoviert wurde. Seit 2001 wirkt Blom als freier Sachbuchautor, Romancier, Journalist und Übersetzer. Seit 2007 lebt er in Wien. Weite Beachtung bei Kritik wie Leserschaft fanden die literarischen Sachbücher »Der taumelnde Kontinent« (2009) über Europa am Vorabend des Ersten Weltkriegs, »Böse Philosophen« (2011) über radikale Aufklärer im Paris des 18. Jahrhunderts und »Die Welt aus den Angeln« (2017) über die Zwischeneiszeit im 16. und 17. Jahrhundert. In packend erzählten und stilistisch brillanten Werken nutzt Blom das Handwerkszeug des Historikers, um im Spiegel der Geschichte aktuelle Zeitfragen zu beleuchten. Sein Essay »Was auf dem Spiel steht« wurde 2017 in die Top Ten der Zukunftsliteratur des Magazins der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen aufgenommen. Im selben Jahr wurde Blom in den Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels berufen. Soeben ist sein Buch »Eine italienische Reise« über Migration und Musik um 1700 erschienen. www.philipp-blom.eu