Titelthema

Das Sein ist beweglich

Franziska Castro befragte Kerrin und Guido, zwei in Basisbewegungen stadtpolitisch aktive Menschen, nach ihren Überzeugungen.von Franziska Castro, erschienen in Ausgabe #52/2019
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Kennengelernt habe ich Kerrin und Guido in der Berliner Mieterin­nenbewegung. Aus eigener Betroffenheit engagiere ich mich in diesem Bereich. Dabei bin ich oft ungeduldig, weil ich mich nicht auf einzelne Symptome in einem insgesamt lebensfeindlichen System konzentrieren will. Im Lauf meines Lebens habe ich viele »Szenen« und Gruppen kennengelernt, die in ihren jeweils eigenen Blasen zu leben schienen. In jeder war es mir zu eng, stets fehlte mir etwas, was es in dieser nicht gab, aber in anderen. So traf das Thema dieser Oya-Ausgabe auf Fragen, die mich schon lange bewegen.
 Bei der Überlegung, wen ich um ein Interview bitten könnte, kamen mir Guido und Kerrin in den Sinn. Ich wusste wenig über sie, nur, dass sie aus einer Szene kommen, mit der ich vor 25 Jahren, als ich in einem besetzten Haus wohnte, viel mehr verbunden war als jetzt. Sie waren mir von Anfang an sympathisch, wirkten auf mich offen und lebendig. Das Interview erschien mir als gute Gelegenheit für ein Gespräch zwischen Menschen aus zwei verschiedenen Blasen, die sich in einer dritten begegnen. Wir trafen uns während Kerrins Mittagspause auf dem Gelände ihrer Tischlerei.


[Franziska]  Wir kennen uns durch unser wohnungspoliti­sches Engagement, aber nicht näher. Darum freue ich mich ­darüber, heute mit euch auch über andere Themen zu sprechen. Was ­bewegt euch gerade im Großen oder im Kleinen?
[Guido]  Mich beschäftigen viele politische Themen. Vor zehn Jahren habe ich viel optimistischer in die Welt geschaut, was vielleicht auch daran lag, dass ich damals in Brasilien war, wo es eine linke Regierung gab. Aber inzwischen gab es viele Wahlen, die von Rechten gewonnen wurden, auch in Brasilien. Die Klimaverhandlungen sind Jahr um Jahr für die Katz. Mich beschäftigt die Frage, wie die ganze Welt so schnell an die Wand fahren kann. Ich versuche, dabei nicht zynisch zu werden; das gelingt mir durch Humor und lokale Erfolge und nette Menschen um mich herum. Privat treiben mich die üblichen Themen um, wie zwischenmenschliche Beziehungen oder Fragen, wie ich wohnen und meinen Lebensunterhalt verdienen will.
[Kerrin]  Mich beschäftigen ganz ähnliche Dinge wie Guido, wobei es mir im Alltag gelingt, vieles zu verdrängen, so dass es mich nicht tagtäglich besorgt. Was mich aber gerade sehr berührt und auch ohnmächtig macht, ist das Wissen, dass wir auf eine ökologische Katastrophe zusteuern. Niemand will das. An Ausbeutung, Rassismus oder an der Unterdrückung von Frauen – daran haben Menschen Interesse, weil manche davon profitieren, aber nicht an einer ökologischen Katastrophe. Trotzdem ändert sich nichts. Dass Menschen in vollem Bewusstsein in eine Katastrophe steuern, finde ich sehr erschreckend.
Die globalen Probleme empfinde ich auch als sehr bedrohlich. Wenn es um meine Wohnung geht, bewertet mein Verstand diese Bedrohung zwar als kleiner, aber ich fühle mich persönlich bedroht und will bei meinem Engagement gerne in der Masse einer größeren Bewegung verschwinden. Diese Angst habe ich bei anderen Themen nicht. In den letzten Jahren hat es mich auch sehr belastet, dass ich um mich herum viel Resignation wahrgenommen habe. Wenn ich mich aber gemeinsam mit anderen um Veränderungen bemühe, stärkt mich das.
[Kerrin]  Wenn ich mir kleine, erreichbare Ziele stecke, kann ich optimistisch an etwas herangehen und mit Freude aktiv sein. Materielle Sicherheiten sind für mich auch wichtig. Eine Zeitlang wusste ich nicht, wohin es in meinem Leben gehen soll. Das ist jetzt anders, seitdem geht es mir viel besser. Diese Sicherheit spielt eine ganz große Rolle – so schade es ist.

Du meinst deine Tischlerei-Arbeit? Fühlst du dich wohl hier?
[Kerrin]    Ja. Es ist ein sehr netter Betrieb, eine linke, ehemalige Kollektivtischlerei. Wir haben alle sehr viele Freiheiten, und es ist eine abwechslungsreiche und sinnvolle Arbeit.
[Guido]  Materielle Sicherheit beruhigt mich auch. Glücklicherweise habe ich in meinem Leben immer viele Privilegien gehabt und sie immer wieder verlängern können. Du hast die Resignation angesprochen – mich beschäftigt eher die Unwirksamkeit oder fehlende Reichweite der eigenen Bewegung trotz des unermüdlichen Engagements so vieler Menschen in meinem Umfeld.

Mir scheinen viele Szenen mit ihren jeweils eigenen Themen nebeneinander zu existieren – mit wenig Berührung untereinander. Hier in Berlin nehmen viele Leute nicht einmal zur Kenntnis, dass sich Menschen in anderen Stadtteilen mit ähn­lichen Themen beschäftigen.
[Guido]  Das stimmt zwar, aber was die thematischen Verbindungen betrifft, gibt es in der Bewegungslinken sehr viele Anstrengungen, Kämpfe und Themen zu verbinden. Politische Arbeit erfordert einen Fokus und Geduld, eine gewisse Spezialisierung ist da nicht zu vermeiden. Aber es gibt viele Kontakte der Gruppen untereinander, oft auch auf persönlicher Ebene. Ich bin zum Beispiel mit vielen Menschen befreundet, die in der Klimabewegung aktiv sind. Das Ganze nehme ich eher als großes Netzwerk wahr, in dem manche sich näher sind als andere.

Lange schien mir das auch so – wie ein unterirdisches Pilzgeflecht vieler Menschen, die Alternativen ausprobieren. Durch das mietpolitische Engagement ist bei mir der Eindruck von vereinzelten Gruppen stärker geworden. Vielleicht kommt das auch daher, dass ich in meiner lokalen Initiative viel Ärger über den Immobilienkonzern, aber wenig Interesse an gesellschaft­lichen Themen wahrnehme.
[Kerrin]   In diesem Feld werden viele zum ersten Mal in ihrem Leben aktiv und fangen vielleicht auch mit einem Tunnelblick an. Die Menschen organisieren sich nicht, weil sie eine politische Identität haben, die sie dahin führt, sondern weil sie daran interessiert sind, ihre Wohnung zu behalten.

Was auch eine gute und wichtige Motivation ist.
[Kerrin]  Auf jeden Fall.

Was verstehst du unter dem Begriff »politische Identität«?
[Kerrin]   Schlagworte für meine politische Identität sind unter anderen undogmatische, radikaldemokratische, antikapitalistische Linke.

Meinst du mit politischer Identität, welche Gesellschaft du dir wünschst?
[Kerrin]   Was ich mir wünsche, ja – aber auch meine Vorstellungen davon, auf welche Weise wir die Welt verändern können. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass es reicht, durch das Vorleben positiver Alternativen andere zum Nachahmen inspirieren zu wollen. Allein auf einer Bewusstseinsebene lässt sich nichts verändern, wir müssen auch eine Gegenmacht entwickeln und aufbauen – und ich glaube, es gibt Situationen, in denen sich durch einen rein pazifistischen Zugang nichts bewegen lassen wird.

Wie wir etwas verändern können, ist eine spannende Frage. Manche Wege lehne ich zwar ganz klar ab, aber oft finde ich es schade, wenn durch den Streit darüber alles auseinandergeht. Es scheint mir ein ständiges Suchen zu sein.
[Guido]  Ich teile alles, was Kerrin gesagt hat, und auch, dass es ein ständiges Suchen ist. Das Suchen in der Bewegung und in Kämpfen ist Teil meiner politischen Identität. Und es ist auch ein Versuch, mit den Widersprüchen der eigenen politischen Identität leben zu können oder sie weiterzuentwickeln. Eine Analyse der jetzigen Gesellschaft gehört auch zur politischen Identität.

Ich verwende die Begriffe »rechts« und »links« nicht mehr gerne, weil ich sie zu unklar finde. Was versteht ihr unter links?
[Kerrin]  Linke betrachten das Sein als beweglich, als gesellschaftlichen Prozess, und wollen leiderzeugende Dinge verändern. Wichtig ist immer, welche Gesellschaft wir uns wünschen. Zum Beispiel sagen wir: »Grenzen auf für alle!« Das ist nicht einfach, aber dieser Wunsch wird deshalb nicht aufgegeben, sondern es wird nach Lösungen für damit verbundene Probleme gesucht. Dagegen sehen Konservative die Realität als etwas Statisches an und sagen beispielsweise mit Verweis auf den Standortfaktor Deutschland: »Es geht nicht anders.« Sie erliegen dem Ist-Zustand.
[Guido]  Linkssein kann viel bedeuten, aber in Abgrenzung zum Rechtssein gibt es einen Grundkonsens unter allen Linken – die Kritik an Herrschaftsverhältnissen und das Bemühen, diese praktisch zu überwinden. Wie eine herrschaftsfreie Gesellschaft aussieht oder wie wir dort hinkommen, dazu gibt es vollkommen unterschiedliche Ansätze, reformistische oder revolutionäre. Welche Gesellschaft Menschen für möglich halten, hängt auch von ihrem Menschenbild ab.

Könnt ihr im Alltag etwas von euren Visionen verwirklichen?
[Kerrin]  Ich wohne in einem Hausprojekt. Wie wir unser Zusammenleben organisieren, finde ich in vielerlei Hinsicht sehr gut. Diejenigen, die Eltern sind, werden von anderen unterstützt. Das Leben in der Gemeinschaft ermöglicht ihnen eine soziale Anbindung jenseits von Kindererziehung und Beruf. So könnte selbst ich mir vorstellen, Mutter zu sein. Das ist offensichtlich eine Utopie, die auch im Kapitalismus gut funktioniert. In meiner Position als weiße, deutsche Mittelschichtsperson kann ich auf einer privaten Ebene viel von dem, was ich mir wünsche, verwirklichen. Schwierig ist für mich aber der allgegenwärtige Leistungsdruck. Ich arbeite gerne in der Werkstatt, ich lebe gerne in dem Haus, ich bin gerne politisch aktiv. Das gibt mir alles viel, aber zehrt auch unglaublich. Ich schaffe es nicht, das, was ich tue, von dieser neoliberalen Leistungslogik abzugrenzen.
[Guido]  Wir sind beide in einer Politgruppe organisiert, innerhalb derer wir uns für das Recht auf Stadt engagieren. Dort erlebe ich viel von dem, was ich mir wünsche. Ich vertraue den anderen, wenn sie uns vertreten oder etwas umsetzen. Wichtige Entscheidungen treffen wir gemeinsam, und wir haben uns dafür auf Methoden verständigt, bei denen möglichst alle gehört werden. Alle können sich überall einbringen. Dieses Gefühl von Vertrauen und diese emanzipatorische Praxis wünsche ich mir für die Gesellschaft. Ich erlebe dort gegenseitige Hilfe und politische Solidarität. Das bestärkt mich jedes Mal in dem Wunsch, dass die Gesellschaft auf diesem Grundpfeiler aufgebaut sein soll.

Habt ihr über die Gruppe hinaus auch viel miteinander zu tun?
[Guido]  Wir haben viele Polittreffen und sehen uns oft dreimal in der Woche. Viele Menschen, mit denen ich eng befreundet bin sehe ich viel seltener. Zusammen politsche Arbeit zu machen ist etwas anderes als Freundschaft. Aber die allermeisten, mit denen ich Politik mache, treffe ich gerne, und mit vielen bin ich auch befreundet. Anders wäre das langfristig auch nicht haltbar.
[Kerrin]  Im Alltag unterstützen wir uns nicht viel. Es wäre bestimmt möglich, das einzufordern, aber es macht kaum jemand. Wir nehmen uns sehr viel vor und halten wenig inne, um uns zu fragen, wie es uns geht und was wir brauchen. Das ist schon ein Hamsterrad und langfristig kein tragfähiges Konzept, aber ich traue uns zu, dass wir das verändern können.

Ihr habt beide am Anfang unseres Gesprächs die ökologische Katastrophe erwähnt. Mir ist der Umgang von uns Menschen mit der Erde schon seit meiner Jugend wichtig, und ich sehe unser Verhalten gegenüber anderen Lebewesen auch als Unterdrückungsverhältnis an. Was konkret ist euch dabei wichtig?
[Kerrin]  Was meinen individuellen Konsum angeht, habe ich eher eine bequeme Haltung. Ich glaube auch nicht, dass individuelle Verhaltensänderungen die Katastrophe aufhalten können, sondern suche nach Wegen zu einem gesellschaftlichen Wandel. Wichtig ist mir dabei, globale Herrschaftsverhältnisse zu betrachten und die humanitären Katastrophen zu sehen. Das mensch­liche Leid, das durch Umweltzerstörungen entsteht, ist für mich das Wichtigste. Wenn es keine Menschen mehr gibt, ist es auch egal, wie die Erde aussieht.


An dieser Stelle haben wir alle gelacht. Es gab eine Unsicherheit im Raum, ob dieser Satz so stehenbleiben könne. Für mich selbst wäre der Satz »Wenn es mich und meine Kinder nicht mehr gibt, ist der Rest auch egal« auch wahr (und nicht wahr zugleich). In manchen Zusammenhängen ist er einfach ehrlich.


[Guido]   Mich beschäftigen die Geschwindigkeit der Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen und biologischer Vielfalt und gleichzeitig der Umstand, dass es so schwierig ist, für dieses Pro­blem, das ich in erster Linie als ein politisches sehe, eine politische Lösung zu finden. Die ökologische Frage ist mit linker Politik schwer zu greifen. In Mieterinneninitiativen wehren sich Menschen mit gleichen Problemen gemeinsam. Es gibt eine Geschichte der Bewegung, und es entsteht schnell ein Bewusstsein für die Triebkräfte hinter den Verhältnissen. Bei der ökologischen Frage ist das schwierig, weil unsere Lebensgrundlage in der Großstadt scheinbar weit weg ist von Ökosystemen. In Berlin hat es im Sommer monatelang nicht geregnet, aber das Wasser floss weiter aus der Leitung, und die Supermarktregale waren voll. Von moralischen Appellen halte ich nichts. Wir brauchen eine politische Lösung, die unseren Lebensstandard einschränkt.

Das bringt uns wieder zu den Fragen über die Wege zur Veränderung. Ich denke, wir brauchen viele verschiedene. Ich danke euch, dass ihr mir heute von euren erzählt habt!


Ich habe lange über das Gespräch nachgedacht. Schon vorher hatte Guido mir erzählt, dass er ein Jahr in der ökologischen Landwirtschaft gearbeitet hatte, und beide sprachen gleich zu Beginn über ökologische Probleme. Das hatte ich nicht erwartet, weil ich Guido und Kerrin bisher nur als linke, stadtpolitisch Aktive wahrgenommen hatte. Offenbar hatte ich in meinem Ärger über den Tunnelblick in manchen Gruppen auch meinen eigenen Blick verengt. Viel wissen wir nicht voneinander, wenn wir bei Treffen nur über die aktuellen Themen sprechen. Und doch teilen wir viele Sorgen und Sehnsüchte. In diesem Gespräch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken, hat meinen Blick auf mein eigenes Engagement verändert.

 

Kerrin (28) begeistert sich für kollektives Arbeiten und Wohnen. Sie ist in der Kampagne »Deutsche Wohnen & Co. enteignen!« ­aktiv (www.dwenteignen.de). Wenn sie nicht in einem Plenum oder Arbeitsgruppentreffen sitzt, geht sie gern tanzen.

Guido (32) ist gerne in den Bergen unterwegs und hat für einige Zeit in Brasilien gelebt. Seit mehreren Jahren ist er außerparlamentarisch in der Berliner Stadtpolitik aktiv. Auch er engagiert sich in der Kampagne »Deutsche Wohnen & Co. enteignen!«.

Franziska Castro (48) versucht, dem Rhythmus des Lebens zu lauschen und dem roten Faden zu folgen. Manchmal unterstützt sie andere Menschen bei diesen Anliegen. In diesem Sinn fördert sie auch die Kampag­ne »Deutsche Wohnen & Co. enteignen!«.
www.im-wilden-osten.de, www.weiberleiber.de

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