Buchtipps

Die Grenze (Buchbesprechung)

von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #52/2019
Photo

In einem Vortrag über »Die Macht der Bedürfnisse« stellte Marianne Gronemeyer 2011 in Aussicht, einmal eine »Kulturgeschichte des Zauns« schreiben zu wollen. Was diese betrifft, muss sich die geneigte Leserschaft noch gedulden – stattdessen lädt der vorliegende Band zu profunden philosophischen Erkundungen über Barrieren, Schwellen und Grenzen ein.
Angesichts aktueller Bestrebungen in aller Welt, ökonomische, soziale, ethnische und nationale Mauern zu errichten und zu verfestigen – bei gleichzeitigen Lippen­bekenntnissen, Barrieren abbauen zu wollen –, könnte das Thema dieses Buchs nicht zeitgemäßer sein, auch und gerade dank einer wohltuend unzeitgemäß anmutenden sprachlichen Sensibilität und denkerischen Tiefe.
Ausgangspunkt und roten Faden des Buchs bilden Reflexionen über Ivan Illichs späten Essay »Philosophische Ursprünge der grenzenlosen Zivilisation«. Daran anknüpfend, plädiert Gronemeyer dafür, »wahre Grenzen« zu erkennen und zu wahren, anstatt vermeintliche Grenzenlosigkeit zu propagieren und gleichzeitig »hermetische Grenzen« und »fiktive Grenzen« aufzubauen. Was bedeutet das? »Hermetische Grenzen« gleichen undurchdringlichen Gefängnismauern – die innerdeutsche Mauer, die »Festung Europa«, die Grenzanlage zwischen den USA und Mexiko. »Fiktive Grenzen« hingegen werden mit großem Aufwand gezogen, um Gleiches von Gleichem zu scheiden – Pepsi von Cola, diesen von jenem Modetrend, identisch anmutende Innenstädte.
Was sind nun »wahre Grenzen«? Zunächst einmal unterscheiden sich diese grundsätzlich von »Grenzwerten«, die – ähnlich den Schulzensuren – Qualität durch Quantität ersetzen, worin die Autorin einen Ausdruck der »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt) erkennt. Jenseits also von Abschottung, Gleichmacherei und Grenzwertlogik zeichnen sich etwa landschaftliche Grenzen oder die Grenze zwischen Du und Ich eben dadurch aus, dass sie als »Hüterin der Verschiedenheit« Unterschiedlichkeit wahren und Verbindung durch Überschreitung ermöglichen: Die Verschiedenheit markiert die Grenze, und die Grenze markiert die Verschiedenheit. Werden solche Grenzen eingeebnet, wird Ungleiches gleichgemacht, und das bedeute »in erster Linie einen kulturellen Untergang und nicht, wie wir unbedacht meinen, Freiheit.«
Solche Begriffsschärfungen und Dekonstruktionen manipulativen Sprachgebrauchs wechseln sich mit persönlichen Reflexionen ab, etwa über Begegnungen mit geflüchteten Menschen an einem abgeriegelten deutsch-österreichischen Grenzübergang. Mit sprachlicher Exaktheit, wurzeltiefem Denken und phänomenologisch geschultem Blick ist Marianne Gronemeyer ein ungemein gehaltvolles und scharfsinniges, ja, beglückendes Buch gelungen.


Die Grenze
Was uns verbindet, indem es trennt. Nachdenken über ein Paradox der Moderne.
Marianne Gronemeyer
oekom, 2018, 240 Seiten
ISBN 978-3962380489
22,00 Euro

weitere Artikel aus Ausgabe #52

Photo
von Maria König

»Ich bringe mich mit allem ein«

Beim Nachdenken darüber, mit wem ich für diese Ausgabe ins Gespräch kommen will, fällt mir Willow Proctor ein. Ich kenne sie als Gastgeberin von Redekreisen und Schwitzhüttenritualen einer von indigenem Wissen inspirierten Versammlungs- und Heilkultur. Ihr Engagement

Photo
von Julia Fuchte

Politik der Gabe (Buchbesprechung)

»Die Geschichte der Menschheit ist keine Geschichte des Tausches, sondern eine der Gabe!« Das zeigt der Soziologe Frank Adloff in seinem Buch »Politik der Gabe«, womit er die Debatte über alternatives Leben und Wirtschaften um eine interessante Denkfigur bereichert. Mit

Photo

Mut gewinnen, Fragen zu stellen

Während die Interviews für diese Ausgabe entstanden, pflegten die daran Beteiligten einen regen Austausch. Schnell waren wir nach den ersten Eindrücken bei der Frage angekommen, wie wir damit umgehen sollten, wenn uns einzelne Aussagen in den Interviews irritierten. Wie kann ich

Ausgabe #52
Menschen wie du und ich

Cover OYA-Ausgabe 52
Neuigkeiten aus der Redaktion