Buchtipps

Am Anfang war der Beutel

von Jacob Terwitte, erschienen in Ausgabe #58/2020
Photo

»Sich einer Sache widersetzen heißt, sie zu erhalten.« Dieses Zitat von Ursula K. Le Guin (1929–2018) steht unter allen E-Mails einer Freundin von mir und war mein erster Berührungspunkt mit dieser großartigen amerikanischen Schriftstellerin, Denkerin und Philosophin. Ich habe es schon viele Male gelesen, und doch muss ich jedes Mal wieder aufs Neue stutzen. Mein erster Gedanke: Das kann doch nicht stimmen! Nach einer kleinen Denkpause, die mich aus meinen gewohnten Bahnen schleudert, komme ich zu dem Schluss: Doch, da ist was dran!
Dieses Wechselspiel hat mich auch beim Lesen der von Matthias Fersterer hervorragend ausgewählten, übersetzten und eingeleiteten Texte Ursula Le Guins begleitet. In fünf essayistischen Texten und einem Gedicht erkundet Le Guin die Grundlagen und Fallstricke unserer Zivilisation westlicher Prägung. Dabei hat sie etwas von einer Aikido-Meisterin. Sie schreibt nicht, um die allgegenwärtigen ausbeuterischen und zerstörerischen Denk- und Lebensweisen zu besiegen, sondern um eine lebenswerte und verbundenheitsbewusste, im Hier und Jetzt geerdete Welt zu ertasten. Ich bewundere, wie sie die Schwachstellen und Schattenseiten unserer heutigen Welt klar und eindeutig benennt, ohne je verbissen, rechthaberisch oder verkürzt zu argumentieren.
So wie in ihren zahlreichen Science-­Fiction-Werken entfaltet Ursula K. Le Guin auch in ihren Reden und Aufsätzen eine einzigartige und wundervolle Sprach- und Denkkraft. In der Art und Weise, wie sie gewohnte Muster, Ideen und Kategorien hinterfragt und auf den Kopf stellt, erinnert sie mich an Zhuangzi, Chinas wichtigsten Daoisten.
Le Guin lädt dazu ein, ausgetretene Wege zu verlassen und sich stattdessen im Krebsgang rück- und seitwärts zu bewegen: Mehr Yin-Denken, Erzählen, Subversion, Spielen, Ortssinn, Tanzen, Nicht-Wissen. Was würde entstehen, wenn wir in unserer überhitzten, neonhell erleuchteten, nach Eindeutigkeit strebenden Kultur dem Unbekannten, Dunklen und Abkühlenden mehr Raum und Achtsamkeit schenken würden?
Ein Schwerpunkt dieses eleganten Büchleins liegt auf einem Hauptanliegen Ursula Le Guins: Utopien. Sie beschreibt, wie das Streben nach fortschrittsgetriebenen, mechanistischen »Yang-Utopien« seinen Beitrag zur Zerstörung der Welt geleistet hat, und plädiert deshalb für organisch fließende »Yin-Utopien« und eine gemeinsame Mobili­sierung der menschlichen Vorstellungskraft – wesentliche Werkzeuge, die dabei helfen können, unser Leben neu zu erfinden: »Wir müssen unser In-der-Welt-Sein von Grund auf neu lernen.«
 

Am Anfang war der Beutel
Warum uns Fortschritts-Utopien an den Rand des Abgrunds führten
und wie Denken in Rundungen die Grundlage für gutes Leben schafft.
Ursula K. Le Guin
thinkOya, 2020, 96 Seiten
ISBN 9783947296088
 10,00 Euro

weitere Artikel aus Ausgabe #58

Photo
von Brigitte Kratzwald

Schluss mit der Ökomoral

»Schluss mit der Ökomoral« ist als Ergänzung zu Michael Kopatz’ vorigem Buch »Ökoroutine« gedacht. Das Konzept zielt darauf, Gesetze und strukturelle Rahmenbedingungen zu etablieren, die es einfach und logisch machen, nachhaltig zu handeln, ohne lange

Photo
von Oya – Redaktion

Ich werde mich nicht verkaufen!

Vor Kurzem - einen Monat vor dem dritten Geburtstag meines Sohnes - erhielt ich einen Brief vom Jobcenter. Ich beziehe sogenannte Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Aus Sicht der Beamten habe ich nun lange genug gefaulenzt und wird es Zeit für den "Wiedereinstieg in den

Photo
Gemeinschaftvon Simone Kosog

Echte Gemeinschaft nährt

Ellen Stephen und Edward Groody haben die Methode der »Gemeinschaftsbildung« in den 1980er-Jahren in den USA von Scott Peck, dem Begründer des »Community Building«, gelernt und seitdem unzählige Gruppen auf diesem Weg begleitet. Auch in Deutschland wird die Methode

Ausgabe #58
Altlasten lieben lernen

Cover OYA-Ausgabe 58
Neuigkeiten aus der Redaktion