Wie sähe Kartografie in einer Gesellschaft aus, in der Natur nicht außen, sondern innen ist?von Stefan Sylla, erschienen in Ausgabe #53/2019
Ich habe an Karten geglaubt. Als Jugendlicher war es eine Liebhaberei, später, als ich Geografie studierte, wurden Karten zum wichtigen Instrument. Nach dem Abschluss war es die Kartografie, die mir den Lebensunterhalt sicherte, die mir das Gefühl gab, gebraucht zu sein, und die zum Ausgangspunkt eines langen, lebensprägenden Aufenthalts in Südostasien wurde. Ich war fest davon überzeugt, dass sich damit etwas Gutes für die Welt bewegen ließe. Karten haben mir dabei geholfen, mich zu orientieren. Sie fühlten sich wie mächtige Werkzeuge an. Sie bringen das unübersichtliche Chaos der Realität in ein geordnetes, mathematisches Muster aus Längen- und Breitengraden. Darin lag ein subtiles Gefühl der Macht, eine Technik zu beherrschen, mit der ich eine Unmenge an Daten und Informationen verarbeiten und diese in eine leicht verständliche, kartografische Visualisierung überführen kann. Wie genau funktioniert Kartografie heute? Was früher unter hohem Aufwand mit langwierigen Geländevermessungen, schwierigen Berechnungen und viel Fingerfertigkeit auf Papier gebracht wurde, findet heute fast komplett automatisiert mit Computern statt. Dabei spielt eine bestimmte Technik eine zentrale Rolle, die das Herzstück der modernen Kartografie ist: GPS, das »Global Positioning System«. Den meisten erscheint es heute als Kinderspiel, eine Navi-App auf dem Handy zu benutzen. Aber was passiert dabei eigentlich? Sobald ich diese App einschalte, logge ich mich ins Netz von 30 GPS-Satelliten ein, die die gesamte Erde 24 Stunden und 7 Tage die Woche permanent mit einer Frequenz von 1500 Megahertz (1,5 Millionen elektromagnetische Schwingungen pro Sekunde) bestrahlen. Dieses die gesamte Planetin umschließende Netz ist ein Meilenstein auf dem anvisierten Weg, die Erde in ein hochpräzises, mathematisches Modell zu überführen, in dem alles noch genauer, effizienter und besser steuer-, plan-, durchführ- und vorhersagbar sein soll. Die überwältigende Macht, die in diesem technisch-mathematischen Blick auf die Erde liegt, war wohl ein Grund, warum ich während meiner Arbeit in dem kleinen südostasiatischen Binnenstaat Laos anfing, mich wie ein Eindringling zu fühlen. Meine Aufgabe war es, mit der Einführung von Satellitenbildern und computerbasierter Kartografie die Landnutzungsplanung vor allem in ländlichen Regionen zu unterstützen. Während wir durch die Dörfer und Berge fuhren, wussten wir immer genau, »wo« wir gerade waren, denn die Karten und das GPS zeigten uns ja ständig unsere Position und die einzuschlagende Richtung an. Darin lag ein Gefühl der Überlegenheit, aber auch eine unterschwellige Form von Gewalt gegenüber den Menschen, die in den Dörfern wohnten, mit denen wir kaum Austausch hatten, die wir nicht nach dem Weg fragten und mit denen wir uns auch nicht über ihr Dorf oder den Ort unterhielten. Die meiste Zeit waren wir mit unseren technischen Geräten und Karten beschäftigt. Ich begann, darüber nachzudenken, was moderne Kartografie wirklich bedeutet. Neben jenem Macht- und Kontrollanspruch repräsentiert GPS auch eine einschneidende Marke auf dem Weg der Entfremdung der Menschen von irdischen und kosmischen Zyklen. Um präzise Positionsbestimmungen zu ermöglichen, befindet sich an Bord eines jeden GPS-Satelliten eine Atomuhr, die die Zeit auf eine Milliardstelsekunde genau bestimmen kann – im Lauf von 138 Millionen Jahren wird diese Uhr keine einzige Sekunde vor- oder nachgehen. Ich frage mich, wie so eine Technik dabei behilflich sein kann, das Leben der laotischen Menschen oder auch mein eigenes lebenswerter zu machen? Welche Rechtfertigung gibt es für eine solch gewaltige Maschinerie, die Tausende von wissenschaftlich arbeitenden Menschen Dekaden ihrer Lebenszeit gekostet hat? Kann es sein, dass jener Blick auf die Welt, der uns während der Nutzung einer GPS-Navigation suggeriert wird, zutiefst unsere Vorstellung davon prägt, was die Erde zu sein habe? Nämlich ein berechenbarer Planet, dessen Bestandteile wir nur gut genug verstehen müssen, um sie in ein perfektes Modell zu pressen, in dem sich am Ende alles steuern und vorhersagen lässt? Vielleicht ist ja die Vorstellung von der Erde als einer mathematischen Kugel, die im Sonnensystem ihre berechenbaren Ellipsen zieht, eine der tieferliegenden Ursachen für den beklagenswerten Zustand, in dem unsere Planetin sich gegenwärtig befindet.
Wegweiser für eine andere Kartografie Wie aber können wir über die Erde sprechen, sie beschreiben und uns auf und in ihr bewegen, so dass wir uns unserer auf jeglicher Ebene wirkenden Verbundenheit mit und Abhängigkeit von der Erde wieder bewusstwerden? Zahlreiche Beispiele indigener Völker zeigen uns, dass es Wege der Erdbetrachtung gibt, die auf einem hohen Maß an bewusster Verbundenheit mit den Orten, von denen sie erzählen, gründen. Wenn ich heute allerdings mehrere Tausend Jahre alte polynesische Beschreibungen der Meeresströme, die Songlines der australischen Aborigines oder gemalte Landschaftserzählungen der nordamerikanischen Ersteinwohner betrachte, erscheinen sie mir unzugänglich, denn ich kenne nicht die Geschichten und besitze nicht die Augen, die nötig sind, um die Welt aus diesen Perspektiven zu begreifen und das tiefe Wissen zu entdecken, das darin verborgen liegt. Aber es sind Hinweise, es sind Inspirationen, die auf dem Weg zu einer anderen Kartografie helfen könnten. Ich wandere regelmäßig zu dem Berg Doi Suthep nahe meinem thailändischen Wohnort in Chiang Mai; dabei probiere ich auch immer wieder neue Routen aus. Kürzlich wanderte ich in einer Gegend, in der ich vor ein paar Jahren schon einmal war. Ich versuchte dabei, den Weg zu entdecken, den ich damals, aus einer anderen Richtung kommend, gegangen war, konnte ihn aber nicht finden. Später, beim Blick auf die Karte, fand ich heraus, dass ich ein- und demselben Weg gefolgt war, nur dass ich ihn nicht wiedererkannt hatte. Während mir die Karte von ein- und derselben statischen Landschaft erzählte, erschienen mir beim Wandern zwei völlig verschiedene Welten. Mit meiner Perspektive hatte sich auch der Ort verändert. Gibt es eine Möglichkeit, unseren Fokus auf diese erfahrbare Lebendigkeit von Landschaften auszurichten, anstatt immer wieder zu versuchen, sie in ein mathematisches Raster zu pressen, das alles Wesenhafte – und damit das eigentlich Bedeutende an ihr – verschwinden lässt?
Den Weltinnenraum kartografieren? Diese Fragen sind nicht neu. In der Phänomenologie oder der an Goethes Forschungen ausgerichteten Naturbeobachtung, in der Landschaftspsychologie oder in der Geomantie werden angemessenere Ansätze für die Art und Weise, wie wir auf die Erde schauen, gesucht und erprobt. Gemein ist ihnen, dass sie die Welt aus einer menschgegebenen »Augenhöhe« betrachten, nicht mit dem hochauflösenden Kamera-Auge von Drohnen oder als Ergebnis einer hyperspektralen Satellitenbild-Analyse. Was würde geschehen, wenn wir dieses direkte sinnliche Erleben der Welt, so, wie wir sie sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen, wieder pflegen und bewusst ausbilden würden? Womöglich würden der Bach, der Hügel, die Bäume und die Landschaften, die uns umgeben, dann wieder richtige Namen bekommen, und im Gespräch mit Ortsansässigen würden wir die alten Geschichten über den Felsen nicht mehr nur als ein schöne Legende, sondern als Reste einer Botschaft unserer Vorfahrinnen und Vorfahren erkennen, die das Wesen des Orts gekannt und verstanden hatten. In der Tiefenökologie werden intuitive Spaziergänge geübt, bei denen die Teilnehmenden sich ganz auf den Ort, den sie durchwandern, einlassen, wie bei einem Gespräch. Bei solchen Gängen entsteht ein völlig neuer Eindruck von einer Landschaft, und Zugänge zu den Geheimnissen eines Orts werden möglich, die mit einer vorgeplanten Route im Kopf unsichtbar blieben. Wenn sich solch ein Blick auf die Erde etablieren würde – wäre dann eine »Kartografie« – also eine abstrakte Beschreibung von Orten, Landschaften und der Erde, überhaupt noch notwendig? Oder, anders ausgedrückt, kann Kartografie in einer Gesellschaft, in der Natur nicht außen, sondern innen ist, überhaupt noch gedacht werden? Falls ja, wie sähen solche »Beschreibungen« aus? Würden sie denen ähneln, die wir heute noch von indigenen Gesellschaften kennen, oder entstünden aus dem bewussten Dialog mit der lebendigen Erde ganz eigene, an vielfältige und teils sehr alte Menschheitspraktiken angebundene wie auch im Hier und Jetzt verankerte Formen der Erdbeschreibung, die nicht über, sondern mit der Erde sprechen würden? Lasst es uns ausprobieren!
Stefan Sylla (37) ist Mitglied im Oya-Hütekreis und lebte als Geograf und Kartograf mehrere Jahre in Südostasien. Demnächst wird er sich auf eine langsame Heimkehr auf dem Landweg begeben.