Titelthema

Wenn zwei Familien heiraten

Im Matriarchat der Minangkabau in West-Sumatra wird das Leben reich – durch Verbindungen zwischen Clans, gute ­Nachbarschaft und Freundschaften.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #61/2020
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© MatriaVal e.V.

»Spielen wir Julo-Julo?«, fragen sich Yelfia und ihre Kolleginnen jedes Jahr aufs Neue. Yelfia Susanti, 36 Jahre alt, ist Deutschlehrerin an einer Schule in der kleinen Stadt Payakumbuh in West-Sumatra. »Ja, sehr gerne!«, lautet die Antwort dann, und so entsteht eine in der Regel zwölfköpfige Spielgruppe. »Um was spielen wir?«, ist die nächste Frage. »Um Geld, aber lasst uns vereinbaren, dass wir uns dafür Möbel kaufen. Bei mir hat die Waschmaschine ihren Geist aufgegeben; wenn alle zwölf von uns 100 000 Rupien in den Topf legen, kann ich mir eine neue leisten.« Der Spieleinsatz ist damit klar. Nun werden alle Namen auf Zettel geschrieben und kommen in ein Glas. Am Anfang des Monats wird jeweils ein Los gezogen, und wer da draufsteht, bekommt von allen 100 000 Rupien. Wer nun meint, dies sei ein Spiel, bei dem manche Glück und andere Pech haben, irrt. Es gibt den Geist einer »Schenkökonomie«, wie sie überall in matriarchalen Kulturen in unterschiedlichen Spielarten Gewohnheit ist, wieder: Weil alle der Reihe nach drankommen, erlebt jede Kollegin einmal im Jahr große Geldfülle. »Ich bin am liebsten als Letzte dran«, erzählt Yelfia, dann habe ich selbst schon alles bezahlt und kann die Summe ohne Sorge ganz ausgeben.« Andere, die gerade dringend etwas brauchen, freuen sich, wenn sie früher im Jahr aus dem Lostopf gezogen werden, deshalb tauschen sie manchmal. Tatsächlich bekommt niemand »mehr« Geld durch dieses Spiel, die Fülle wird nur der Reihe nach umverteilt. Alle wissen, dass es im Ernstfall auch ohne dieses Spiel immer Unterstützung geben wird. Durch Julo-Julo wird diese Bereitschaft immer wieder manifestiert.

Yelfia, mit der Anja Marwege und ich im Oktober in einer -Videokonferenz sprachen, gehört zur Ethnie der Minangkabau, der größten heute existierenden matriarchalen Kultur. Auch wenn Projekte der Regierung, wie der geplante Bau einer Bahnstrecke, die Kultur bedrohen, können die Minangkabau weitgehend ihrer traditionellen Lebensweise folgen.

Dorfkinder sind die Kinder aller Mütter im Ort

Yelfia lebt mit ihren drei Kindern, zehn, sechs und zwei Jahre alt, ihrer Mutter, ihrem jüngeren Bruder sowie ihrem Mann in -einem Haus im Dorf Koto Tangah Simalanggang, das ungefähr 7300 Menschen beheimatet. Vor einem Jahr ist auch ihr Onkel wieder eingezogen. Er hat sich mit seiner Frau gestritten, also kehrte er ins Haus seiner Mutterlinie zurück. Dort ist Yelfias Mutter das Familienoberhaupt. Sie betreibt eine Hühnerfarm, in der alle mithelfen: Yelfias Mann fährt die Eier aus, ihr jüngerer Bruder züchtet Hähne. Zur engeren Familie gehört noch Yelfias verheirateter älterer Bruder, der bei seiner Frau lebt, und ihre jüngere Schwester, die in Jakarta Bauingenieurswesen studiert. Yelfia hat in Bandung Deutsch als Fremdsprache studiert, weil ihr die Sprache schon als Schulkind gut gefiel. Ein Jahr hat sie bei einer Familie in Heidelberg gearbeitet und dort einen Deutschkurs belegt. Deshalb genießen Anja und ich den Luxus, dass sie uns in fließendem Deutsch von ihrem Leben und ihrer Kultur erzählen kann. 

Wir fragen uns: Dürfen wir bei einer Person anrufen, nur weil sie zu einer bestimmten Ethnie gehört, und sie sehr private Dinge fragen? Sind wir dabei ausbeuterisch? Nach kurzer Zeit sind wir uns sicher, mit unserem Anliegen willkommen zu sein. Yelfia versteht unseren Wissensdurst, sie drehte mit Uscha Madeisky und Dagmar Margotsdotter den Film »Mutterland – Das Matriarchat der Minangkabau« und hat schon mit vielen Menschen in Deutschland Diskussionen über das Thema »Matriarchat« geführt.

Wegen Corona sind die Schulen seit sechs Monaten geschlossen, erzählt Yelfia, so dass sie ihre Kinder selbst unterrichtet: »Am Morgen, nach dem Frühstück, lerne ich eine Stunde mit der Großen, die beiden Kleinen spielen bei der Großmutter. Dann unterrichte ich meine mittlere Tochter, und mein zweijähriger Sohn spielt dann mit seiner großen Schwester. Die Geschwister verstehen sich gut, spielen mit den Nachbarskindern oder sind mit der Tochter meines Bruders unterwegs. Die Kinder sind die Kinder aller Mütter im Dorf, sie sind überall willkommen und nennen alle älteren Frauen Großmutter.«

Dieses Bild der kollektiven Mutterschaft zieht sich wie ein roter Faden durch unsere Gespräche mit Menschen in matriarchalen Zusammenhängen und entspricht auch unserer dörflichen Lebenspraxis in Vorpommern und in der Ostheide. »Ich kann jederzeit aus dem Haus gehen, ohne dass ich mir um die Kinder Sorgen machen muss«, sagt Yelfia. 

Uns interessiert, welche Rolle der Vater bei der Kindererziehung spielt. In wenigen matriarchalen Kulturen ist es üblich, dass der Vater im Haus seiner Frau lebt. Oft ist er nur nachts oder tagsüber zeitweise dort und wohnt ansonsten beim Clan seiner Mutter. Bei den Minangkabau hingegen lebt der Mann dauerhaft bei seiner Frau, dabei hat er eine Art Dauergast-Status. Er gehört auch nach wie vor zu seinem eigenen Mutterclan und trägt dort Verantwortung. Es gibt ein Sprichwort für die Rolle der Männer, das Heide Göttner-Abendroth in ihrem Buch »Gesellschaft in Balance« zitiert, erklärt Yelfia: »Sei wie die Farnblattranke und die Belimbing-Nuss, schüttle die Schale der Kokosnuss, pflanze Pfeffer mit den Wurzeln, bette dein Kind und geleite deinen Schwestersohn, denke an deine Dorfgenossen, schütze dein Dorf vor Zerstörung und halte die Tradition aufrecht.« Wie ein junges Farnblatt sollen sich die Väter und Brüder einer Mutter schützend um die Familie, die Bräuche und die Dorfangelegenheiten rollen.

Yelfias Mann Roni liebt es sehr, seine Kinder um sich zu haben. Er ist aber nicht häufig ihr Ansprechpartner, weil er tagsüber vor allem Eier ausfährt und mit Gebrauchtwagen handelt. Yelfias jüngerer Bruder ist öfter für die Kinder da. Abends duscht der Vater aber regelmäßig seinen kleinen Sohn und sorgt auch dafür, dass die großen Töchter gewaschen ins Bett gehen.

Ronis Mutter legte Yelfia nahe, Roni zu heiraten. Beide kannten sich seit ihrer Kindheit, er ist der Neffe von Yelfias Vater. Die Heirat würde die enge Clanverbindung aufrechterhalten, war ein Argument von Ronis Mutter. Yelfia war einverstanden.

Hochzeiten formen neue Großfamilien

Vor der Eheschließung gibt der Mann der Frau Geld, damit die für die Familienerweiterung nötigen Wohn- und Schlafzimmer gebaut werden können. Über die Höhe des Betrags entscheiden die Mutter und die Schwestern des Bräutigams, schließlich ist es das von ihnen verwaltete und im Clan gemeinschaftlich verdiente Geld, das sie ihrem Sohn und Bruder mitgeben. Hat die Geldübergabe stattgefunden, steht der Planung des Hochzeitsfests nichts mehr im Weg. Hochzeiten gehören – anders als zum Beispiel bei den Mosuo – bei den Minangkabau zu den wichtigsten gesellschaftlichen Ereignissen. Wie fast überall in indigenen Zusammenhängen gibt es bei den Minangkabau das Verbot, innerhalb des eigenen Clans zu heiraten. 

»Mit der Hochzeit bauen wir eine neue Familie«, betont Yelfia am Ende unseres Gesprächs noch einmal von sich aus, damit dieser wichtige Punkt ganz klar wird. Ich denke instinktiv, dass mit »neuer Familie« wie bei uns »Vater-Mutter-Kind« gemeint sei, begreife aber durch Yelfias Erklärungen bald, dass vielmehr der soziale Organismus gemeint ist, der entsteht, wenn sich die beiden Clans von Braut und Bräutigam verbinden. »Wenn viele Menschen zur Hochzeitsparty kommen, dann ist es ein gelungenes Fest«, meint Yelfia. »Dabei kommen selbstverständlich nicht nur zwei Clans zusammen. Meine Schwester ist mit einem anderen Clan verheiratet als mein Bruder. Alle diese Menschen, die hier zusammen feiern, werden in Zukunft füreinander da sein. Während der Hochzeit ist das Paar wie Königin und König.«

Manchmal wird auch anlässlich einer Hochzeit Julo gespielt. »Dazu wird eine Gruppe gegründet, etwa 50 oder 80 Personen«, erzählt Yelfia. Zuerst entscheiden wir, um welchen Einsatz wir spielen: eine Summe Geld oder Lebensmittel – zum Beispiel ein Viertelliter Öl, 20 Eier und eine Kokosnuss. Wer mitspielt, bringt den Einsatz zum Haus, wo die Hochzeit stattfinden wird. Alle Mitspielenden schreiben sich außerdem in eine Liste ein. Beim nächsten Fest von einer Person auf dieser Liste bringen wieder alle den vereinbarten Spieleinsatz mit.« Immer wieder neu wird sich der Spaß erlaubt, eine ungeheure Fülle anzuhäufen, um sich daran zu erfreuen und immer wieder neue Varianten zu erfinden, endlos viele Eier auf einmal zu verkochen oder zu verbacken.

Wie haltet ihr’s mit dem Geld?

Weil Anja und ich vermuten, dass Geld in keinem der ländlichen Haushalte in Hülle und Fülle vorhanden ist, möchten wir von Yelfia wissen, wie der Umgang mit dieser knappen Ressource geregelt ist. »Das Geld, das die Farm verdient, verwaltet die Großmutter«, erfahren wir. »Sie bewahrt es in ihrem Zimmer auf, und alle Clan-Mitglieder können sich davon ohne Rücksprache etwas nehmen – mit einer Ausnahme: Die angeheirateten Männer dürfen das nicht, sie müssen die Großmutter fragen. Bei ihrer eigenen Großmutter ist das aber nicht nötig.« Uns scheint, dass dieses System eher dem gemeinschaftlichen Überblick über die Finanzen als der Machtausübung dient. Die Gelder, die Yelfia als Lehrerin, ihr Bruder als Krankenpfleger oder Roni als Gebrauchtwagenhändler verdienen, behalten sie jeweils, aber sie helfen sich jederzeit gegenseitig aus. »Roni unterstützt auch seine Mutter, denn sie ist schon alt und hat keine große Familie um sich. Auch sein Bruder bekommt von unserer Familie Geld, er hatte einen Schlaganfall und kann nicht mehr arbeiten.« 

Geld wird im Alltag für Lebensmittel, die die Familie nicht selbst anbaut, benötigt, zum Beispiel für Kokosnüsse. »Wir brauchen Geld vor allem für Grundstücke«, sagt Yelfia, was mich erstaunt. Tatsächlich wird, wenn immer es Yelfias Clan möglich ist, ein neues Grundstück gekauft, oder es wird gespart, damit für die zwei Töchter später einmal ein neues Haus in der Nähe des Hauses von Mutter und Großmutter gebaut werden kann. Dieses Haus zu bauen, ist klassischerweise die Aufgabe des Vaters. Wenn die Tochter es möchte, kann sie auch an einen ganz anderen Ort ziehen. Ein weiterer Posten, für den gespart wird, ist die Gesundheit, weil nicht alle in der seit 2014 existierenden staatlichen Krankenversicherung untergekommen sind. Vorher gab es so etwas gar nicht, so dass sich noch die Regel gehalten hat, dass Grundstücke und Häuser nur dann verkauft werden dürfen, wenn der Erlös wichtige Gesundheitsausgaben finanziert.

Für viele Grundnahrungsmittel brauchen die Menschen in Yelfias Dorf aber kein Geld. Ihre Großtante zum Beispiel ist Reisbäuerin, sie hat ein paar Felder außerhalb des Orts. Die Hälfte der Ernte und auch viel Gemüse aus ihrem Garten bekommt Yelfias Familie; die Großtante erhält dafür Eier aus der Hühnerfarm von Yelfias Mutter.

Großmutter und Mutter entscheiden – und streiten auch

Wir möchten von Yelfia gerne wissen, wer über wirtschaftliche Belange auf ihrem Hof entscheidet. »Wieviel Reis angebaut und wann er geerntet wird, wann ein Huhn geschlachtet wird – solche Fragen entscheiden die beiden Großmütter«, erklärt sie uns. »Oft fragt mich meine Mutter dabei auch um Rat«, berichtet Yelfia. »Sie fragt zum Beispiel: ›Im Moment bekommen wir für ein Suppenhuhn nur 30 000 Rupien auf dem Markt. Sollen wir es jetzt verkaufen oder warten, bis der Preis besser geworden ist?‹ Daraufhin sage ich meine Meinung, und wir entscheiden zusammen. Manchmal streiten wir auch, aber das dauert nie lange. Noch am selben Abend nach dem Essen oder nach dem islamischen Gebet entschuldige ich mich bei meiner Mutter. Dann weinen wir zusammen, und das Problem ist gelöst. Mein Bruder will bei den landwirtschaftlichen Belangen und im Haushalt nicht mitentscheiden, er sagt zu meiner Mutter und mir: ›Ihr beiden macht das schon richtig.‹«

Ist der Islam denn die Religion der Minangkabau? »Ja«, antwortet Yelfia. »Alle Minangkabau sind Muslime. Die alte Naturreligion gibt es nur noch in Spuren, zum Beispiel gehen wir erst einmal zu einer Schamanin oder einem Schamanen, wenn wir krank sind. Wir befolgen aber nicht alle Vorgaben des Korans: Anders als in Arabien verwalten Frauen das Vermögen, und sie dürfen sich auch ohne Erlaubnis der Männer frei bewegen.«

Frauen und Männer machen Dorfpolitik

Besonders interessiert uns, wie das Dorf politisch organisiert wird. Gibt es denn so etwas wie einen Gemeinderat und eine Person, die der Gemeinde vorsteht? 

»Das ist komplex«, beginnt Yelfia ihre Erklärung: »In Indonesien gibt es 34 Provinzen, eine davon ist West Sumatra, diese wiederum ist in 12 Bezirke und sieben Städte gegliedert. Jeder Bezirk hat eine gewählte Führungsperson, wir nennen sie Bupati, das kann ein Mann oder eine Frau sein. Auch jede Stadt hat so eine Position, wir nennen sie Walikota. Die Bupati und Walikota wählen die Vorstehenden der Unterbezirke, die Camat. Auf der untersten Ebene stehen die Dörfer, die Nagori. Mein Nagori heißt Koto Tangah Simalanggang, und jedes Dorf hat einen gewählten Bürgermeister bzw. Bürgermeisterin, den oder die Walinagori. In jedem Nagori gibt es zwei Gemeinderäte, einen für Frauen und einen für Männer, parallel außerdem noch die Versammlung der Clanoberhäupter. Möcht ein Walinagori eine wichtige neue Regel aufstellen, muss voher mit den Clanmüttern diskutiert werden. Gemeinsam wird dann eine Entscheidung getroffen.«

Walinagoris haben auch etwa die Aufgabe, alle zusammenzurufen, wenn das Dorf saubergemacht werden soll. Die Männer kümmern sich dann zum Beispiel um die Reparatur der Zäune, die Frauen bringen Essen mit, und so ist es ein geselliger Tag. Meistens sind Walinagori Männer. »Die Frauen haben schon genug damit zu tun, die Familien zu organisieren«, sagt Yelfia. »Der Frauen-Gemeinderat trifft sich auch, um gemeinsam zu nähen oder zu kochen. Über die dorfrelevanten Themen wird dabei informell gesprochen. Dadurch werden Entscheidungen vorbereitet. Der Männer-Rat trifft sich vor allem, um miteinander Silat, die traditionelle Kampfkunst der Minangkabau, zu üben.«

Zur Zeit gibt es einen Konflikt mit der Regierung: »Sie arbeitet mit den Chinesen zusammen, und die wollen eine Bahnstrecke durch unsere Dörfer bauen. Dafür müssten die Häuser, die auf der Trasse liegen, zerstört werden. Die meisten meiner Verwandten müssten in diesem Fall umziehen, weil die Schienentrasse über ihre Grundstücke führen soll. Die Versammlung der Walinagori hat das schon abgelehnt. Wir brauchen keine Regionalbahn. Wenn wir umziehen, werden unsere Familien auseinandergerissen, das wollen wir auf gar keinen Fall.« Dazu haben die Männer- und die Frauenrunde des Gemeinderats schon Sitzungen abgehalten, Protestbriefe verfasst und Unterschriften gesammelt. Sie schlagen eine andere Strecke vor, aber am liebsten würden sie auf die Bahnstrecke ganz verzichten.

 Als wir Yelfia fragen, was sie sich für die Zukunft am meisten wünscht, sagt sie: »Dass alles so bleibt, wie es ist. Dass meine Kinder so aufwachsen können, wie ich selbst.« Wir in Europa hoffen immer auf eine »bessere« Zukunft, denke ich dabei.

Yelfia betont: »Das Wichtigste in meiner Kultur ist, dass die Kinder immer auf die älteren Leute schauen und Zeit für sie haben. Das hält uns zusammen. Als wir Kinder waren, haben sich unsere Eltern um uns gekümmert, und später ist es die Aufgabe der Kinder, sich um die Eltern zu kümmern.« So schlicht und einfach sind die Grundlagen, auf denen gutes Leben gelingen kann. //


Sie lassen sich nicht korrumpieren

»Das Adat verwittert nicht im Regen und bekommt im Sonnenschein keine Risse!« ist ein Sprichwort der Minangkabau auf Sumatra. Sie bilden mit drei Millionen das größte heutige matriarchale Volk, und sie haben über die Jahrhunderte hinweg erstaunlicherweise den Kern ihrer Kultur erhalten können. Dieser manifestiert sich im »Adat« im Gesetz ihres Volks, nach dem die Sippen strikte matrilinearität leben. Früher lebten in jedem Dorf vier Sippen, Die Sippenhäuser lagen sich jeweils kreuzweise gegenüber, und es wurde ayuch streng nur in die gegenüberliegende Sippe eingeheiratet. Heute geht es weniger streng zu, aber dass nicht innerhalb des eigenen Mutterclans, sondern möglichst in einen, aus dem der Vater stammte, eingeheiratet wird, ist nach wie vor erstrebenswert. Die Männer ziehen in den Clan ihrer Frau, tragen aber keine Verantwortung. Die liegt bei den Großmüttern, die den Grundbesitz verwalten und die landwirtschatlichen Tätigkeiten, in erster Linie der Anbau von Reis, organisieren. Es mag verwundern, dass die Minangkabau seit den Padri-Kriegen 1821–37 Muslime sind, denn der Koran verträgt sich nicht mit dem Adat. Dieses alte Gesetz der Mütter hat jedoch die stärkere Gültigkeit. Die Frauen fanden zu allen Zeiten, auch als die Holländer nach den Padri-Kriegen vesuchten, ihnen das Land zu nehmen, Wege, ihr Sippenland zu verteidigen. Die Minangkabau sind ein Beispiel, schreibt Heide Göttner-Abendroth, »Dass wir niemals von einer patriarchalen Bedrohung … automatisch auf die Umwälzung einer matriarchalen Gesellschaft in eine patriarchale schließen dürfen.« //


Yelfia im Film sehen

Mutterland – Das Matriarchat der Minangkabau, Uscha Madeisky, Dagmar Margotsdotter, Yelfia Susanti, tumolt & Töchter, 2019


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