Buchtipps

Freie Stücke

von Georg Gerwing, erschienen in Ausgabe #55/2019
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Das Buch »Freie Stücke« zum Thema »Consent« (Einverstandensein) ist so divers, wie die Auseinandersetzung mit diesem Thema nur sein kann und muss. 15 Autorinnen und Autoren aus dem Umfeld des Berliner Missy-Magazins schreiben über Selbstermächtigung durch Selbsterkenntnis und blicken mit oft schonungslos schöner Radikalität auf das eigene Leben. Dabei geht es – natürlich – viel um Sexuelles, und es wird deutlich, wie viel Wegstrecke heraus aus der materialistisch-kapitalistisch-kolonialistischen Welt der unausgegoren-ungerechten Machtverhältnisse schon zurückgelegt wurde. Die Beitragenden stehen an sehr unterschiedlichen Punkten  – das Buch ist auch ein Aufruf, sich dieser Vielfalt bewusst zu werden: »Ich wünsche mir, dass wir alle sorgsamer mitein­ander umgehen«, benennt Denice Bourbon das Anliegen des Buchs. – Worum geht es konkret? Stellvertretend für die vielen lesenswerten Beiträge eine Auswahl:
Bourbon, »queer-feministische Lesbe mit einer großen Klappe«, ist auf vergeblicher Suche nach einem »völlig einvernehmlichen Sexleben«. Wunderbar offen setzt sie sich mit Consent auseinander; entschuldigt sich für vermeintliche Übergriffe; beklagt ihre Unfähigkeit, wirklich Nein zu sagen, wenn es dran ist; nervt ihre Gegenüber mit dauernden Fragen nach Erlaubnis. Das ist leicht und tiefgründig zugleich geschrieben.
Einen harten Kontrast bildet der einzige männliche Beitragende, Christian Schmacht, Trans-Autor und Sexarbeiter. Nach mehrmaliger Lektüre wich unser anfängliches Unbehagen zunächst Interesse und schließlich Dankbarkeit für die Schonungslosigkeit dieser Selbstdarstellung. Schmacht schreibt von seinem Einverstandensein mit eigener Vergewaltigungserfahrung. Wo liegen die Grenzen zwischen Passivität und Consent, zwischen vereinbartem Rollenspiel und Vergewaltigung? Wann wird Missbrauch »echt«?
SchwarzRund erzählt in ihrem Beitrag »Tu es, aber wenn nicht, lass es bleiben« intelligent, süffisant und bissig von den Auseinandersetzungen zweier Schwarzer mit ihren jeweiligen, als leicht unsensibel dargestellten weißen Beziehungen. Es geht um die schreckliche Anstrengung, »in jedem Moment die Situation aus allen Blickwinkeln zu betrachten«, und um die Angst davor, dass die begehrte Weiße mit dieser Beziehung »sich selbst das antirassistischste aller Siegel aufdrücken« will. – Mit wessen Augen sehen wir? Und von woher sprechen wir?
In »Scham.Haare« berichtet Sibel Schick vom lebenslangen Kampf mit der Körperbehaarung – rasieren, waxen, wachsen lassen? – und von der Suche nach dem Consent mit der eigenen Entscheidung angesichts gemeiner Kommentare von außen. Diese Dramatik ist aus einer fragenden Haltung heraus klug, leicht und teils sehr lustig-rebellisch erzählt.
Das ist überhaupt das Schöne an diesem Buch und macht es so lesenswert: dass all diese Redakteurinnen, Preisträgerinnen, Moderatorinnen, Vizepräsidentinnen, Referentinnen usw. so überaus sympathisch wenig mit dem Bekenntnis zu ihrem Nichtwissen geizen, im Gegenteil, sich verletzt und unsicher zeigen können und wollen. Denn – es ist nicht einfach. Georg und Marie Gerwing

Freie Stücke
Geschichten über Selbstbestimmung.
Sonja Eismann, Anna Mayrhauser (Hg.)
Edition Nautilus, 2019
159 Seiten
ISBN 978-3960541851
 16,00 Euro

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