Der Aufbau der Gemeinschaft Lebensbogen verlief in vielerlei Hinsicht exemplarisch. Ein lehrreicher Rückblick.von Judith von der Schirpkotterdellen, erschienen in Ausgabe #56/2019
Anfang August 2015 übernahmen wir als Gruppe rituell unseren Platz, einen als magisch erlebten Ort am Fuß der Helfensteine in der Nähe von Kassel. Diesem Schritt war eine lange Reise vorangegangen: Acht Jahre hatte es gebraucht, bis die Gruppe endlich ankommen konnte. Acht Jahre, die geprägt waren vom Feuer und Zauber der Vision und Planung, aber auch von Rückschlägen und Enttäuschungen. Der lange Prozess bestand nicht zuletzt auch in einem großen emotionalen und sozialen Raum; in diesem entstand ein inniges Band der Verbundenheit und des Vertrauens – und der Wunsch, zusammenzubleiben. Nach vier Jahren des Zusammenlebens ist es Zeit für einen ersten Rückblick und die Frage, was uns zusammengehalten hat.
Zauberhafter Anfang Im Jahr 2007 schlossen sich fünf Menschen, die sich bereits von einer anderen Gründungsinitiative kannten, zusammen und trafen sich ein Jahr lang, um die Basis für eine neue Gemeinschaft zu legen; auch ich gehörte zu dieser ersten Gruppe. Inhaltlich inspiriert hat uns damals bereits die Methode »Community Building« nach Scott Peck, und so entwickelte sich eine werteorientierte Ausrichtung der Initiative. Unsere Ziele waren: gelebte Verbindlichkeit, Gleichberechtigung, Wertschätzung und Einschließlichkeit; als das wichtigste Bindeglied benannten wir das gegenseitige Vertrauen. Gemeinsame Ökonomie und Konsensentscheidungen waren unsere Pfeiler im Außen. Nach einem Jahr öffneten wir die Gruppe für Freunde und Bekannte und wuchsen schnell auf 20 Menschen an. Das noch zu erwerbende Wunschobjekt war damals die Kartaus, ein ehemaliges Kloster am Rand von Freiburg. Gemeinsam entwickelten wir Namen, Nutzungs- und Finanzierungskonzepte und gingen in die ersten Sondierungsgespräche. Die Gruppe ging gemeinsam durch intensive, auch schmerzhafte Prozesse. Dadurch entstanden ein sehr starker innerer Zusammenhalt und ein hohes Energieniveau. Wir waren kreativ, schnell, visionär und optimistisch und haben dies auch immer ausgiebig gefeiert.
Zerplatzte Träume Im Jahr 2011 stellte sich dann heraus, dass die Kartaus nicht unser neues Zuhause werden würde. Die Gruppe ging durch die unterschiedlichsten Emotionen, und die Sorge, dass wir nun auseinanderbrechen würden, war groß. Tatsächlich verabschiedeten sich einige liebgewonnene Menschen, die bis dahin auch tragend gewirkt hatten, was die anderen sehr erschütterte. Die folgende Zeit war von Bemühungen, die Gruppe zusammenzuhalten, und gleichzeitig von der Suche nach einem neuen Platz gekennzeichnet. Wir gaben weiterhin – zum Teil auch mit externer Begleitung – unseren inneren Prozessen viel Raum. Durch diese Phase des möglichen Scheiterns hat uns nicht nur unser inniges Band untereinander getragen, sondern auch die tiefe Sehnsucht nach einem gemeinschaftlichen Leben. Für einen Kern von Menschen kamen andere Optionen nicht in Frage: Wir wollten zusammenbleiben!
Wünsche werden Wirklichkeit Anfang 2014 besuchten wir zum ersten Mal unser heutiges Zuhause, ein Objekt am Fuß der Helfensteine – das sind hoch aufragende Basaltfelsen auf einer Kuppe, die vermutlich schon vor langer Zeit als ein Kraftort wahrgenommen wurden. Obwohl wir alle gern im Süden geblieben wären und uns insgesamt die Kasseler Gegend wenig anzog, schien der Platz doch ideal für uns, und wir stiegen in die Verkaufsverhandlungen ein. Diese gestalteten sich als zäh und anstrengend und wurden so zu einer weiteren heftigen Zerreißprobe. Am 1. August 2015 war es dann soweit: Wir feierten mit einem Ritual die Übernahme und zogen als Gemeinschaft »Lebensbogen« nach acht langen Jahren Vorlaufzeit endlich ein. Das Durchhalten und die Zuversicht haben sich gelohnt. Wir übernahmen einen Platz, der neben idealen Gebäudestrukturen und Nutzungsmöglichkeiten auf bemerkenswerte Weise in die Umgebung eingebettet ist: Im Norden eingerahmt und beschützt durch die Wälder des Habichtswalds, öffnet er sich zum Süden hin in eine wunderbare Weite mit großen Himmeln. Darüber thront die Basaltformation der Helfensteine. Diese Mischung aus Schutz, Weitblick und Kraft schien mir ideal für den Aufbau unseres Projekts.
Realitäten und Ent-Täuschungen Die erste Zeit war von Aufregung geprägt. Die meisten Über-50-Jährigen unter uns waren freilich schon mit einem großen biografischen Rucksack ausgestattet und standen vor dem Aufbruch in ein völlig neues Leben. Die Ernüchterung, dass nun der gemeinsame Alltag ganz anders war als unsere Wochenendtreffen, kam schnell und war für einige ziemlich frustrierend. Unterschätzt hatten wir auch, welche Bedeutung so eine radikale Veränderung haben kann. Sozial und beruflich musste nicht wenig losgelassen und betrauert werden. Außerdem hatten wir ein Tagungshaus übernommen, das auch in Zukunft das Leben der Gruppe finanzieren sollte und das wir vom ersten Tag an betrieben. So vieles musste jetzt besprochen, entschieden und angegangen werden! Wir hatten als Gruppe zwar miteinander eine Herzenskultur entwickelt, aber den Umständen gemäß konnten wir vorher kein konkretes Zusammenleben planen – das sich nun auch als hoch komplex herausstellte. Allein schon die Größe des Wirtschaftsbetriebs mit all seinen Erfordernissen erschloss sich uns erst nach und nach; er beeinflusst unser gemeinsames Arbeiten und Sein bis heute immens. Die meisten Konflikte entstanden durch die Diskrepanz zwischen unseren eigenen Erwartungen und der Realität. Für jede und jeden von uns war es klar, was zu tun und zu etablieren war – nur waren es eben für jeden andere Dinge. Nun galt es, sich zu verständigen, einander wirklich zuzuhören, sich zurückzunehmen, loszulassen zugunsten des gemeinsamen Wirs und sich in Geduld zu üben: Vor allem jedoch galt es, sich selbst zu begegnen und die eigenen psychischen Schattenanteile zu integrieren.
Neuausrichtung: Was ist wirklich nötig? In den Jahren vor der Besiedelung des heutigen Platzes hatte sich eine Gruppenkultur entwickelt, die sehr prozessorientiert war, die versuchte, mit wenig Regelungen auszukommen und die Verantwortung und Leitung in der Gruppe zu lassen. Nun stellte sich heraus, dass dies mit den gemeinsamen Arbeitsbereichen und den zum Teil völlig unterschiedlichen Perspektiven auf die Dinge so nicht weiter möglich war. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als uns auf einen sehr herausfordernden Weg zu machen. Zuerst einmal mussten wir sondieren, was es alles zu entscheiden und zu strukturieren gab. Dann mussten wir klären, in welcher Form dies geschehen sollte – und schließlich mussten wir diese Entscheidungen auch gemeinsam treffen. Zusätzlich galt es, Arbeitsbereiche aufzubauen, sich viel neues Wissen anzueignen, den großen Gebäudekomplex zu erfassen sowie den Betrieb des Tagungshauses aufrechtzuerhalten und weiter anzukurbeln. Wir machten die ersten Erfahrungen mit gemeinsamer Ökonomie und auch mit der übereilten Aufnahme neuer Mitglieder. Wir fanden heraus, dass wir mitunter mit den gleichen Worten völlig unterschiedliche Dinge meinten. Wir diskutierten am Feuer bis spät in die Nacht über Ausrichtungen, Werte und Visionen, lachten und feierten miteinander. Dabei kamen unbewusste und ungelöste Muster an die Oberfläche, die Konflikte und auch Verletzungen entstehen ließen – und eine ganze Weile hatten wir das Gefühl, als seien wir gemeinsam auf einer ungewissen Klassenfahrt. Nach und nach erschloss sich uns so die Größe und das Ausmaß des Gesamtunterfangens.
Was trägt uns? Durchgehend verbindet uns der Wunsch nach einem nahen Miteinander, nach einem authentischen Ringen darum, wie dieses gut gelingen kann, und uns eint die Bereitschaft, auch unangenehme Themen individuell und kollektiv anzuschauen. Dabei werden wir auch durch größere Netzwerke getragen. Von Anfang an sind wir durch das »Interkomm Netzwerk Kassel«, das sechs regionale Kommunen umfasst, herzlich aufgenommen und auf unterschiedlichste Art unterstützt worden. Auch aus dem Netzwerk der Ökodörfer (GEN) sowie dem Kommuja-Netzwerk der politischen Kommunen bekamen wir viel Inspiration und das Gefühl, gemeinsam für eine andere Welt einzustehen. Die Stadt Kassel hat sich für uns also doch noch als recht interessant entpuppt, und der Kontakt zur Gemeinde ist von wechselseitigem Wohlwollen geprägt. Eine der größten Quellen der Kraft, Inspiration und Freude ist aber unser Platz und die Gegend um die Helfensteine, die so wunderbar, vielgesichtig und einzigartig in allen Jahreszeiten ist. Immer wieder erfüllt es uns mit großer Dankbarkeit, hier leben zu dürfen. Ich denke, es sind diese positiven Umstände und dazu die regelmäßige externe, kompetente Begleitung unserer Gruppenprozesse, die Mediationen und Supervisionen sowie ein festes loyales Band untereinander, die uns so viele Herausforderungen meistern lassen. Die Schwarmintelligenz der Gruppe leitet uns dabei. In den vergangenen vier Jahren hat es viel Bewegung gegeben. Menschen, denen das Ganze zu groß oder zu anstrengend war, sind gegangen. Neue Mitglieder wurden aufgenommen, Arbeitsbereiche umstrukturiert und neu durchmischt, Auszeiten vereinbart – und unser Ältester ist gestorben. Niemand von uns hat vorher schon eine Gemeinschaft aufgebaut, für uns sind alle Themen neu – auch wenn die lebendige Vernetzung mit anderen Gruppen zeigt, wie viele Themen ähnlich und typisch für Gemeinschaften und deren Phasen sind. Das gemeinsame Leben und die großen gemeinsamen Betriebe verweben uns alle dicht miteinander. Leider sind wir gezwungen, in einem Maß wirtschaftlich zu denken und zu handeln, wie wir es eigentlich nie wollten. Auch da gilt es, gemeinsam eine Balance zwischen individueller Freiheit, Selbstentfaltung und dem Dienen am Wir, den wirtschaftlichen Gegebenheiten und dem Nachhaltigkeitsgedanken zu finden. Manchmal ist es zäh und anstrengend, dann wieder erfüllend und aufregend. Immer aber ist es herausfordernd und ein Brennglas für die persönliche und kollektive Entwicklung.
Ein Profil entwickelt sich Nun, nach vier Jahren, sind viele Dinge klarer, nach innen und nach außen. Uns verbindet nach wie vor der Wunsch nach einer wertschätzenden und respektvollen Kultur auf innerer und äußerer Ebene. Als Gemeinschaft haben wir uns auf Qualitäten geeinigt, die wir als Ziele und Entwicklungsraum verstehen: Herzverbundenheit, Grundvertrauen, Lebensfreude, Visionsraum, Verwirklichungskraft und Frieden. Im Außen gestalten und pflegen wir den Begegnungsraum »Lebensbogen«, bestehend aus Tagungshaus, Café und Bildungszentrum. Um dort Impulse für einen gesellschaftlichen Wandel zu setzen, organisieren wir vielfältigste Veranstaltungen im Bereich Bildung, Kultur, Ökologie und Soziales. An den Wochenenden ist oft sehr viel los; es gibt viel zu tun, und es kommt zu interessanten Begegnungen und Synergien. Das alles macht das Leben hier vielgesichtig, schnelllebig und spannend und verlangt von uns allen eine Verantwortungsübernahme für die eigenen Grenzen sowie Selbstfürsorge. Insgesamt ist die Gruppe ruhiger geworden. Die innere Arbeit zeigt Wirkung. Wir haben verstanden, dass Vertrauen immer wieder genährt werden muss, zum Beispiel über authentische und wertschätzende Kommunikation und Transparenz. Wir haben auch gelernt, dass Regelungen und Kompetenzhierarchien Klarheit bedeuten können und uns als Gemeinschaft schützen. Diesen Schutz für das Wir braucht es, auch wenn dafür manchmal individuelle Bedürfnisse geopfert werden müssen. Zur Zeit entstehen wieder neue Räume für Freude und Leichtigkeit, die Energie wird gemeinsam ausgerichtet, und es gibt ein tieferes Verständnis dafür, dass die Dinge Zeit brauchen. Wir erkennen immer mehr den Wert von Stille, Pausen und Entschleunigung – vor allem dann, wenn es im Außen turbulent wird. Dennoch möchten wir noch mehr Menschen werden, weitere Arbeitsbereiche verorten und einen aktiven Beitrag zum Systemwandel leben. Es gilt, noch viel zu gestalten, viele Wege zu gehen, unendlich viele Erfahrungen zu machen, immer weiter zu lernen und zu wachsen – für uns und für die Welt.
Judith von der Schirpkotterdellen (53) ist in einer eigenen Praxis für Chinesische Medizin tätig. Sie ist Mitgründerin der Lebensbogen-Gemeinschaft und Mutter eines 26-jährigen Sohns.