An der Lausitzer Neiße gibt es eine »Raumpionierstation« als Andockstelle für zuziehende Menschen.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #57/2020
Als Arielle Kohlschmidt mit 17 Jahren aus ihrem Elternhaus auszog und sich im Berliner Prenzlauer Berg einquartierte, war die große Stadt für sie der Inbegriff von Freiheit. Auch während ihres Psychologiestudiums genoss sie die Stadtluft in vollen Zügen. Doch nach sieben Jahren zog Leere in sie ein. Sie wollte nur noch raus – und ging in die einsame Prignitz. Mit ihrem Lebensgefährten Jan Hufenbach verschlug es sie später, 2009, mehr oder weniger aus Zufall an einen noch einsameren Ort: Klein Priebus am östlichsten Rand der sächsischen Lausitz. Es gibt kaum eine dünner besiedelte Region in Deutschland. Der Weg dorthin führt durch Wälder, Wälder und noch einmal Wälder. Von Klein Priebus aus, einem 80-Seelen-Dorf, sind die nächste Arztpraxis, Schule und Kita mindestens 15 Kilometer entfernt. Die Mehrzahl der Bewohnerinnen und Bewohner ist über 60 Jahre alt. Der größte Arbeitgeber in der Region ist der Braunkohletagebau. 2038 soll es damit vorbei sein, deshalb ist der anstehende »Strukturwandel« in der Lausitz in aller Munde. Aber wie sollen sich neue Strukturen etablieren, wenn ganze Dörfer wegsterben? »Wir brauchen mehr kreative Leute, die von sich aus einen sozialökologischen Wandel gestalten« – diese Erkenntnis wurde für Jan und Arielle nach den Jahren des Ankommens in Klein Priebus, in denen ihr Sohn Jasper geboren wurde, überdeutlich. Oft sind es zugezogene oder bewusst zurückgekehrte Menschen, die es sich zutrauen, ihr Umfeld nach ihren Ideen zu verwandeln – die Sozialwissenschaft nennt sie »Raumpioniere«. Um nicht zu scheitern, brauchen sie eine große Portion Selbstvertrauen, Durchhaltevermögen sowie kommunikatives Geschick – und möglichst keine Illusionen über ein heiles Landidyll. Während ihrer ersten Landjahre war auch bei Jan und Arielle die eine oder andere romantische Vorstellung wie eine Seifenblase zerplatzt. Einen großen Selbstversorgergarten so nebenbei pflegen? Wenn im Mai das Unkraut sprießt und das Berufsleben gerade fordernd ist, kann es sein, dass der Garten nur noch nervt. Sie können aus ihrer Erfahrung Hunderte ermutigender und zugleich desillusionierender Geschichten vom Ankommen in der ländlichen Wirklichkeit erzählen. 2016 gründeten sie eine Anlaufstelle für Stadtflüchtige: Die »Raumpionierstation Oberlausitz«. Weil sie kein Geld für ihre Beratungen nehmen, aber viel Zeit investieren wollten, musste die Finanzierung organisiert werden. Die ersten beiden Jahre unterstützte sie die Sächsische Staatskanzlei im Rahmen der Demografie-Richtlinie. Dann erhielten sie einen Zuschlag beim Wettbewerb »Neulandgewinner« der Robert-Bosch-Stiftung für 2019 und 2020. So konnten sie im letzten Jahr viele Veranstaltungen organisieren, darunter zwei ganztägige »Landebahnen für Landlustige«. Etwa 160 Menschen kamen, meist aus Berlin oder Leipzig, um einen Tag mit diversen bereits erfolgreich in der Lausitz Gelandeten zu verbringen. »Alle möglichen Menschen, von der Psychotherapeutin bis zum Möbelbauer, erzählten von ihrer Ansiedlung auf dem Land«, berichtet Jan. »Es war für alle ermutigend, viele Knotenpunkte eines Raumpionier-Netzwerks sichtbar zu machen. Die meisten hatten etwas angeschoben, das über ihre privaten Anliegen hinausging, etwa ein Dorfkino oder einen Verein für Landschaftspflege.« Solche kleinen Schritte wertzuschätzen, ist für Arielle und Jan eine ständige Übung. Ihnen ist bewusst, dass die meisten Menschen auf dem Land heute einem urbanen Lebensstil folgen – mit nicht unbedingt geringerem ökologischen Fußabdruck als in der Stadt. Sie selbst sind für ihre Arbeit im Bereich Grafikdesign und Projektentwicklung vollständig auf digitale Technik angewiesen, die zum Fußabdruck nicht unerheblich beiträgt. Wie ist es möglich, ohne die Illusion, dass ein bisschen Gärtnern auf dem Land schon alles heil machen würde, mit vielen Menschen über ein wirklich enkeltaugliches Leben ins Gespräch zu kommen? Der von Arielle und Jan 2015 mitbegründete Verein »Lausitzer Perspektiven« ließ solche Themen immer wieder bei sogenannten Kamingesprächen anklingen. Hier kamen Kohlegegner wie -befürworterinnen und in Vereinen, Parteien und Kirchen Engagierte ins Gespräch. Oft ging es darum, wie die in Aussicht gestellten staatlichen Mittel aus dem Lausitzer Strukturwandelfonds nicht nur an die üblichen Macher fließen könnten, sondern stattdessen an eine bürgerschaftliche Stiftung zur Förderung von Gemeinsinn und ökologischen Lebensweisen. Arielle und Jan sind sich bewusst, dass dafür viel Überzeugungsarbeit notwendig ist. Umso wichtiger erscheint es ihnen, immer wieder die in diesem Sinn Aktiven in der Region zusammenzubringen. Sie bieten ihre Erfahrung auch gerne anderen an, die in ihrer ländlichen Region eine Raumpionierstation aufbauen wollen. Demnächst wird in Holdorf die Raumpionierstation Westmecklenburg eröffnen.