Titelthema

Zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält

Anne Meinke sprach mit dem Keksbäcker Raffael Zimmermann über Lebensglück.von Raffael Zimmermann, Anne Meinke, erschienen in Ausgabe #52/2019
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© Anne Meinke

Raffael habe ich 1995 kennengelernt. Er organisierte ehrenamtlich Kindercamps in Süddeutschland und steckte mich mit seiner Freude daran an. Dass es sich beim Träger um eine Nachfolgeorganisation der »Jungen Pioniere« handelte, wurde mir erst bei Treffen mit Mitstreiterinnen aus anderen Städten bewusst: Dort begegnete mir eine völlig antiquierte Haltung in Genderfragen – zum Beispiel. Es lag daran, wie Raffael die von ihm persönlich gestalteten Freizeiten anging, dass ich einige Jahre dabeiblieb. Ob wir es unserer Bekanntschaft zu verdanken hatten, dass zwei Herren des Verfassungsschutzes einige Tage vor unserem Haus rund um die Uhr in einem Auto ausharrten? Einige Jahre waren wir Nachbarn in einem Freiburger Quartier, in dem es seit 1970 eine bis heute funktionierende Mitbestimmung gibt. In zum Teil sehr alter Wohnsubstanz leben dort viele Menschen mit geringem Einkommen.
Als wir uns zum Interview treffen, hatten wir uns länger nicht gesehen. Raffael hat mich in seine kleine Wohnung unterm Dach eingeladen. Es ist wohlig warm, er hat köstlich gekocht, dazu gibt es frisch gepressten Granatapfel-Ingwer-Orangensaft. Meine starken Kopfschmerzen verziehen sich langsam, ich fühle mich wohl auf der Banktruhe an dem langen Kirschholztisch, von Raffael für den 70. Geburtstag seiner Mutter gefertigt. Darauf stehen dicke Kerzen, deren Licht sich in den geschliffenen Gläsern spiegelt. Den selbstgefertigten Besteckkasten aus Nussbaum nennt Raffael »Louis XIV«, »weil die Adligen nichts Schöneres hatten«. Im zweiten Zimmer der Wohnung steht ihm wichtige Literatur in hölzernen Regalen. Sein breitgefächertes Wissen, auch das aus Büchern, hat Raffael immer gedient, auch bei seiner langjährigen Tätigkeit als Möbelpacker.


[Anne Meinke]Deine Wohnung finde ich auf besondere Weise ein­gerichtet.
[Raffael Zimmermann]  Ich habe auch einen Anspruch an das ­Leben, vielleicht sogar eine höheren als die Leute, die in den ­Laden rennen und sich etwas kaufen, das sie vielleicht nach fünf Jahren wieder wegwerfen. Ich habe mir Zeit damit gelassen, meine Möbel zu bauen, weil ich ja weiß, dass ich sie dann bis zu meinem Lebensende um mich haben werde und jeden Tag ihre Ausstrahlung auf mich wirkt.
Ich bin davon überzeugt, dass die Mehrwertproduktion abgeschafft werden muss. Wir sollten lernen, nur nach den Bedürfnissen der Menschen zu produzieren. Die Produktionsmittel und Produktivkräfte sind heute so stark, dass wir sofort auf 20-Stunden-Wochen oder noch weniger bei vollem Lohnausgleich umstellen könnten. Wenn das dann partnerschaftlich angegangen wird, wie es zum Beispiel die Jugendlichen in den Kindercamps entwickelt haben, dann könnte in den Ländern des Südens für alle Sonnenenergie produziert werden. Dem steht nichts entgegen als die Mehrwertproduktion, die nur nach dem Nutzen der Investoren fragt. Das sind wenige!

Deine marxistischen Ansichten haben dir ein Berufsverbot als Lehrer eingebracht. Würdest du heute sagen, dass du in deinem Leben das verwirklichen kannst, was dir wirklich wichtig ist?
Ja, darauf bin ich stolz. Ich habe selbstverständlich damit gehadert, dass ich zwar fürs Lehramt studiert hatte, aber durch das ­Berufsverbot als Möbelpacker arbeiten und mit mehr oder weniger Mindestlohn zurechtkommen musste. Das war richtig übel, andererseits aber auch nebensächlich. Viel wichtiger war, mir bewusstzumachen, dass diese Welt durch den Kapitalismus kaputtgemacht wird und dass ich auf jeden Fall für einen anderen Weg stehe. Heute backe ich Kekse und verkaufe sie auf dem Markt. Diese Tätigkeit habe ich mir vor dem Hintergrund überlegt, dass wir heute in einer Phase des Kapitalismus angekommen sind, in der auch Einzelne wie ich Produktivkräfte nutzen können, weil sie so günstig geworden sind. Wer keine hohen Ansprüche stellt, kann, wie ich, in die schöne Welt der vorindustriellen Produktion eintauchen, alles von Hand machen – und trotzdem ein Publikum finden. Ich kalkuliere da marxistisch. Wie Marx in seinen Frühschriften gesagt hat: Das Schönste für den Menschen ist, wenn sich seine ganze Leidenschaft in den Dingen, die er mit seiner Hände Arbeit schafft, vergegenständlicht. Das ist bei meinen Keksen der Fall. Ich liebe diese Kekse; ich weiß, sie haben die beste Qualität, die aus meiner Sicht möglich ist.
Auch die 25 Jahre währende ehrenamtliche Arbeit mit Kindern hat mir sehr viel geschenkt: Lebendigkeit, Wachheit, dabei zu sein, wenn die Jugendlichen »die Welt aus den Angeln heben« möchten.

Gibt es etwas, was du im Alltag besonders gerne tust?
Mir ist sehr wichtig, dass ich viele Zeitungen lese, weil ich der Meinung bin, dass wir auf einem Pulverfass sitzen und der Kapitalismus jeden Tag dabei ist zu implodieren. Der Schweizer Soziologe und Globalisierungskritiker Jean Ziegler hat gesagt, er finde es das Schönste, zu lauschen und das Gras der Revolution wachsen zu hören. So fühle ich mich auch. Ich wundere mich, dass die Koryphäen der Wirtschaftswissenschaften so tun, als ob alles in Ordnung wäre.

Gibt es für dich Momente, in denen du sagen kannst: »Jetzt singt mein Herz?«
Bei vielem! Bei der Vergegenständlichung meiner Arbeit. Ich bin glücklich, im Wald die Vögel singen zu hören, Zeitung zu lesen bei gutem Kaffee, Kultur in jeder Form aufzunehmen, die Teige zu kneten für das Gebäck … Ich fühle kein Loch in mir, in dem ich unzufrieden wäre und mich fragte: Warum mache ich das überhaupt? Der Sinn des Lebens ist, glücklich zu sein und zu leben – nicht über das Leben nachzudenken, sondern wirklich zu leben. Was Menschen jeweils ausleben, kann völlig unterschiedlich sein. Die Grundlage meines Glücklichseins erkläre ich immer mit dem Spruch im Faust, »dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält«. Was das ist, weiß ich durch Marx. Mir ist bewusst, dass alles hier durch menschliche Arbeit und die Kräfte der Natur entstanden ist.

Heißt das auch, dass du mehr Hoffnung als Sorgen hast, wenn du auf die gesellschaftlichen Entwicklungen schaust?
Die finde ich sehr spannend. Ich mache mir auch Sorgen – aber nicht wirklich. Zum Beispiel die AfD – Marx hat gesagt: Jedes Ding ereignet sich zweimal auf der Welt; erst als Tragödie  – das war Hitler – und dann als Farce. Wenn die AfD glaubt, dass das Großkapital hinter ihr stehe, dann kann ich sie nur enttäuschen: Das will billige, junge, arbeitswillige Menschen aus dem Ausland. Die Statistiken beweisen, dass die Zuwanderung nicht Geld kostet, sondern die Sozialwerke saniert. Ich finde es eher gefährlich, dass viele Junge kommen, die bereit sind, für jeden billigen Lohn Arbeit anzunehmen. Das stellt uns vor enorme Probleme. Heute sehe ich aber auch Positives: Eine Bewegung wie Avaaz hätten wir uns vor 20 Jahren nicht träumen lassen. Klar müssen die Rentner Angst haben, dass sie verarmen. Aber so, wie die Banken in zwei Tagen gerettet wurden, könnte der Bundestag innerhalb eines Tages beschließen, die Renten zu verdoppeln. Es ist nur eine politische Frage: »Wie entscheiden wir uns?«
Mich macht es richtig froh, wenn Leute erkennen, wie schön das Leben ist – wenn zum Beispiel irgendwo ein Fest stattfindet, alle es gemütlich haben und ein Funke überspringt. Das ist wie die Vorwegnahme des Glücksgefühls, das man jeden Tag haben könnte, denn eigentlich könnten wir jeden Morgen aufstehen und sagen: »Wie schön ist das Leben!« Ich weiß, dass es möglich ist, und das will ich vermitteln.


Raffael hat mir gezeigt, dass ein Marxist und eine Buddhistin zur selben Haltung zum Leben gelangen können: dass das Leben um des Lebens willen gelebt werden will. Dabei hilft ein Tun in Gleichmut oder besser – in Freude. Wieder fand ich bestätigt, wie wichtig familiäre Unterstützung für ein gutes Leben ist. Raffaels Eltern haben immer zu ihm gestanden. Sein Vater sagte, dass er es bewundere, wie Raffael sein Schicksal in Würde und Überzeugung trage. Ich freue mich schon auf neue Kekskreationen von Raffael und weitere anregende Begegnungen.

 

Raffael Zimmermann (60) trat während seines Studiums in Freiburg in die Deutsche Kommunistische Partei ein. Er durfte nicht als Lehrer arbeiten und wurde Möbelpacker. Heute verkauft er Gebäck. Das künstlerische Werk seines Vaters hat er auf www.elmar-zimmer­mann.de zugänglich gemacht. www.teegebaeck-raffael.de

Anne Meinke (53) lebt in Freiburg. Als chronisch Neugierige unterhält sie sich gerne mit unterschiedlichen Leuten über deren Weltsicht. Sie ist Sozialpädagogin, hat in verschiedenen Berufen – von Erzieherin bis Barfrau – ­gearbeitet und sucht heute neue Aufgaben.

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