Titelthema

In freiem Fall begriffen

Warum wir uns im Schwerpunktthema dieser Ausgabe dem Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, der Kraft der Tränen, der Erschöpfung durch Strukturen und der ­Kunst des Loslassens widmen.von Matthias Fersterer, Andrea Vetter, Luisa Kleine, erschienen in Ausgabe #60/2020
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© Luisa Kleine

Menschen industrieller Prägung leben losgelöst von konkreten Landschaften und Orten und nennen es Flexibilität. Sie weisen sich selbst in Lohnarbeitsanstalten ein und nennen es Brot­erwerb. Sie zwängen ihre Kinder in Schulgebäude und nennen es Fürsorge. Sie fügen ihren Mitmenschen Leid zu, indem sie lebensfeindliche, ausbeuterische Strukturen wieder und wieder replizieren, und nennen es den Lauf der Welt. Sie verheizen die Lebensgrundlagen ihrer Mitmenschen anderswo, ihrer Kinder und Kindeskinder wie auch unzähliger nichtmenschlicher Wesen und nennen es alternativlos. Sie überspannen die Grenzen unserer Planetin, übersteigen dabei jedes menschliche und mehr-als-menschliche Maß und nennen es Fortschritt. Sie ignorieren ihre eigenen Grenzen und nennen es Alltag.
Oya schreibt für Menschen, die sich dessen häufig sehr bewusst sind. Und die deshalb vielleicht selbstbewusst sagen: »So bin ich nicht, ich lebe ganz anders! Ich führe eine Beziehung auf Augenhöhe, ich arbeite selbstverwaltet, ich habe eine freie Schule gegründet, bin Freilerner, weltoffen, Feminist, lebe in einem egalitären Kollektiv, bin Selbstversorgerin, lebe geldleicht, ökologisch, naturverbunden ...« – Wohin aber führen diese ernstgemeinten Anstrengungen, die aller Mühen wert sind, und doch häufig an den größeren Strukturen um uns und in uns scheitern? Wie oft fühlen wir uns zu Tode erschöpft in unserer Gemeinschaft, ausgebrannt in unserem politischen Aktivismus, ermattet vom Redekreis, ernüchtert von der Nachbarschaftshilfe? Jede Stunde stirbt derweil eine Tierart aus. Dieses Jahr war wieder das wärmste seit Beginn der Messungen. Die Waldbesetzung wird gewaltsam von der Polizei geräumt. Die Gemeinschaftsgründungsgruppe hat sich zerstritten. 80 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Wir durchschreiten das Tal der Ohnmächtigkeit. Um diese Ohnmacht nicht spüren zu müssen, lächeln wir und backen einen Kuchen für den Adventsbasar – alles bio, versteht sich.
Dieses Gefühl der Wirkungslosigkeit stand am Anfang dieser Ausgabe. Warum machen wir dennoch weiter? Woher können wir die Kraft schöpfen, nicht aufzugeben? Wen können wir fragen, wer hat Erfahrung damit, strukturell ohnmächtig gemacht zu werden und sich dennoch immer wieder freizukämpfen? Scheitern ist eine Bewertung. Menschen am Anfang ihres Lebens, die sich die Kulturtechnik des aufrechten Gangs aneignen, fallen hin, stehen auf, fallen hin, stehen auf – das nennen wir »Lernen«; niemand käme wohl auf die Idee, jedes Fallen, jeden Sturz ein »Scheitern« zu nennen. Warum also gestehen wir uns großen Leuten nicht auch solche Lernerfahrungen zu? Unser Titelbild illustriert das Gefühl des freien Falls, das sich in einem solchen Moment einstellen kann:

Er wird fallen, tiefer und tiefer, und er wird aufschlagen, wird auf ­unerbittlich hartem Grund zerschellen – und das war’s dann! Aber das ist noch nicht mal das Schlimmste, schlimmer noch ist die Scham darüber, versagt zu haben – wieder und wieder und nun endgültig ­gescheitert zu sein: Versager! Die Lache aus Blut, der Haufen aus verdrehten Gliedmaßen und aus geplatzten Eingeweiden – mehr wird von ihm nicht übrigbleiben! – werden das ultimative Zeugnis seines ­Scheiterns sein: Er hat es nicht geschafft, konnte es nicht schaffen, hat auf ganzer Linie versagt! Was werden die Leute denken? Und was wird sie denken, ausgerechnet sie?! … Aaaahhhh!!!! – Halt. Der Mann lässt die Arme auf die Bohlen des Badestegs sinken. Der Untergrund trägt. Er fühlt, wie die im Holz gespeicherte Sonnenwärme in seinen Körper sickert. Er fällt nicht. Er wird nicht fallen. Er ist nie gefallen. Er atmet die frische Waldluft ein. Seine Gesichtsmuskulatur beginnt sich zu entspannen. Von ferne zirpt ein Heimchen. Alles ist sehr gut.

Wir haben lange über dieses Titelbild diskutiert: Ein weißer, halbnackter Mann schreit sein Elend über den freien Fall in die Welt hinaus – warum gerade er? Gehört er nicht zu den wohl privilegiertesten Menschen auf dieser Planetin? Und doch: Die Struk­turen, die Menschen diskriminieren, erniedrigen und zu »Anderen« machen, diese Strukturen erschöpfen, wenn auch auf andere Weise, auch diejenigen, die von ihnen auf einer Ebene scheinbar profitieren, die sie tagein, tagaus weiterführen. »No one is free when some are ­oppressed!«, so formulierten das Demonstrierenden auf einer »Black Lives Matter«-Demo: Meine Freiheit ist nur eine Scheinfreiheit, solange sie mit der Unfreiheit anderer einhergeht! (siehe Seite 50)
Das Leid, das ich selbst mit verursache, nicht fühlen zu können, oder auch stolz darauf zu sein, großes Leid aushalten, verdrängen, trotzdem funktionieren zu können – diese Eigen­schaften haben auch viel mit der transgenerationalen Weitergabe von Traumata zu tun, etwa aus den vergangenen Kriegen (siehe Seite 36) oder aus der »schwarzen Pädagogik«, derzufolge es etwa wichtig sei, Säuglinge schreien zu lassen, damit sich deren Lungen entfalten! »Immaterielle Altlasten« haben wir diese schmerzhaften Rucksäcke in Oya 58, »Altlasten lieben lernen«, ­genannt.

Mein Urgroßvater war ein strammer Nazi mit großem Einfluss in seiner Kleinstadt. In meiner Familie wurde wenig darüber gesprochen, wenn, dann hieß es, er habe nur Gutes gewollt. Ich glaube das nicht. Ich schäme mich. Und dann hatte ich eines Nachts einen Traum: Im Traum sehe ich einen älteren Mann und eine kleine, hutzelige Frau, und ich weiß, es sind die Eltern meines Urgroßvaters. Gütig sehen sie aus, milde und ein wenig abgearbeitet. Sie reden mit mir, und sagen mir, dass sie es auch nicht verstehen könnten, wie ihr Sohn so geworden sei, und dass sie es nicht guthießen, was passiert sei. Ich wache auf und fühle mich besser, getröstet, vollständiger. Meine Ahnenlinie ist nicht abgebrochen mit diesem Urgroßvater, dessen ich mich schäme, sondern sie reicht unendlich weit zurück, und es gab auch andere Menschen in dieser Kette. Ein Zweifel bleibt: Will ich mich durch diesen Traum selbst beruhigen, entschuldigen?

Doch selbst, wenn es uns gelingt, individuelle oder familiäre Muster zu transformieren, dann bleibt doch häufig die Verzweiflung angesichts des Artensterbens, der fortschreitenden Erdüberhitzung mit zunehmenden Extremwetterereignissen (siehe Seite 64) und der Tatsache, dass wir nicht mal mehr guten Gewissens ein Bäumchen pflanzen können, weil wir nicht sicher sind, in welcher Klimazone es großwerden wird.

»Wann schneit es wieder?«, fragt mich eines Wintermorgens meine Tochter. Ich zögere, gehe den Wetterbericht im Kopf durch, kein Schnee, nirgends angesagt. Ich will gerade ansetzen, etwas vom Typ »sicherlich bald, sei nur noch ein wenig geduldig« zu sagen. Und dann trifft mich jäh die Erkenntnis: Gut möglich, dass es in ihrer gesamten Kindheit nie mehr schneien wird. Nie wieder Schlittenfahren, nie wieder Eislaufen auf dem See im Park. »Ich weiß es nicht«, sage ich wahrheitsgemäß, »hier vielleicht gar nicht mehr, weil es ja immer wärmer wird wegen des Klimawandels.« – »Du bist auch Schuld daran, Mama«, erwidert meine Tochter, »du fährst auch Auto!«. Da ist sie, die unbestechliche Logik der Siebenjährigen. Ich nicke. »Warum tust du das?« Ich habe viele Antworten – aus Notwendigkeit, aus Bequemlichkeit, weil wir uns kein Elektroauto leisten können – aber ich habe keine gute Antwort. Ich sage nichts. Wir sind gemeinsam traurig – darüber, dass wir Auto fahren, dass kein Schnee fällt, dass mein Kind mit sieben Jahren lernt, dass wir permanent Dinge tun, von ­denen wir wissen, dass sie in die falsche Richtung führen.

Die Herausforderungen angesichts des menschengemachten Artensterbens und Klimawandels schlagen sich in psychosomatischen Symptomen nieder, die zu krankmachenden Erscheinungen führen. Menschen in urban geprägten – städtischen wie ländlichen – Lebensumfeldern leiden unter chronisch gewordener Naturentfremdung (»Naturdefizitsyndrom«), unter der schwindenden Verbundenheit zu gesunden natürlichen Zusammenhängen (»Solastalgie«) und daraus entstehender Zukunftsangst (»prätraumatische Belastungsstörung«). Der daraus resultierende gefühlte und tatsächliche Verlust des Beheimatetseins im Hier und Jetzt (siehe Seite 62) macht Menschen nicht nur anfälliger für Zivilisationskrankheiten, wie Allergien und Depressionen, sondern auch für ausgrenzende Ideologien, postdemokratischen Populismus und andere Versprechungen einer besseren Zukunft auf Kosten anderer. Gegenwärtig sind eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht, und die Geschwindigkeit des menschengemachten Artensterbens ­beschleunigt sich tagtäglich. Seit 65 Millionen Jahren gab es nichts Vergleichbares – nur ist diese Katastrophe im Gegensatz zu jener, die das Aussterben der Dinosaurier herbeiführte, menschen­gemacht!

Hydrodamalis gigas, wie die Stellersche Seekuh taxonomisch heißt, wurde 1741 auf der Zweiten Kamtschatka-Expedition im nördlichen Pazifik durch den deutschen Arzt und Naturkundler Georg Wilhelm Steller erstmals wissenschaftlich beschrieben. Evolutionär entstanden war sie vor 20 Millionen Jahren in Folge einer Erdabkühlung, ausgerottet wurde sie 27 Jahre nach Stellers Sichtung, als ein russischer, nicht namentlich genannter, Pelzjäger das letzte Exemplar in der Nähe der Beringstraße erschlug, um aus ihrer Haut Schuhsohlen anfertigen zu lassen. Steller selbst verstarb 1746 im westsibirischen Tjumen an einem schweren Fieber. Dem nachgeborenen Naturforscher Peter Simon Pallas zufolge soll Steller kurz vor seinem Tod eine Herde grasender Wollhaarmammuts erschienen sein – ob ihm im Delirium auch »seine« Seekuh vorstellig wurde, ist nicht überliefert.

Schnell mag da beschwichtigend vorgebracht werden: »Wir haben es besser als es die meisten Menschen es in der Geschichte je hatten – ja, weit besser als es die meisten Menschen gegenwärtig andernorts auf dieser Erde haben: Wir haben zu essen, haben ein Dach über dem Kopf, sind vielleicht sogar körperlich unversehrt und leben in Frieden und Sicherheit – wir können nicht klagen.«
Wir können nicht klagen. Wir können nicht klagen! Wir haben verlernt, zu trauern – darüber, wie wir patriarchale Prägungen in uns tragen, die nichts mit dem zu tun haben, was wir wirklich, wirklich wollen und wofür wir wirklich stehen; darüber, wie lebensfeindliche Strukturen von unserem Organismus und unserem eigenen Wollen, Wirken und Sein Besitz ergriffen haben; darüber, wie wir diese verinnerlichten Strukturen replizieren – wohlgemerkt, nicht in übler, sondern in bester Absicht!

Die Kraft der Tränen
Wir können nicht klagen, können nicht trauern, leben mit permanentem Grauschleier vor den Augen, leben mit einer milden Krankheit, einem Schrecken ohne Ende – und wir nennen es Normalität. Zum Weinen schauen wir einen Film auf dem Laptop, falls wir überhaupt noch weinen können. Nur manchmal, in kostbaren Momenten, regt sich etwas in uns. Etwas weht uns an, vielleicht eine Kindheitserinnerung, vielleicht werden wir berührt durch die Worte, Gesten, Hände eines Menschen; durch ein Neugeborenes, das uns eine wortlose Geschichte vom Nachhausekommen erzählt; durch einen Sonnenuntergang, ein Wolkenspiel, einen Windhauch, der unser Gesicht sanft streichelt; für einen Sekundenbruchteil vergessen wir unser wohlgefälliges, normiertes, stromlienförmiges, so ungemein praktisches Selbstbild – und da kann es geschehen: Die Kraft der Tränen bricht sich Bahn.

Mit der Wucht des Verdrängten trifft einen Mann die Erkenntnis, dass sich in der Ausschließlichkeit der Kleinfamilienstruktur, in der er lebt, ein Erbe aus 6000 Jahren Patriarchat wiederholt und wiederholt und wiederholt … Im Garten mit seinem zweijährigen Kind hockend, bricht er unvermittelt in Tränen aus. Das Kind deutet das stimmhafte Schluchzen als Lachen und sieht seinem Vater breit grinsend ins Gesicht, woraufhin dieser tatsächlich lauthals zu lachen beginnt – laughing through his tears, wie eine englische Redensart besagt. Das Kind stimmt schallend ein. Lachend wälzen sich beide im noch taunassen Gras. Beides, Lachen wie Weinen, wirkt auf einer tiefen Ebene befreiend. Noch nie ist der Mann mit mehr Nicht-Wissen konfrontiert gewesen, und doch weiß er aus tiefer innerer Gewissheit heraus, was seine Wahrheit ist und was als nächstes zu tun ist.

Zu weinen gilt innerhalb patriarchaler Bewertungsmuster als ungebührlich, unangemessen, unmännlich, verweichlicht, kindisch, »weibisch« etc. und wird oft pauschal mit Weinerlichkeit gleichgesetzt. Es gibt jedoch eine ganz bestimmte Art von Tränen­fluss, Tränen, die anzeigen, dass Wesentliches berührt wird. ­Sicher, es gibt auch sentimentale, larmoyante Tränen; von diesen Tränen, die eher strukturerhaltend als strukturverwandelnd sind, ist hier nicht die Rede – es geht um Tränen, die ein unverbrüchlicher Gradmesser für die eigene Wahrheit sein können. Zeigen jene Tränen vielleicht an, dass es eine Kluft, einen Spalt, einen Haarriss, eine wie auch immer geartete Diskrepanz zwischen der eigenen Wahrheit und der aktuellen Lebenspraxis gibt? Insofern kann diese Art des Weinens Ausdruck einer dissidenten, subversiven, systemunterlaufenden Haltung sein – zumindest, wenn dem Tränenfluss eine Veränderung der eigenen Lebenspraxis, ein Erkennen und Verändern innerer wie äußerer Strukturen folgt; und sei es nur, dass der Umgang mit diesen Strukturen ein anderer wird, sobald sie erkannt und benannt wurden.
Tränen, Verzweiflung und das tiefe Tal der Dunkelheit sind keine Zustände, die als »Scheitern« bewertet werden wollen, sondern sie sind Qualitäten – des Herbsts, des Sterbenlassens, des Loslassens, der Innerlichkeit, der Reflexion, der Stille, der Vorbereitung auf Neues und Anderes, das sich ankündigt, sich Bahn brechen will. In unseren geschäftigen Alltagen, gerade auch, wenn wir uns wichtige gesellschaftsverändernde Projekte vorantreiben, laufen wir leicht Gefahr, zu meinen, es sei immer Frühling, immer Sommer: immer weiter, immer schneller – bis zur endgültigen Erschöpfung. Innehalten, Rückzug und Trauern – über den Tod eines geliebten Menschen, über das Ende einer Illusion, über ein enttäuschend laufendes Projekt –, sind Qualitäten, die es ebenso zu pflegen gilt, wie Aktivität und Schaffenskraft. Dazu bedarf es Räumen und Ritualen. Das Trauerfeuer kann ein solcher Ort sein, an dem die Tränen ins Fließen kommen dürfen und ein gehaltener Raum für die Qualität des Annehmens entsteht (siehe Seite 46).

Anerkennen, was da ist
Wie die Traumatherapeutin Sucha Gesina Wolters in dieser Ausgabe erläutert: »Ich brauche eine Haltung, in der ich zu der Enge, wie sie gerade mal ist, ganz und gar ›Ja‹ sagen kann, damit sie sich verändern kann. […] Dieses ›Ja‹ bedeutet jedoch nicht, dass ich es gut finde, wie es gerade ist, sondern, dass ich anerkenne und annehme, wie es gerade ist, weil es so ist.« (Seite 70) Dieses Anerkennen bietet die Möglichkeit, eigene Verstrickungen als Chancen zu begreifen, Zusammenhänge erst einmal zu sehen. Auf diese Weise erschöpfende Strukturen – wie rassistische oder transfeindliche Diskriminierungen – überhaupt erst einmal benennen zu können, ist eine Grundvoraussetzung, um sie zu verändern (siehe Seite 54).
Das Anerkennen dessen, was ist, das Fließenlassen der Trä­nen, das Ankommen im Hier und Jetzt – all dies bietet einen gewandelten Ausgangspunkt für das Tätigsein in der Welt. Es macht deutlich, wie unsere Handlungen und unser Dasein eingebettet sind in so viele Generationen vor uns, die uns neben ihren Traumata auch unzählige wertvolle Erfahrungen, des Widerstands, des Weitermachens überlassen haben. Das Ankommen im Hier und Jetzt lässt den Blick weit werden für diejenigen, die nach uns kommen – und es führt uns unsere Verantwortung vor Augen, ihnen keine verbrannte Erde zu hinterlassen. Die Tiefenökologie-Lehrerin ­Joanna Macy sagt dazu: »Wenn wir den Schmerz, den wir für die Welt fühlen, unterdrücken, dann isoliert uns das. Wenn wir ihn akzeptieren, anerkennen und darüber sprechen, dann wird er zum lebendigen Zeugnis unserer Verbundenheit mit allem Lebendigen. Und er befreit unsere Hilfsbereitschaft.« (Seite 30) Dann wird diese Verbundenheit zur Kraftquelle, die uns nährt und verbindet.
Für die großformatigen Bilder dieser Ausgabe haben wir Menschen aus dem Oya-Hütekreis gebeten, uns Fotos ihrer persönlichen Kraftquellen mit kurzen Erklärungen zu schicken. Die Verbundenheit mit dem Mehr-als-Menschlichen als wichtige nährende Quelle wird darin bildlich deutlich. Die ultimative Kraft- und Nahrungsquelle, die Ressource (wörtlich: Quelle), von der und durch die wir alle leben, ist die Erde selbst – die Planetin und der kleine Flecken, der konkrete Ort, an dem wir leben. Der Landwirt und Literat Wendell Berry beschrieb ein solches Erlebnis tiefer Verbundenheit mit der Erde, mit dem Oikos, mit seinem Weltmittelpunkt am Kentucky-River, den er bewohnt und dem er sich zugeeignet hat, ja, der eine mehr-als-menschliche Erweiterung seines Menschenkörpers ist:

Ich bin durch den Wald spaziert und habe mich zum Rasten auf den Boden gelegt. Es ist Mitte Oktober, und im ganzen Wald um mich her­um segeln die Blätter leise zu Boden. Das frisch gefallene Laub ­bildet ein trockenes, bequemes Bett, und ich entspanne mich und komme in eine innere Ruhe, wie ich sie nur noch im Wald finde.
Und dann trudelt ein Blatt in wilden Pirouetten herab und landet in der Nähe meines drittobersten Hemdknopfs. Zunächst erstaunt und irritiert mich dieser Zufall – dass das Blatt gerade so hing, gerade so schwer und so geformt, so fallbereit, so locker am Ast sitzend und durch den Windhauch so geneigt war, dass es an eben­dieser Stelle herabfiel, an der ich aufgrund gleichermaßen unwahrscheinlicher Zufälle just lag. Dieses Ereignis mit all seinen weitverzweigten Ursachen, Umständen – und letztlich: Geheimnissen – beginnt eine Bedeutung historischen Ausmaßes für mich anzunehmen. Ahnungen machen sich darin breit.
Und plötzlich vernehme ich daraus die dunklen Lockrufe des Waldbodens. Unter dem Blatt brennt mein Brustbein vor der schieren Unmittelbarkeit des Zerfalls. Andere Blätter fallen. Mein Körper erschaudert, während seine Zersetzung zu Humus beginnt. Ich fühle, wie meine Stofflichkeit schwindet, wie sie von Käfern und Würmern abgebaut wird. Tage, Winde, Jahreszeiten ziehen über mir hinweg, während ich tiefer unter das Laub sinke. Für kurze Zeit bleibt mir noch das Augenlicht, ein passives Erkennen des Himmels über mir, der darüber hinwegziehenden Vögel, des Labyrinths aus ineinandergreifenden Baumkronen, des fallenden Laubs – und dann sinkt auch das in den Untergrund. Ich bin einverstanden, und ich bin in Frieden.
 Als ich dann im Begriff bin, mich wieder aufzurichten, ist es, als würde ich aus der Erde neu geboren.

(Erzählung aus: »A Native Hill«, Copyright © 1969 by Wendell Berry. Deutschsprachige Rechte durch Mohrbooks AG, Zürich. Aus dem Englischen übersetzt von ­Matthias Fersterer.)

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