Die Aktivistin Helen Britt sprach mit drei Mitstudierenden an der Kunsthochschule Kassel.von Helen Britt, Ardahan Aksoy, Valentin Scharf, Julia Majewski, erschienen in Ausgabe #52/2019
Eigentlich dachte ich immer, ich sei eine Brückenbauerin. Ich habe immer gerne verschiedene Menschen miteinander vernetzt, mir Meinungen angehört und Brücken über tiefe Schluchten unterschiedlicher Ansichten gebaut. Doch irgendwie habe ich mich im letzten Jahr tiefer in meine soziale Blase zurückgezogen, in der ich fast immer über Utopien wie selbstbestimmte Bildung und Aktivismus sprechen kann. Immer mehr habe ich dabei das Verständnis für Menschen verloren, die nicht so denken wie ich. Ich fühlte mich frustriert, hatte keine Lust mehr, mich ständig für meine Hoffnung auf eine bessere Welt zu rechtfertigen, und wurde ungeduldiger und urteilend im Kontakt mit »unpolitischen« Menschen. Ein Teil in mir hat aber die Gefahr solcher Denkmuster erkannt und mich kurzerhand an der Kunsthochschule in Kassel eingeschrieben, um mich raus aus meiner Blase zu scheuchen. Der erste Tag an der Uni war eine Qual. Ich traf nur Menschen, die sich gerne über Pinselstriche, umweltschädliche Farben und Partys unterhielten, außerdem hierarchische Strukturen voller Bürokratie und Konkurrenz. All die Möglichkeiten für Vernetzung und Kreativität verschwanden hinter einem Gefühl der Einsamkeit. Im ersten Semester verbrachte ich insgesamt fünf Tage an der Hochschule, bevor ich mich wieder »wichtigeren« Dingen zuwandte und ein Hausprojekt mitgründete. Für Kunst, entschied ich, würde ich mir dann Zeit nehmen, wenn die Welt gerettet wäre. Auch jetzt, ein knappes Jahr später, bin ich keine Freundin des blinden, stressigen Studierens oder der privilegierten Kunstblase geworden, doch habe ich gemerkt, dass ich üben will, wieder mit Menschen in Kontakt zu kommen, die mich zunächst vielleicht nicht verstehen. Das Urteilen hat mich ihnen kein Stückchen näher gebracht und auch meine Welt nicht reicher werden lassen. Daher will ich die Menschen hinter ihren gesellschaftlichen Rollen entdecken und von dort aus gemeinsam Lösungen finden. Als ich die Idee eines Interviews für Oya in die WhatsApp-Gruppe meiner Klasse schreibe, bin ich überrascht, wie viele Menschen Lust haben, mit mir ein Gespräch über gesellschaftskritische Themen zu führen. Ein paar Tage später treffe ich mich dann mit Julia, Ardahan und Valentin an der Uni, in einem Raum voller bunter, für mich rätselhafter Kunstwerke. An Julias Arbeitsplatz hängt seit ein paar Tagen eine Installation aus bunten Tüchern, die sie an die Fenster und ans Geländer geknotet hat. Valentin hat sich ein Schachbrett auf seinen Arbeitstisch gemalt, in den er nun auch seine Gewinnstatistik einritzt und an dem sich Menschen treffen, um mal eine Pause zu machen. An Ardahans Platz steht ein großes Musikinstrument – aus Trommeln, langen Spiralfedern und dem Teil eines Cellos mit zwei Saiten –, das mich an ein großes Ungeheuer erinnert. Mit allen dreien habe ich schon über das Leben in Gemeinschaft gesprochen und konnte mich darüber mit ihnen verbinden. Wenn er in Kassel ist, lebt Ardahan, genau wie ich, bei Freundinnen und Freunden und wartet so auf die Möglichkeit, anders zu wohnen als »nur« in einer Wohngemeinschaft. Valentin schickt mir ab und zu Bilder von großen, leerstehenden Häusern bei ihm auf dem Land und schreibt dazu: Das hier wäre auch schön für eine Gemeinschaft. Wir entscheiden uns, das Gespräch in einem ruhigen Nebenraum zu führen.
[Helen Britt]Worüber macht ihr euch derzeit Sorgen, wenn ihr die gesellschaftliche Entwicklung oder diejenigen in eurem Umfeld anschaut? [Julia Majewski] Ich mache mir Sorgen um die Umwelt. Ich frage mich viel, wie ich kleine Schritte in die richtige Richtung gehen kann – kein Plastik verwenden zum Beispiel. Es ist aber zermürbend, das immer wieder mit sich selbst auszuhandeln, da Energie hineinzustecken und gleichzeitig Teil dieser Konsumgesellschaft zu sein und nicht aussteigen zu können. [Ardahan Aksoy] So große Themen wie Umweltverschmutzung machen mir auch Sorgen, aber vor allem, dass wir jungen Menschen im Medien- und Konsumrausch versinken. Wir sind so vollgeladen mit Emotionen, mit Problemen, dass wir uns gar nicht mehr aufraffen können, mutig zu sein. Alle sind an ihrem Handy und stecken in einem Überfluss der Realitäten. Ich habe die Sorge, dass wir uns alle krank machen, mediensüchtig im Bett liegen und die nächste Revolte verpassen. Eigentlich haben wir doch Potenzial, und es stehen große Sachen an. Aber irgendwie fühle ich mich mit vielem auch allein.
Könnt ihr in eurem Leben Dinge verwirklichen, die euch wirklich, wirklich wichtig sind? Hindert euch etwas daran? [Ardahan Aksoy] Momentan ist es für mich zum Beispiel wichtig, dass ich in dem, was ich mache, vorankomme. Hier an der Kunsthochschule fühle ich mich total frei, das zu tun, weil das so ein autonomer Raum ist. Für mich ist eher die Frage spannend, ob ich das, was ich mir erträume, verwirklichen kann. Dafür fehlen mir dann Leute, die mitmachen. [Julia Majewski] Vielleicht fehlt da auch einfach Kommunikation? [Ardahan Aksoy] Ja, auf jeden Fall! [Valentin Scharf] Wenn mir etwas wirklich wichtig wäre, würde ich das verwirklichen können. Aber ich glaube, mir sind keine Sachen wichtig genug. Ich habe das Gefühl, dass ich hier in der Gesellschaft großen Rückhalt habe. Eigentlich habe ich noch nie eine Leistung erbracht und hatte trotzdem immer alles, was ich brauchte, auch durch gesellschaftlich anerkannte Jobs und so. So bin ich ganz zufrieden. Der Verwirklichung meiner Ziele, stehe ich, wenn, dann selber im Weg. [Julia Majewski] Ich habe eher ein Problem mit dem Gegenteil: Dass ich oft sofort dem folge, was mir wichtig ist, dass dabei aber die Vernunft flachfällt. Wann ist es gut, den Träumen zu folgen? Und wann ist es auch in Ordnung, erstmal durchzuatmen?
Habt ihr denn ein Gefühl dafür, was euch wirklich wichtig ist? Fühlt ihr vielleicht eine Bestimmung, eine Lebensaufgabe? [Valentin Scharf] Ich habe da so eine Idee, aber die ist schwer in Worte zu fassen. Hmmm. Eine positive Gläubigkeit. Eine liebevolle Art, die sehr vom Vertrauen zum Leben geprägt ist. Wenn ich der bisher folgen konnte, war ich immer erfolgreich. [Julia Majewski] Ich glaube gar nicht, dass es so »ein« Ding gibt, für das ich bestimmt bin, oder »eine« Sache, die ich erreichen will. Ich versuche, jeden Tag zu schauen, was gut ist. Mich interessiert vieles, und das macht mich reich als Mensch. [Ardahan Aksoy] Ich habe in mir schon manchmal so ein Sehnsuchtsgefühl, wo ich nicht genau weiß, was das ist. Das macht es ein bisschen schwierig. Gerade bin ich dabei, mich durch das künstlerische Schaffen selbst zu finden. Das ist ein Prozess, der sich von Tag zu Tag auch ändert. Ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg, ich folge dem Sehnsuchtsgefühl.
Nach diesen Antworten überlege ich kurz, wie ich selbst eigentlich antworten würde. Ein Sehnsuchtsgefühl kenne ich gut, und auch das Vertrauen ins Leben und Offenheit für jeden Tag. Irgendwie freut es mich, dass die drei das so beschrieben haben, weil diese Gefühle mir zeigen, dass sie ihren Herzen folgen.
Was macht euch glücklich? [Ardahan Aksoy] Mich macht es glücklich, wenn ich das Gefühl von Zugehörigkeit habe. In Momenten, wo ich das fühle, ist eine Energie in der Luft, die vervollständigt mich. Das kommt manchmal zusammen mit anderen Menschen, aber auch, wenn ich alleine bin oder wenn ich male.
Und was unterstützt euch im Alltag? [Julia Majewski] Mich unterstützt geteilter Humor; lachen zu können über Sachen, auch alleine. Ich habe irgendwann gelernt, mir selbst eine gute Freundin zu sein, das ist echt wichtig! Und Musik bringt mich oft wieder auf einen guten Weg! Ich habe auch wieder angefangen, mehr zu lesen und in anderen Welten zu versinken, wenn es hier kalt und grau ist. Gerade lese ich ein Buch über Griechenland, dort ist es hell und warm, und dadurch wird es in mir auch ein bisschen hell und warm. Bücher sind gut!
Auf dem Nachhauseweg frage ich mich, was ich in dem Gespräch gelernt habe. In mir kommt immer wieder das Bild von sozialen Blasen und Brücken auf, auch die Frage, wo ich stehen will. Ich weiß, dass die Zeit in meiner Blase sehr heilsam für mich war, dass ich dort lernen konnte, ich selbst zu sein und meinem Sehnsuchtsgefühl zu folgen. Ich weiß jetzt aber auch, dass ich sie nicht mehr so dringend brauche. Offene Fragen zu stellen, hat mir die Möglichkeit gegeben, zu sehen, dass ich überall kleine, ehrliche Räume schaffen kann, die dann auch wie Seifenblasen wieder zerplatzen dürfen. Wenn ich das nächste Mal mit den dreien spreche, wird es aber jedenfalls schon eine Brücke geben, über die wir uns schneller verbinden, verstehen und bereichern können.
Ardahan Aksoy (22) malt gerne mit grellen Farben und macht Musik. Julia Majewski (23) beschäftigt sich mit Feminismus, reist gerne und dreht kunstvolle Filme. Valentin Scharf (23) ist ein junger Mann, der dem Leben vertraut und gespannt erwartet, was es bringt.