Titelthema

Lebendiges kann nur aus Lebendigem entstehen

Anja Marwege moderierte ein zwischen der ­Ostsee, dem Jagsttal und Wien aufgespanntes, virtuelles ­Gespräch über Christophers Alexanders Mustersprache.von Silke Helfrich, Johannes Heimrath, Werner Küppers, Anja Marwege, Gernot Mittersteiner, Franz Nahrada, erschienen in Ausgabe #55/2019
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Eine Stimme, die in Oya bislang nur am Rande zu hören war, ist die des 1936 in Wien geborenen Architekten, Mathematikers und Philosophen Christopher Alexander. Als Professor am »Centre for Environmental Structure« an der Universität von Berkeley, Kalifornien, veröffentlicht e er Ende der 1970er-Jahre zwei wegweisende Bücher: »A Pattern Language« (Städte – Gebäude – Konstruktionen. Eine Muster-Sprache) und »A Timeless Way of Building« (Eine zeitlose Baukunst). Weit über die Architektur hinaus tragen sie zum Verständnis komplexer Systeme bei. In »The Nature of Order« (Die Natur der Ordnung), seinem nicht ins Deutsche übersetzten Hauptwerk, das in vier Bänden von 2002 bis 2005 erschien, entwickelt er anhand der Baukunst eine ganze Theorie unseres lebendigen Universums.
Mit Franz Nahrada, Gernot Mittersteiner, Silke Helfrich, Werner Küppers und Johannes Heimrath kommen hier Menschen zu Wort, die das Werk Christopher Alexanders bei ihrer Arbeit – ob als Sprecher für direkte Demokratie, als Commons-Forscherin, als Architekt, als Netzwerker oder Oya-Herausgeber – inspiriert hat.
 

[Bild-3]Werner Küppers  Die Bände von »The Nature of Order« lagen während meiner Sommer-Tour 2017 die ganze Zeit im Omnibus für Direkte Demokratie. Ich habe mich richtig darauf gefreut, sie im Winter aufzuschlagen. Christopher Alexander sagt, dass Menschen ein instinktives Empfinden für Stimmigkeit haben. Auf seine Frage, welche Umgebung »lebendiger« oder »richtiger« auf sie wirke, bekam er immer ähnliche Antworten. Menschen können wahrnehmen, wie in einer gewachsenen oder gebauten Welt alles stimmig miteinander kommuniziert und sich anordnet.

Silke Helfrich  Das trifft es gut. Er wollte dann erforschen, was hinter dieser Wahrnehmung steckt. Seine Antwort ist: Es gibt strukturelle Ähnlichkeiten von allem Existierenden in der Welt, in denen wir uns spiegeln und die wir deshalb als lebendig empfinden. Gemeint ist hier zunächst – auch wenn das paradox klingen mag – die Lebendigkeit in Tassen, Stühlen, Gebäuden oder Materialien. In »The Nature of Order« wird klar, dass es etwas gibt, das uns und den Dingen tatsächlich gemeinsam ist. Wir kommen im Wortsinn in dem vor, was wirklich gut, beheimatend und lebendig gestaltet ist. Wir sind selbst darin. Alexander schürft sehr tief, um dieses »darin vorkommen« zu erklären.

Anja Marwege  Wie tut er das?

SH  In einer drei Jahrzehnte währenden Suche hat Alexander verschiedene Eigenschaften der Lebendigkeit von Strukturen – er nennt sie »fundamental properties« – ausfindig gemacht. Zum Beispiel »Rauhigkeit«. Das leuchtet ein, weil eine Lehmwand nie aalglatt ist. Oder »starkes Zentrum» verbunden mit »Leere«. Da denke ich an einen Brunnen auf einem Marktplatz.

WK  Diese Eigenschaften habe ich auf ein Blatt Papier geschrieben und in meiner Wohnung aufgehängt. Mit der Zeit hatte ich das Gefühl, dass ich immer schon intuitiv auf solche Lebendigkeitseigenschaften in der Welt Bezug genommen habe. Mit dem Omnibus bin ich jeden Tag in einer anderen Stadt. Jedesmal frage ich mich: Wie kann er sich richtig gut in das Stadtbild einfügen? Manchmal bin ich mit der Positionierung noch nicht zufrieden, werfe den Motor an und justiere ihn drei Zentimeter zurück.

SH  Bei Alexander geht es um ein Fühlen, das genauer Beobachtung folgt und mit großer Präzision einhergeht. Den Bus drei Zentimeter zurückzufahren, bekommt hier einen tiefen Sinn. Das Fühlen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft wieder salonfähig zu machen, ruft jedoch starke Abwehrreaktionen hervor.

WK  Über den Instinkt wird oft verächtlich gesprochen, zum Beispiel, dass Tiere »nur« instinktgesteuerte Wesen seien. Ich bin für eine Rehabilitation des Instinkts. Wenn ich mich als Säugetier betrachte, das seinen Instinkten folgt, habe ich eine viel größere Verbindung zur Lebendigkeit, zum Ganzen – das zu spüren, hat mich in den letzten Jahren innerlich sehr gestärkt und beruhigt.

Die Musik der Muster

 AM
  Mir hat sich Alexanders Idee in einem handwerklichen Prozess erschlossen. In den vergangenen zwei Jahren habe ich mit meinem Mann zusammen ein Haus gebaut, in dem wir nun seit einigen Monaten mit unseren Kindern leben. Neben der Permakultur, die ich als artverwandt mit Alexanders Mustern empfinde, haben wir unzählige Muster aus »Eine Muster-Sprache. Städte –
Gebäude – Konstruktion« umgesetzt und verstehen dadurch, ­warum etwas in unserem Haus stimmig ist oder nicht.

SH  Zum Beispiel?

AM  »Licht von zwei Seiten«. Dieses Muster ermöglicht es, dass sich alle, die sich im Hauptraum aufhalten, einander in die Augen sehen können. Als Unerfahrene in Architektur und Handwerk konnten wir mit Hilfe der Muster unseren Bedürfnissen nach Schutz und Wärme, aber auch nach Integration in einer eigenen Behausung nachkommen. Wir sind weniger ästhetischen oder fachlichen Details gefolgt; die ergaben sich oft aus der grundlegenden Haltung: einen lebendigen Ort schaffen. Der Bauprozess war ein immer wieder von Neuem beginnendes Beobachten.

[Bild-2]Franz Nahrada  Ein eigenes Haus, das ist wahrlich ein schöner Einstieg in die Welt der Muster. Ich habe mich gefragt, ob der Musteransatz auch geeignet ist, soziale Prozesse zu verstehen und zu gestalten. Beim Kapitalismus sehen wir, dass bestimmte kulturelle und bauliche Muster, wie Stadt, Handel oder expansive Herrschaft, mit geistigen Mustern, wie Zeitmessung, Berechnung oder protestantische Ethik, zusammentreffen müssen. Sie haben durch die Geschichte ihr Eigenleben geführt und sind dann in den Sog der Mustergravitation geraten.

WK  Gravitation ist ein gutes Stichwort. Kürzlich habe ich entdeckt, dass sich in meiner Zusammenarbeit mit Menschen das Muster »Trio« immer wieder herausbildet. Wenn ich mit einem Menschen zusammenarbeite und das, was wir tun, einen Groove bekommt, fühlt es sich an wie ein musizierendes Trio. Aus dem Zusammenspiel ergibt sich mehr als die Addition dieser beiden Personen. Wir bilden eine Art kleinstmöglicher menschlicher Superorganismus. In diesem Trio gibt es keine Hierarchie – mal gibt die eine, mal der andere einen Impuls. Trotzdem bin und bleibe ich der Captain vom Omnibus. Lebendigkeit folgt eben keiner linearen Logik. Jedwede der ständig wechselnden Bands im Omnibus hat dieses Jahr dieses Muster entwickelt; manchmal kam auch schon eine Big Band zusammen. Die musikalische Metapher ist kein Gag – schließlich ist der Omnibus ein Organismus zur »Stimmbildung«: Wir ermutigen Menschen, ihre Stimme zu erheben und sich miteinander abzustimmen.

SH  Es ist wichtig, zu verstehen, dass Muster nicht erfunden, sondern gefunden werden. Du navigierst in einem nicht fest umgrenzten Netz von Beziehungen, die sich alle verändern, sobald sich ein Knoten im Netz bewegt. Deswegen wirken Muster nie isoliert. Sie lösen ein Problem, verweisen aber dadurch auch auf neue. Damit diese wieder Lebendigkeit und Ganzheit nähren, kann wiederum ein Muster gefunden werden.

FN  In der Tat scheint es so zu sein, dass jeder soziale Umbruch auch mit einem Wiederfinden, Wiedererinnern alter Muster zu tun hat. Veränderung vollzieht sich immer auch in einer spiralförmigen Dynamik, in der wir zu Dingen zurückkehren, die einst Sinn hatten, dann aus guten Gründen vergessen wurden, und denen wir heute einen neuen Sinn geben müssen. Vielleicht gibt es auch temporäre Muster, um die sich alles andere neu anlagert, neu gruppiert. Zu fragen, ob »Ware«, »Markt« und »Geld« Muster im Sinn Alexanders sind, heißt, danach zu fragen, ob sie für Lebendigkeit sorgen. Muster können auch Anti-Muster werden, also systemische Gegenkräfte zur Lebendigkeit. Und – ich möchte vorsichtig hinzufügen: scheinbar – grundlegend neue Dinge, wie etwa die Automation und das Internet, können als Katalysatoren wirken, um alte Muster zu reaktualisieren: »die Gemeinschaft«, »das Dorf«, »das Kloster«. Muster sind also keineswegs unwandelbare platonische Ideen.

SH  Ich denke, wir können die Elastizität von Mustern gar nicht genug betonen. Sie sind immer kontextbezogen, und Kontexte verändern sich – auch diejenigen des Gemeinschaffens. Deswegen brauchen wir heute eine ganze Mustersprache des Commonings.
Gernot, dir ist »The Nature of Order« vertrauter als uns anderen. Dein Name ist mir in Band 3 begegnet. Wie kam es dazu?

Lebendigkeit erkennen und beschreiben

 Gernot Mittersteiner
  Ich habe 1976 mein Architekturstudium begonnen. Damals orientierte sich die Architekturausbildung an der Moderne. Es war die Zeit des internationalen Stils. Ich aber wollte genau das Gegenteil von Moderne. Schon als Schüler bin ich auf der Suche nach unterschiedlichen Formen von Lebendigkeit durch Europa und Nordafrika gezogen. Was mich faszinierte, passierte nicht an den Stätten der Moderne. Vor dem Dom von Spilimbergo zu sitzen, war für mich viel schöner, als Corbusiers Kirche von Notre-Dame-du-Haut de Ronchamp zu betrachten. In Marseille war Corbusiers Unité de Habitation so ziemlich das Fadeste, was die Stadt für einen 17-Jährigen zu bieten hatte.

AM  Was bewirkte diese Erfahrung bei dir?

GM  Ich wollte später einmal Räume schaffen, in denen ich mich wohlfühle, aber es gab niemanden, der etwas davon verstand. Dann bin ich auf »Eine Mustersprache« gestoßen und habe alles, was bis dahin von Alexander veröffentlicht war, in mich gesaugt. Ich bin nach Amerika geflogen, habe mir drei Monate Zeit genommen und mir gedacht, ich frage, ob ich bei ihm arbeiten kann. Alexander war verwundert, als ich vor seiner Tür stand, mit einem kleinen Rucksack und einer Honda 750 Supersport auf dem Parkplatz. Zwei Tage später habe ich bei ihm angefangen – und war die nächsten Monate einigermaßen überfordert.

AM  Womit?

GM  Zu jener Zeit wurde klar, dass eine Mustersprache alleine keine bessere Welt erzeugt. Alexander war ob dieser Erkenntnis ziemlich enttäuscht und hat sich auf eine neue Gedankenreise begeben, an deren Ende »The Nature of Order« stand. An unzähligen seminarartigen Abenden hat er unsere und seine eigenen Gedanken gnadenlos hinterfragt und hinterfragen lassen. Das war intensiv, aufreibend und verstörend, manchmal auch lustig. Die Doktoranden, unter ihnen Hajo Neis und Artemis Anninou, waren ja schon erfahrene Denker. Ich war das mit meinen kaum 23 Jahren wohl eher nicht. Aber für Alexander war ich fixer Bestandteil dieser Denkwerkstätten, wahrscheinlich, weil ich sehr bestimmt in meiner Beurteilung sein konnte.

SH  Was genau »beurteiltest« du? Ich glaube, das ist wichtig zu verstehen, denn erst, wenn wir beurteilen können, was lebendig ist, können wir Lebendigkeit auch selbst erzeugen.

GM  Alexander war ja überzeugt, dass es »Etwas« gibt, das alle lebendigen Strukturen in sich tragen. Wir mussten uns daher einigen, was eine lebendige Struktur ist, um sie dann als Ganzheit zu untersuchen. Einer meiner Freunde in San Francisco hatte 20 Jahre lang die Kunst, ein scharfes Messer herzustellen, gelernt, und er hat mir den Zen-Buddhismus nähergebracht. Da gibt es die Theorie, dass du erst etwas zu einer Meisterschaft bringen musst, bevor du das Ganze wirklich verstehen kannst.
Damals war ich ein guter Skifahrer. Die Frage im Zen, ob das Kind mit dem Ball oder der Ball mit dem Kind spiele, drückte mein Verhältnis zum Schnee und zu den Spuren, die ich zog, am besten aus. Ich erlebte darin das Gefühl von Ganzheit, von Einheit und von Lebendigkeit. Auch wenn ich eine Spur, die jemand anderes gezogen hat, sehe, fühle und weiß ich, wie das Verhältnis von Skifahrerin und Schnee war. Ich weiß, wie und ob sie »gespielt« haben. Ich freue mich über die ganzheitliche Harmonie, die eine Spur ausstrahlt, oder ich ärgere mich über die Ignoranz, mit der dem Berg die Spur aufgezwungen wurde. Aber Ski-Berg-Schnee ist ein sehr kleines System verglichen mit einem Dorf oder einer Stadt. Für einzelne Fragestellungen funktioniert es, nach seinem Inneren zu beurteilen, aber sobald das System zu komplex wird, ist es nicht mehr möglich, die Ganzheit zu erfahren. Um diesem Dilem­ma zu entfliehen, hilft das System der Mustersprache.
Ein Muster darf nur so komplex sein, dass viele bei der ­Suche nach einem gelingenden Umgang mit Problemen in der Lage sind, die Ganzheit gefühlsmäßig zu erleben. Das Netzwerk der Muster erlaubt es dann, unsere volle Aufmerksamkeit auf ein Problem zu fokussieren und gleichzeitig dem Ganzen Achtsamkeit zu widmen. In komplexen partizipativen Vorhaben entwickle ich heute daher eine »Projektsprache«. Aus den in ihr enthaltenen netzwerkartigen Verbindungen entwickelt sich das Projekt.

AM  Wie du im Schnee-Berg-Skispuren-Beispiel beschreibst, dass du Ganzheit spürst, lässt mich staunen. Neulich hatte ich Besuch von einer Frau, die sich für unsere Bauweise interessierte. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Nach einiger Zeit sagte sie: »Das ist hier, wie nach Hause zu kommen.« Ihr standen die Tränen in den Augen. Auch ich war tief bewegt, dass wir beide diesen Klang des Orts offenbar deutlich wahrnehmen konnten.

SH  Was genau sorgt in unserer Wahrnehmung der leblosen Welt für solche Emotion? Mit »leblos« meine ich, dass ein Haus nicht atmet, keinen Herzschlag hat. Die Antwort führt uns zu einem kritischen Blick auf die jüngere Wissenschaftsgeschichte. Spätestens seit René Descartes leiden wir ja an einer Überbetonung des Rationalen, der Vernunft, des Kausalen, des Kognitiven. Alexander verweist auf einen anderen Philosophen: Alfred North Whitehead. Er sprach schon vor einhundert Jahren von einer »Gabelung der Natur« und beschrieb damit, dass alle Optikexperten und Physikerinnen der Welt zusammengenommen letztlich nicht erklären könnten, warum wir beim Anblick eines Sonnenuntergangs in Verzückung geraten. Unser Staunen lässt sich nicht aus Anzahl und Flugrichtung der Photonen oder aus Brechungsindexen ableiten. Was mich an Alexanders Arbeit fasziniert, ist, dass er diese Gabelung in der Betrachtung der Welt auflöst.

AM  Wie tut er das?

SH  Er hat eine Vorgehensweise entwickelt, die der Qualität, die uns zum Staunen bringt, auf die Spur kommt, obwohl sie sich nicht aus Einzeldaten und Messergebnissen erklären lässt. Ursprünglich hieß sie übrigens »Qualität ohne Namen«, erst später »Lebendigkeit«. Ich halte das für bahnbrechend, weil endlich unser Resonanzempfinden wieder ernstgenommen wird. Fühlen wird – wieder – eines unserer Erkenntnismittel.

Chaos und Dynamik

 WK
  In meiner Lebenspraxis werde ich instinktiv auf Ordnungen aufmerksam, die etwas Organisches haben. Wenn ich durch eine Stadt gehe, versuche ich, ihre Stimmung wahrzunehmen, etwas von ihrer Geschichte aufzusaugen. Oft setze ich mich an einen Fluss, um das zu spüren. Beim nächsten Besuch dringe ich noch tiefer ein, schärfe meine Aufmerksamkeit. Diese Wahrnehmung habe ich den Büchern von Christopher Alexander zu verdanken. An Stadtplänen orientiere ich mich schon lange nicht mehr, sondern folge intuitiv Orten, zu denen es mich hinzieht.

Johannes Heimrath  Ja, die Muster, die Lebendigkeit fördern, dürfen wir nicht mit einem Stadtplan oder mit Schnittmustern von Kleidern verwechseln. Sicherlich gibt es geometrische Muster, die du aufzeichnen kannst, die Fibonacci-Spirale folgt einer ganz einfachen Zahlenfolge und ergibt die Gestalt einer Schnecke, der Fluss von Säften in einem Baum, der bis zur Blattspitze reicht, folgt harmonikalen Prinzipien. Sie kommen in der Blattrosette einer Königskerze ebenso vor wie in einem Schneckenhaus. Aber jedes Tier und jede Pflanze hat ihre individuelle Eigenart. Sie prägt sich aus durch die Unschärfe, durch das Chaos.
Das Chaos gibt der Welt die Farbe. Wenn du von einem Geigenton den Einschwingvorgang, das allererste Einschwingen der Saite, im Studio wegschneidest, kannst du nicht mehr erkennen, von welchem Instrument der Ton herrührt. Das liegt daran, dass beim Einschwingvorgang in Millisekunden eine geordnete Abfolge chaotischer Obertöne entsteht – und diese Ordnung, dieses Klangmuster identifiziert das Gehirn als »Geige« oder »Flöte«. Das Prinzip des Geigentons ist mathematisch darstellbar und mit Hilfe von Sinus-Generatoren künstlich simulierbar, aber damit hat der Ton noch keinen Charakter. Der kommt erst durch die menschliche Spielerin hinzu, die den Ton entsprechend ihrer momentanen »Gestimmtheit« anspielt. Ihre Lebendigkeit findet sich in dem Chaos der Mikrobewegungen ihrer den Bogen führenden Hand wieder, und das moduliert dem Geigenton eben »die Seele« auf. Das »Fleisch der Welt« besteht aus Chaos, nicht aus Schnittmustern und Plänen. Das ist interessant – und scheinbar paradox, weil hinter allen Wachstumsprozessen des Lebendigen eben doch die gleichen, einfachen Zahlenverhältnisse stehen.

SH  Darum geht es auch bei Alexander. An dieser Korrelation ist nichts paradox. Auch die Geometrie ist letztlich Ausdruck dieses »Etwas« in allem, das in der Lage ist, zueinander in Resonanz zu geraten. Nach dieser Theorie gibt es nichts, was nicht lebendig wäre – auch wenn es nicht atmet.

JH  George Lakoff, der amerikanische Linguist und Autor des Buchs »Philosophy In The Flesh: The Embodied Mind and Its Challenge to Western Thought« führt das gesamte menschliche Wissen auf körperliche Entsprechungen zurück. Er spricht eben vom »embodied mind« – vom »eingekörperten Maind«, wie ich es übersetze und schreibe. Wir bilden die Welt sprachlich so ab, wie wir uns als Körper erleben, sprechen vom Tischbein, von der Hügelnase etc. Ich denke, Christopher Alexander ist eigentlich nur aus einer solchen Perspektive zu verstehen. Wenn wir in seinem Sinn das Wort »Muster« verwenden, meinen wir also nie etwas Statisches. Ein Muster der Lebendigkeit ist nur im Wandel und in der Dynamik überhaupt erkennbar, sonst wäre es nur eine Anordnung. Fliesen bilden eine solche »kristalline« Anordnung; in lebendigen Systemen kommt so etwas nicht vor. Sogar im Kristall steckt ein immenses Potenzial von Lebendigkeit – auf der Nano-ebene ist auch der härteste Kristall voller Bewegung!

AM  Was bedeutet das für das Leben in Dörfern und Städten?

WK  In den letzten Tagen war ich mit dem Omnibus mit ­einer Reihe von Abiturientinnen beim Unterschriftensammeln in Brandenburg unterwegs. Keine von ihnen hatte jemals auf der Straße Menschen angesprochen oder über politische Fragen diskutiert, aber sie waren in dieser Aufgabe sofort zu Hause und haben dafür gesorgt, dass es ihnen und allen um uns herum gutging. Ich kam mir vor wie ein Teil von einem mütterlichen Organismus, so sehr war das Zusammenspiel von einer fürsorgenden Energie getragen. Das war auch ein ganz eigenes Muster. Die Fähigkeit zu sorgen erscheint mir gerade in Bezug auf ökologische Fragen sehr bedeutsam zu sein.
Bei Christopher Alexander tauchen immer wieder Beispiele aus indigenen Kulturen auf, denen die Erde als Mutter gilt. Solche Menschen haben einen anderen Raum-Zeit-Begriff als wir in der westlichen Welt – ob sich wohl die Wahrnehmung von Mustern je nach Kultur stark unterscheidet? Ich komme aus unserer modernen Welt, aber ich bin auch ein Eingeborener. Warum machen wir diesen Gegensatz auf zwischen »indigen« und »zivilisiert«? Die Mustersprache, die so sehr an der instinktiven Wahrnehmung ansetzt, ist für mich ein Weg, diesen Gegensatz zu überwinden und mich ins Gefüge des Lebens einzugliedern.

FN  Im Bild des Medizinrads aus den nordamerikanischen indigenen Kulturen steht der Osten für die Freiheit des Einzelnen, die Kreativität, die Inspiration, das Neue; der Westen hingegen steht für das, was unsere Energie nährt, uns am Leben hält – die Himmelsrichtungen stehen für so etwas wie Gefäße, die Energie nähren, am Leben halten und vermehren können. Diese Gefäße sind gemeinschaftliche, kulturelle Schöpfungen. Als solche verstehe ich auch Muster.
Christopher Alexander spricht von der lebendigen Stadt als einem Mosaik von Subkulturen, die sich räumlich verorten. Wir erleben die Evolution von Ökodörfern und sehen, dass dort tatsächlich so etwas geschieht: Ausdifferenzierung füreinander wirkender, auch räumlich definierter Bereiche, die bestimmte Aufgaben, Potenziale und dazugehörige Lebenseinstellungen systematisch verstärken, wozu aber auch die räumliche Nähe und die Durchlässigkeit der Grenzen gehören. Vielleicht können wir sagen: Commoning heißt nicht nur, mit Mustern zu leben, sondern ­bewusst in Mustern und gewissermaßen als Muster zu leben. Ziel ist es doch, ganz zu werden. Das heißt aber auch, einander zu »er-gänzen«.

AM  Herzlichen Dank an euch alle für den Austausch. Ich hoffe, wir können ihn in einer realen Begegnung einmal fortsetzen.


Weiter in die Mustersprache eintauchen
 Christopher Alexander, Sara Ishikawa, Murry Silverstein: »Eine Muster-Sprache. Städte, Gebäude, Konstruktion«, Löcker Verlag, Wien, 1995.

 

Silke Helfrich (51) ist uninstitutionalisierte Commons-Forscherin, Aktivistin und Auto­rin, die am Finden von Mustern für eine freie, faire und lebendige Welt Spaß hat. Die Mitgründerin des Commons-Institut e. V. ist vielen Commons-Projekten und Netzwerken verbunden. www.commons.blog

Werner Küppers (69) fährt seit dem Jahr 2000 den Omnibus für Direkte Demokratie. Er tauscht sich mit Menschen auf der Straße und den Mitwirkenden im Omnibus über die Idee der Volksabstimmung und kulturelle und politische Entwicklungen aus. Das Lebensmotto des nicht-digitalen Eingeborenen ist: »Immer schön lokker bleiben!«. www.er-fahrungen.org

Gernot Mittersteiner (61) ist Architekt und plant derzeit in weitgehenden partizipativen Prozessen die Siedlung »Garten der Generationen« in Herzogenburg bei Wien. Als Mitarbeiter im Büro von Christopher Alexander war er Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre an den Anfängen der Mustertheorie beteiligt. www.architekturwerk.org

Franz Nahrada (64) ist Mitgründer des Vereins »Globally Integrated Village Environment«. Er ist teilnehmender Beobachter und Vernetzer lebendiger Gemeinden und Gemein­schaften. Auf Seite 12 gibt es mehr über ihn zu lesen. www.dorfwiki.org

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