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Sex – die wahre Geschichte (Buchbesprechung)

von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #54/2019
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Vor zweieinhalb Jahren hat mir Oya Leser Timo das Buch »Sex – die wahre Geschichte« des Psychologen Christopher Ryan und der Psychiaterin Cacilda Jethá geschenkt, doch seither lag diese Empfehlung mehr oder weniger unbeachtet im Regal. Hätte ich geahnt, welch hochinteressante Lektüre sich hinter dem plakativen Cover und dem anmaßenden Titel verbirgt, ich hätte wohl kaum so lange gezögert, es in die Hand zu nehmen! Erst als ich das Buch in der Literaturliste von Philipp Gerhards Waldgarten-Artikel (!) in Oya 51 entdeckte, war meine Neugier endlich groß genug.
Es ist dies kein Ratgeber, keine Anleitung zu Tantra-, »Slow«- oder »Soul«-Sex. Das im amerikanischen Original 2010 erschienene Buch versucht herauszufinden, wie bzw. unter welchen Bedingungen sich die menschliche Sexualität entwickelte, und zieht zu diesem Zweck zahlreiche Hinweise etwa aus der anthropologischen Erforschung von Jäger-und-Sammler-Gesellschaften heran – jener Lebensweise, der die Menschheit über mindestens 90 Prozent ihrer Geschichte hinweg nachging. Weitere Erkenntnisse stammen unter anderem aus dem Studium unserer nächsten Verwandten, den Menschenaffen – und hier insbesondere den Schimpansen und Bonobos –, sowie aus den zahlreich angeführten Ergebnissen der menschlichen Verhaltens- bzw. Sexualforschung. In einer mitreißenden, faszinierenden (wer weiß, was die alten Römer unter einem »Fascinum« verstanden?) Indizienbeweisführung demontieren der Autor und die Co-Autorin das jahrhundertelang eifersüchtig gehegte »Standardnarrativ« der westlichen Welt, dem zufolge die Natur für den Menschen einzig die lebenslange monogame Paarbindung vorgesehen habe.
Im Verlauf des Buchs wird bald deutlich, warum die scheinbar so rätselhaft unterschiedliche Sexualität von Männlein und Weiblein in unzähligen Fällen einfach nicht in das kulturell diktierte Raster passen will – in eine moralisch überhöhte Vorgabe, die sich offenbar erst mit der Entwicklung des Eigentumgedankens in Agrargesellschaften etabliert hat. Es ist hier nicht der Platz, um die Fülle des präsentierten Materials zusammenzufassen, doch will ich einen Aspekt herausgreifen, der auch Oya-Forschungsstränge berührt.
Wir haben verschiedentlich davon gehört, dass der Warenverkehr in den egalitären (herrschaftsfreien!) Wildbeuterkulturen nicht der Besitzmehrung einzelner, sondern ausschließlich der gerechten Ressourcenverteilung sowie der Festigung von Bindungen innerhalb der Gruppe – aber auch zwischen den Gruppen – diente. Ethnologinnen haben das, was wir »Schenkökonomie« nennen, jedoch auch hinsichtlich der sexuellen Gepflogenheiten von überlebenden Wildbeuterkulturen beobachtet. Auf den Punkt gebracht, ist Sex dort ebenfalls ein potentes Mittel, um ein Netz aus Bindungen herzustellen. Zumindest in einer zitierten Ethnie gilt es gar als verpönt, »mit den Genitalien zu geizen«. Das hat unter anderem zur Folge, dass die meisten Männer einer Gruppe theo­retisch als Väter jedes der Kinder in Frage kommen – und sich ihnen gegenüber entsprechend liebevoll verhalten.
Da Jäger-und-Sammler-Gesellschaften für ihr Überleben auf kooperatives Verhalten aller angewiesen sind, ist für sie die Frage der Bindung von immenser Bedeutung. Christopher Ryan und Cacilda Jethá halten es für möglich, dass diese intensive Kooperation zusammen mit der Entwicklung der Sprache ursächlich für den Erfolg des Homo sapiens ist – und frei zwischen den Menschen fließende Sexualität könnte bei dieser Entwicklung eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.
Vergleichsweise vorsichtig geben sich die beiden, was ihre Ergebnisse für die Gestaltung heutiger Beziehungen bedeuten. Der Mythos von der naturgegebenen Monogamie scheine erledigt zu sein, und auch in der Lebenspraxis der Menschen erweise sich das Modell offenkundig als immer weniger tragfähig. In der Folge würden sich immer mehr Menschen aufmachen, neue, funktionierende »polyamore« Beziehungsformen zu entwickeln und damit unbewusst unser Erbe aus der Steinzeit aufleben lassen.
Ich habe schon lange kein derart fesselndes, aufschlussreiches und zugleich erfrischend witzig und bissig geschriebenes Sachbuch mehr gelesen. Das Schlechteste, was ich über das Werk zu sagen vermag, ist, dass es hier und da etwas redundant ist und sich in der Ausgabe von 2016 ein paar lektorische Schwächen finden. Ansonsten sind mir dank dieser 400 Seiten die Evolutionsgeschichte, die Biologie und die Verhaltens­psychologie des Menschen ein gutes Stück verständlicher geworden; so manches Rätsel aus dem Feld der Paarbeziehung erscheint mir nun in einem ganz anderen Licht – und in dieser Hinsicht hat das Buch durchaus Qualitäten eines Ratgebers.
Danke auch dir, Timo, für den wunderbaren Hinweis!

Sex – die wahre Geschichte
Christopher Ryan, Cacilda Jethá
Clett-Kotta, 2016
430 Seiten
ISBN 978-3608100563
25,00 Euro

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