Silvia Hable ist seit einem Jahr parteilose Stadträtin in der hessischen Kleinstadt Witzenhausen. Wie es dazu kam, und warum sie in diesem Amt einiges verändern kann.
von Andrea Vetter, erschienen in Ausgabe #57/2020
Im Vorbereitungskreis der Internationalen Degrowth-Konferenz in Leipzig vor sieben Jahren begegnete ich Silvia Hable zum ersten Mal. Wir wurden Freundinnen, obwohl wir recht weit voneinander entfernt wohnen. Immer wenn ich sie treffe, bin ich von neuem beeindruckt und berührt von der Energie und Wärme, die sie in alles steckt, dem sie sich widmet. Manchmal bleiben dabei auch ein paar Dinge liegen, aber das kann nicht anders sein bei einem Menschen, der auf so vielen Ebenen gleichzeitig tätig ist. Für Silvia gibt es weder Nebensächlichkeiten noch zu große Fragen – alles ist miteinander verbunden: der Erhalt der Platanen auf dem Witzenhausener Marktplatz und das Recht aller Kinder auf Gestaltung ihres Lebensumfelds; die leuchtend blühende Kapuzinerkresse in ihrem wild wuchernden Reihenhausgarten neben den gestutzten Rasenflächen der Nachbarn und die Gründung des bundesweiten Transition-Town-Netzwerks; das Horoskop des Bürgermeisters und die Frage, ob beleuchtete Werbetafeln eine angemessene Antwort auf die Erdüberhitzung geben. Schon als Schülerin engagierte sich Silvia im Jugendparlament ihrer Geburtsstadt Bad Kissingen, später lebte sie in besetzten Häusern in Berlin sowie einige Jahre in Portugal. 2010 zog sie zusammen mit ihrem damaligen Partner, dem Vater ihrer beiden Kinder, von Berlin nach Witzenhausen, um an der dortigen Hochschule ökologischen Landbau zu studieren. Doch dazu kam es zum Glück nicht, denn hätte sie studiert, hätte Silvia keine Zeit gehabt, am Aufbau der Transition-Town-Initiative Witzenhausen mitzuwirken. »Ich war zufällig bei der Vereinsgründung im Januar 2011 dabei«, lacht sie während unseres Telefoninterviews. Das ist eine ihrer Qualitäten: dem Fluß des Lebens folgen und Zufälligkeiten als Schicksalsgelegenheiten annehmen zu können; daraus erwächst ihre Gestaltungskraft. Mit dem Transition-Haus in der Fußgängerzone der malerischen Kleinstadt baute die Initiative in den folgenden Jahren ein lebendiges Kulturzentrum auf. Silvia war eine der treibenden Kräfte beim Zustandekommen des bundesweiten Transition-Town-Netzwerks und initiierte ein von der EU gefördertes Bildungsprojekt zum Thema Degrowth. Nebenbei gestaltete sie einen Kinderzirkus in Witzenhausen, erwarb mit Gleichgesinnten einen Obstgarten für die regenerative Landwirtschaft (siehe Ausgabe 50) und engagierte sich für die Gründung einer freien Schule – aus der dann leider nichts wurde.
Alle Beteiligten mitdenken »Ich bin mit den Jahren zunehmend zu Vernetzungsveranstaltungen gegangen, war immer und überall dabei und habe relativ früh die AG Kommunalpolitik gegründet«, erzählt sie. »Als wir auf einem kommunalen Grundstück einen Schaugarten mit winterharten Kräutern angelegt haben, hatte ich zum ersten Mal mit dem Bauamt und dem Magistrat zu tun. Das waren anfangs überwiegend negative Kontakte: Wir wurden in Kenntnis gesetzt, es wurden Dinge abgelehnt. 2013 haben wir dann die erste bundesweite ›Essbare Stadt‹-Konferenz veranstaltet; zu der haben wir alle Lokalpolitikerinnen und Kreistagsabgeordnete eingeladen, auch Menschen aus der Verwaltung. Wir haben früh versucht, alle Ebenen mitzudenken: Geschäftsleute, Kulturschaffende, Hippies, Studierende, Politiker. Meine Erfahrungen aus vielen Netzwerktreffen hatten mich gelehrt, dass lokale Akteurinnen und Akteure oft aneinander vorbeireden – das wollten wir vermeiden.« Vor fünf Jahren begann Silvia eine freie Mitarbeit bei der örtlichen Zeitung – und ergriff erneut beherzt den Zufall: Durch den Ausfall einer Kollegin wurde sie Hauptberichterstatterin für Lokalpolitik und schrieb drei Jahre lang die Sitzungen des Stadtparlaments mit – eine wichtige Lehrzeit für ihren aktiven Einstieg in die Politik: »Durch den Journalismus habe ich ein Gefühl für die Stadt und ihre Atmosphäre bekommen. Ich hatte zu fast allen Ratsmitgliedern und Verwaltungsangehörigen einen guten Draht und war auf vielen Veranstaltungen, zu denen die Öko-Studis sonst nicht hingehen. Ich habe die Ortsteile und Dörfer kennengelernt, den sogenannten gesunden Menschenverstand auf dem Dorf, der oft sehr pragmatisch ökologisch orientiert ist. Vielen Menschen bin ich auf einer sehr herzlichen Ebene begegnet – manchmal kam mir ein Interview mehr wie eine persönliche Beratung vor.« Der Wunsch, zu studieren, hat sie dann doch nicht losgelassen. Seit 2015 ist sie an der Uni Kassel im Fach Stadt- und Regionalplanung eingeschrieben. Im selben Jahr wurde auch die bunte Liste »Alternativen für Witzenhausen« (AfW) gegründet. Mit der rechtspopulistischen Partei ähnlichen Namens haben die Gründerinnen und Gründer selbstverständlich nichts zu tun, lassen sich aber das Wort »Alternativen« – wohlgemerkt, im Plural! – nicht so einfach wegnehmen. Spontan sammelten Transition-Town-Mitglieder die erforderlichen Unterschriften, um eine Liste für die Kommunalwahl aufstellen zu können. Während die anderen Parteien Wahlkampfstände auf dem Markt aufstellten, fegte die AfW unter dem Motto »Politik in Bewegung bringen« den Platz. Silvia war auf Listenplatz vier – die Liste holte schließlich zwei von 31 Sitzen im Stadtparlament. Mit zwei anderen kleinen Listen, der Freien Wählergemeinschaft und der Linken, teilt sich die AfW einen von acht Sitzen im Magistrat, dem Regierungsgremium der Stadt. Silvia trat den Posten turnusgemäß im Februar 2019 an. Wie fühlte sich das an? »Ich lerne viel auf der rechtlichen Ebene. Im Magistrat werden weitreichende Entscheidungen getroffen: Stellenbesetzungen, Förderanträge, Haushaltsabschlüsse der Energieversorger. Da gilt es, aufmerksam alles mitzubedenken – etwa beim selbstgesteckten Ziel der Stadt, ›Klimakommune‹ zu sein. Wir haben auch den ›Klimanotstand‹ ausgerufen. Doch ich bin oft die Einzige, die das bei den Debatten immer wieder einbringt – sei es beim Ausbau des Nahwärmenetzes für kommunale Einrichtungen oder bei der Ausweisung eines Baugebiets.« Auch einer kleinen Fraktion ist es über Anträge und Anfragen möglich, Themen in die öffentliche Diskussion zu bringen. Silvia kämpfte dafür, dass es in Witzenhausen nun eine Stelle für regionale Entwicklungspolitik gibt, für die Zertifizierung »kinderfreundliche Kommune«, für einen städtischen Waldkindergarten sowie eine Obst- und Nussgehölzverordnung, die vorsieht, dass alle Bäume und Sträucher, die auf dem Stadtgebiet neu gepflanzt werden, Gewächse mit essbaren Früchten sein müssen. Das war und ist nicht immer einfach: »Auf der kommunalen Ebene genügt es nicht, immer nur nett zu sein. Man muss auch klar kommunizieren und den anderen etwas abverlangen – vor allem wenn man keine Mehrheiten hat.«
Leute, kommt im Rathaus vorbei! Als Stadträtin repräsentiert Silvia jetzt die gesamte Stadt – da gehört es für sie auch dazu, beim Erntefestumzug mitzumarschieren und sich mit dem Bratwurstkönig zu treffen. Ihr ist aufgefallen, dass Stadtpolitiker von altangestammten Gruppen viel öfter zu Veranstaltungen eingeladen werden als aus alternativen Zusammenhängen. Das will sie ändern. Sie unterstützt marginalisierte Gruppen und soziale Bewegungen dabei, in der Verwaltung Gehör zu finden, und fordert mehr Mitsprache für Kinder und Jugendliche ein: »Ich will diese Barriere, die ein Rathaus darstellt, herunterbrechen und sage: ›Hey Leute, kommt einfach vorbei!‹« Die Tätigkeit als Stadträtin ist ein Ehrenamt, für das es 200 bis 300 Euro Sitzungsgeld im Monat gibt; es nimmt aber jede Woche gut 25 Stunden in Anspruch. Dazu arbeitet Silvia weiter als Bildungsreferentin für Beteiligungskultur und nachhaltige Stadtentwicklung: »Ich kann mit meiner Arbeit auch andere Menschen ermächtigen, sich politisch einzubringen. Es braucht ganz viel Aufklärung: Wie funktioniert Kommunalpolitik überhaupt? Bei Vorträgen lerne ich selber viel. Ehrliche Politik ist für mich, das weiterzugeben, was ich weiß, und anzuerkennen, dass auch ich ein lernendes Wesen bin – ich brauche die anderen Menschen und deren Fragen, um meine Wissenslücken zu erkennen.« Und Silvia wäre nicht sie selbst, wenn sie ihre lokale Tätigkeit nicht wieder mit dem großen Ganzen verbinden würde: Für nächstes Jahr plant sie eine große europäische Munizipalismus-Konferenz in Witzenhausen.