Matthias Fellner erkundet mit der Sozialarbeiterin Sigrid Steimel die Grenzen der eigenen Berufstätigkeit.von Matthias Fellner, Sigrid Steimel, erschienen in Ausgabe #52/2019
Was macht ein gutes Gespräch aus? Sind es die richtigen Fragen oder inspirierende Antworten – oder geht es um etwas anderes zwischen den Zeilen? Während der drei Jahre, die ich in der Oya-Redaktion mitwirke, habe ich das Interview-Format bisher nicht genutzt. Vor dieser Premiere verspüre ich nun leichte Nervosität. Sigrid Steimel habe ich vor ein paar Monaten bei einem Abendessen in ihrer Kölner Wohnung kennengelernt. Sie ist seit einer gemeinsamen Körpertherapie-Ausbildung mit meiner Partnerin befreundet und wohnt in einer einfachen Dreizimmerwohnung. Ich habe Sigrid bislang nur als berufstätigen Stadtmenschen kennengelernt und kann schlecht einschätzen, ob sie an Oya-Themen interessiert ist. Das Gespräch kommt vormittags zustande. Wir machen es uns auf dem Sofa bequem. An den Wänden hängen Fotos von ihren Reisen, eine junge Katze spielt mit einem Wollknäuel. In den ersten Minuten unseres Gesprächs bin ich fast enttäuscht, festzustellen, wie intensiv sich Sigrid schon mit enkeltauglichen Lebensweisen beschäftigt hat. Doch ermöglicht es uns dieser Umstand dann, unsere Themen aus Sigrids therapeutischer Perspektive zu beleuchten und uns an einige sensible Fragen heranzuwagen. Tatsächlich verliere ich bei dem intensiven Dialog bald jedes Gefühl für Raum und Zeit.
[Matthias Fellner] Was bereitet dir Sorge, Sigrid? [Sigrid Steimel] Mich besorgt, dass Wohnen in den Städten immer teurer wird. Es beunruhigt mich, wie viel Zeit man aufbringen muss, um sich ein eigenes, würdevolles Auskommen zu sichern. Ich habe das Gefühl, dass es all den Menschen, die nicht die gleichen Ressourcen oder Bildung haben wie ich als Akademikerin, immer schwerer fällt, ihre Grundbedürfnisse zu decken.
Wie ist das in deinem näheren Umfeld? Was für Probleme und Herausforderungen begegnen dir dort? Bei einer Freundin ist es beispielsweise gerade so, dass sie nicht ihren beruflichen Interessen und Stärken nachgehen kann, da sie hierfür nicht die notwendigen Abschlüsse hat. Ich finde es ungerecht und traurig, dass unsere Bildungs- und Berufswelt für viele Menschen so einschränkend ist. Ein weiteres Thema, das gerade häufig in meinem Umfeld vorkommt, sind die Herausforderungen für alleinerziehende Eltern. Das betrifft mich ja selbst, und ich frage mich, wie ich meine Energie so verteilen kann, dass ich mich um mein Kind kümmere, meinen Job gut mache und gleichzeitig genug Auszeiten habe, um meine Freunde zu sehen und Sport zu treiben. Ich glaube, das ist heutzutage besonders für Frauen sehr herausfordernd. Ich kenne wenige Männer, die damit kämpfen, das alles gleichzeitig zu meistern. Hast Du eine Vision davon, wie ein gutes Zusammenleben aussehen könnte? Ja (lacht), ich habe da schon ganz lange so eine Idee: Ich sehne mich nach einem Zentrum, zu dem Leute Sachen bringen, die sie nicht mehr brauchen. Das Ganze soll mit Spenden finanziert werden. Jüngere und ältere Menschen arbeiten dort ehrenamtlich. Jeder, der etwas braucht, kann dort hingehen und sich abholen, was er will. Man kann die Milch hinbringen, die man noch übrig hat. Aber auch große Handelsketten oder Besitzer von Streuobstwiesen können dort ihre überschüssigen Produkte vor dem Verfall bewahren. Es soll ein Ort sein, wo man Kontakte knüpft und sich gegenseitig hilft.
Trägt deine Tätigkeit als Sozialarbeiterin zu so einer Vision bei? Was tust du, um dieser Vision näherzukommen? Das ist eine gute Frage. Wenn ich ganz ehrlich bin, glaube ich, dass meine therapeutische Arbeit tatsächlich dem zuwiderläuft – obwohl es eigentlich ein sozialer Beruf ist. Ich bin in einem großen, institutionellen Apparat, und die Psychiatrie als System ist schon sehr konträr zu dem, woran ich glaube. Die derzeitige Psychiatrie funktioniert hauptsächlich durch Medikamente. Wenn Menschen auf der Station unruhig werden und an ihre Themen herankommen, dann werden sie sofort mit Tabletten versorgt. So wie ich therapeutische Arbeit verstehe, müsste man gerade solche impulsiven Momente fördern und daran weiterarbeiten, statt sie zu unterdrücken. Aber dadurch, dass ich dort arbeite, stütze ich das System mit seinen Praktiken. Ich bin da sehr gespalten: Einerseits habe ich einen tollen Job mit vielen Freiheiten, ich habe einen tollen Chef und ein eigenes Büro – andererseits spüre ich, dass diese Art zu arbeiten ein Ende haben muss. Ich hätte aber natürlich gerne weiterhin all die Sicherheiten!
Ist das nicht ein Zwiespalt, in dem unsere gesamte Gesellschaft steckt? Wir wollen die Sicherheiten nicht aufgeben, die das bestehende System uns bietet, wissen aber gleichzeitig auch, dass es so nicht weitergehen kann. Was könnte aus deinem Kontext heraus ein erster Schritt sein, um aus dieser Zwickmühle zu kommen? Man muss sich diesen Zwiespalt erst einmal bewusstmachen, allein das hilft schon. Ich war gerade zwei Wochen im Urlaub in Vietnam, und dort sind mir die vermüllten Strände und das Kaputtmachen der Natur wieder schmerzlich aufgefallen. Mir wurde klar, dass wir als Menschheit niedergehen. Der Haken daran ist wohl, dass wir die Bequemlichkeiten nicht aufgeben wollen. Ich merke, wie schwierig das für mich ist, weil ich mich an so vieles gewöhnt habe. Ich komme ja aus der Generation der 1970er, wo wir als Kinder buchstäblich alles bekommen haben. Wir sind allerdings auch diejenigen, die jetzt dem Ganzen auf den Grund gehen und merken, was für einen gesundheitlichen und seelischen Preis wir für diesen Wohlstand gezahlt haben.
Wie mir scheint, liegen die Veränderungspotenziale für dich eher außerhalb der Arbeit: Etwa darin, wie man mit seinen Mitmenschen umgeht oder wie man seinen Urlaub gestaltet. Der unveränderbare »Granitblock« scheint dagegen der Arbeitsplatz zu sein. Dieser bietet Sicherheit – läßt uns aber gleichzeitig ein System reproduzieren, an das wir nicht mehr glauben. Wie geht es dir damit? Ich könnte mir durchaus vorstellen, auch den Arbeitsplatz zu wechseln. Allerdings halten mich viele von meinen Eltern übernommene Glaubenssätze davon ab. Etwa, dass man seine Arbeit nicht verlässt. Dass die Sicherheit im Vordergrund steht. Dass ich mein Kind zu versorgen habe. Dass ich so viel Geld nie wieder verdienen werde… Als ich meine vorherige Arbeitsstelle verlassen habe, hat mein Vater gesagt: »Man kündigt keine Arbeit.« Er hat meine damalige Entscheidung nicht verstanden. Seiner Meinung nach muss man sich durchbeißen und darf nicht einfach hinschmeißen.
Ich fand das, was du vorhin gesagt hast, interessant: Wir sind die Generation, der es am besten geht, aber auch die, die ein riesiges, ererbtes Lastenpaket zu tragen hat. Wie willst du damit umgehen? Das betrachte ich gerne von einer seelischen Ebene aus, denn ich glaube an die Wiedergeburt und gehe davon aus, dass wir mit jeder Inkarnation besondere Aufgaben zu bewältigen haben. Es ist wohl die spezifische Herausforderung dieser Zeit, dass wir unseren materiellen Wohlstand nutzen, um uns mit inneren Heilungsprozessen zu beschäftigen. Ich sehe es als großen Luxus an, dass wir hier sitzen können und uns über diese Themen austauschen. Damit habe ich mich auch in der Psychologie beschäftigt; man nennt das Forschungsfeld dort die transgenerationale Weitergabe von Traumata. Vor meinem inneren Auge sehe ich dann manchmal meine gesamte weibliche Ahnenlinie, die auf mich guckt und jubelt: »Du gehst das jetzt an!« Da bekomme ich das Gefühl, dass ich viele alte Stricke löse.
Nach dem Gespräch stellten wir fest, welch eine schöne, vertrauensvolle Atmosphäre entstanden war. Im Nachhinein denke ich, dass es vielleicht das ist, was ein gutes Gespräch ausmacht: der gemeinsame, wertschätzende Raum – ein Raum, in dem Sorgen und Ängsten achtsam nachgegangen werden kann und wo man nach Gemeinsamkeiten sucht. Zugleich empfand ich das Interview auch als eine recht kräftezehrende Angelegenheit, denn für mich war es herausfordernd, intuitiv die Richtung des Gesprächs zu lenken und mich vom Gesagten steuern zu lassen. Es hat sich angefühlt wie der gemeinsame Blick in eine Glaskugel, in der wir uns beobachteten und nach und nach mehr über die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Zusammenhänge erfuhren.
Sigrid Steimel (28) berät seit 2010 als Sozialarbeiterin Betroffene und Interessierte bei psychischen Erkrankungen im Alter. Sie beschäftigt sich darüber hinaus in ihrer Freizeit mit diversen Fragen zu nachhaltiger Lebensführung, Selbsterfahrung und Körperarbeit.