Ursula Späte-Schumacher sprach mit ihrem Nachbarn, dem Optiker Lukas Lange, über seinen Lebensweg.von Ursula Späte-Schumacher, Lukas Lange, erschienen in Ausgabe #52/2019
In dem 24-Parteien-Haus in Köln gibt es wenig Gemeinschaftliches. Nach unserem Einzug im Jahr 2010 hatten wir per Aushang im Fahrstuhl ein hausgemeinschaftliches Treffen angeregt – und vom Vermieter die klare Ansage bekommen, er wolle in seinem Hausflur prinzipiell keine Aushänge sehen. So bleiben die 24 Mietparteien wie 24 Blasen, die Etagenflure, das Treppenhaus und der Fahrstuhl wie deren Rand- und Übergangszonen. Lukas Lange repräsentiert eine der vier Blasen-Mietparteien auf unserer Etage. Über die Jahre blieb es nun bei zufälligen Begegnungen in diesen Randzonen. Wir erleben dort viel Freundlichkeit. Manchmal kommt es dabei sogar zu ein wenig Austausch: Lukas haben wir vorletzten Sommer eine unserer ungewöhnlichen Tomatenpflanzen für seinen kleinen Balkon geschenkt, ein anderes Mal überließ er uns seinen hochwertigen Teppich, der vor seiner Wohnungstür im Flur für den Sperrmüll zusammengerollt stand. Wenn uns mal gerade etwas im Haushalt fehlt, ist er aus bisher unreflektierten Gründen der erste, bei dem wir anklingeln. Nach der Jahreswende treffe ich Lukas im Hausflur. Er nimmt mir wie selbstverständlich eine der Taschen, die ich gerade hochtrage, aus der Hand, und ich frage ihn, ob er Lust auf ein Interview hätte. Er sagt zu. Ich arbeite im Alltag als Psychotherapeutin. Ständig befrage – in der Fachsprache »exploriere« – ich in diesem Rahmen Menschen. Das führt bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seelen und braucht viel Zeit und Raum. Für das Experiment des Interviews schlüpfe ich nun in eine journalistische Rolle. Das Terrain ist für mich sehr unsicher. Was ist in dieser Rolle eigentlich erlaubt, was gefordert? In meinem Körper breitet sich ein vages, dumpfes Gefühl aus. Gleichzeitig steigt aber auch eine lebendige Frische in meinen Hinterkopf, und ich weiß, dass ich wieder etwas Neues lernen kann. Zu unserem Gespräch habe ich eine Freundin, die Künstlerin Saskia Niehaus, eingeladen. Vor einigen Monaten sprachen wir über ihre Gewohnheit, bei Telefonaten und in Gesprächen intuitiv ins Zeichnerische zu gehen. Sie überlegte, daraus eine eigene Kunstform zu entwickeln. Wir fragen Lukas, und es ist für ihn in Ordnung, dass Saskia das Gespräch zeichnerisch begleitet.
[Ursula Späte-Schumacher] Lukas, nachdem du inzwischen in einem der beiden Oya-Hefte geblättert und einiges daraus gelesen hast – was hat dich darin angesprochen? [Lukas Lange] Ich habe einige Artikel, die über besondere Kenntnisse und Erfahrungen einiger alter Menschen berichteten, mit Interesse gelesen. Manche alte Menschen haben ja ganz besondere Fertigkeiten und Wissen weiterzugeben. Das, was sie jungen Menschen geben können, finde ich wichtig. Mich beeindruckt in diesem Zusammenhang auch die japanische Kultur, in der die »weisen Alten« viel stärker geehrt werden. Wie könnten wohl bei uns das Alter und das Wissen der Älteren wieder mehr wertgeschätzt werden? Hier werden alte Menschen oft an den Rand gedrängt.
Ich denke oft darüber nach, was an »Altem« und »Althergebrachtem« in unserer Gesellschaft besser sterben und zu Grabe getragen werden sollte. Ganze Generationen sind damit beschäftigt, aus etwas herauszuwachsen, das es hinter uns zu lassen gilt. Ob unsere Erziehungs- und Schulsysteme besonders dazu beitragen, bezweifle ich manchmal … Ja, das stimmt. Wenn ich an meine Kindheit denke, muss ich sagen, dass mich unser Schulsystem nicht sehr inspiriert hat.
Wie hast du denn nach der Schule für dich selbst Orientierung gefunden? Ich hatte eine Sturm-und-Drang-Zeit und bin von Köln, wo ich aufgewachsen bin, nach Bremen gegangen. Das ist eine tolle Stadt mit einer Uni in linksliberaler Tradition! Damals hatten sich dort viele Ikonen der Sonderpädagogik aus der ganzen Welt versammelt; es wurde Pionierarbeit geleistet, zum Beispiel zur Frage nach Integration und Inklusion. Zu Beginn meiner Zeit dort war das noch so, später flachte es leider ab. Ich studierte damals Lehramt und Sonderpädagogik. Beides unter einen Hut zu bekommen, war schwierig, immer stand ich dazwischen. Ich habe letztlich nicht das richtige Fahrwasser gefunden und das Studium abgebrochen.
Während Lukas von seinem Studium erzählt, sprüht er vor Lebendigkeit. Er scheint noch immer für die Themen zu brennen. Ich erfahre dabei, dass »Ästhetische Erziehung« nicht bedeutet, jemandem bestimmte Vorstellungen und Regeln von Schönheit oder Passung zu vermitteln, sondern im Wesentlichen: die Sinne zu wecken. Das ist etwas zutiefst Schönes und Lebendiges, denke ich. Wie schade, dass der Begriff »Ästhetik« im Alltagssprachlichen so verkümmert und verzerrt erscheint.
Lukas, wie ging dein Lebensweg weiter? Ich fing eine Ausbildung zum Optiker an. Das Optikerhandwerk ist in meiner Familie sehr nah und vertraut. Schon mein Opa ist Optikermeister gewesen. Ich gerate vielleicht ein bisschen nach ihm. Mich begeisterten das praktische Tun, die Genauigkeit und Perfektion, die hier benötigt werden. In Bremen hatte ich einen tollen Menschen als Ausbilder, Carsten Frenz. Ich habe in seinem Betrieb ein Praktikum absolviert, bei dem ich gefühlt für einen Monat nur an einem einzigen Kubus gefeilt habe. Genau das hat mir Freude gemacht, meine Finger hatten eine Spielwiese, es ging um Präzision. Am Ende des Praktikums hieß es anerkennend: Du kannst hier eine Ausbildung machen. Nach Abschluss der Lehre ging ich nach Köln zurück. Irgendwie hatte ich das Gefühl, hier noch eine »Rechnung offen zu haben«.
Hast du einen guten ersten Arbeitsort gefunden? Erst dachte ich: Wow, so ein witziger, netter Chef. Er klang so locker und lässig. Leider entpuppte er sich als Narzisst par excellence. Nach zwei Wochen fing er an, mir Angst zu machen, hat immer Grenzen überschritten. Trotzdem bin ich acht Jahre geblieben, denn ich wollte kontinuierlich Berufserfahrung sammeln. Ich habe die Dinge so hingenommen, wie sie waren, aber es war eine schaurige Atmosphäre. Irgendwann hat es mir den Stecker gezogen. Ich holte mir rechtliche Beratung, um den Absprung zu schaffen. Zum Glück unterstützte mich meine Hausärztin und schrieb mich krank – und ich machte eine Psychotherapie. Wenn Lehrer Burnout haben, fallen sie weich. Ich musste erstmal jemanden finden, der mir meine Geschichte glaubte. Es war gut, dass ich den Mut hatte, zu gehen. Jetzt, eineinhalb Jahre später, möchte ich wieder eine neue Arbeitsstelle als Optiker finden. Ich will jetzt erstmal einfach als Optiker arbeiten, keine großen Sprünge machen, sondern Normalität leben.
Wir pendeln zwischen Exkursen in Biografischem und konkreten Oya-Inhalten. Ich traue mich nicht, das Gespräch stärker zu führen, fürchte, zu sehr in »Exploration« abzugleiten. Die Ausgabe 39 »Wir werden konservativ« hat Lukas mit Interesse gelesen. Anekdotisch erzählt er von einer kürzlichen Kneipen-Begegnung mit einem Bauern, der ihm, beide am Tresen sitzend, seinen auf dem Markt übriggebliebenen Grünkohl für 1,50 Euro verkauft hat. Morgens hat er dann entdeckt, dass der Grünkohl mit Tausenden von kleinen, toten Fliegen belegt war.
Konntest du den Grünkohl verarbeiten? Ich habe die Fliegen weggebürstet, den Grünkohl gewaschen und ihn zubereitet. Das war es mir wert. Einmachen, einkellern, Maschinen selbst bauen, die verschiedenen Lebensmittel haltbar machen, das finde ich gut. Ich selber versuche in meiner kleinen Experimentierküche, Dinge einzumachen. Althergebrachtes lässt sich mit neuer Technik und neuem Wissen verbinden. Mir kommt Oya etwas rückwärtsgewandt vor, aber das ist mir durchaus sympathisch.
Einmachen ist nicht so mein Spezialgebiet, ich bin auch keine begeisterte Köchin. Aber du könntest auch Koch sein? Ja, auf jeden Fall. Ich habe auch schon einmal überlegt, in einer professionellen Küche mitzumachen. Eine Bekannte von mir arbeitet im Hostel »Weltempfänger« in Köln-Ehrenfeld. Die kochen dort in einer »kleinen Großküche« für den Mittagstisch von Menschen im Viertel. Sie hat mir ihre Küche einmal gezeigt.
Mir liegt die Frage auf der Zunge, warum Lukas bei diesem Projekt nicht mitwirkt, aber ich stelle sie nicht. Ich befürchte, nur die Antwort zu bekommen, dass damit nicht genug Geld verdient werden könne. Irgendwie möchte ich das nicht hören. Ob meine Vermutung überhaupt stimmt, prüfe ich nicht mehr. Wir sprechen schon lange. Ich habe dabei viel über Lukas erfahren. Erstaunlicherweise ändert sich dadurch nichts am Gefühl meiner persönlichen Nähe zu ihm. Sie war vorher so wie nachher. Nach dem Austausch dachte ich über die Atmosphäre nach, in der das Gespräch stattfand. Sie hat bei mir viele Fragen aufgeworfen: Was bedeutet »Raum geben«, »Raum nehmen«, »Raum halten«? Es wäre schön gewesen, wenn wir mehr Pausen in unserem Gespräch gehabt hätten. Wäre das eine Möglichkeit gewesen, den Gesprächsraum gut zu »pflegnutzen«? War der Gesprächsraum am Ende vielleicht etwas verwahrlost? Und wäre das »schlecht« – oder ist das eigentlich »Freiheit«?
Lukas Lange (38), Optiker, passionierter Freizeitkoch, kommt ursprünglich aus dem Bergischen Land, hat sein Herz aber in Bremen und lebt derzeit in Köln.
Ursula Späte-Schumacher (52) arbeitete in der klinischen Psychiatrie und an der Universität Dortmund. Seit 2006 ist sie freie Psychotherapeutin. Sie ist langjähriges Artabana-Mitglied und interessiert an Permakultur, Schenkökonomie und Salutogenese.