Gemeinschaft

Was ist für mich Gemeinschaft?

In einem Abschiedsbeitrag erklärt der scheidende Hüter der Gemeinschaftsrubrik, warum sich sein Schwerpunkt vom Leben in einer Gemeinschaft zu einem gemeinschaft­lichen Leben verschoben hat.von Dieter Halbach, erschienen in Ausgabe #61/2020
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© Sonja Halbach

Seit zehn Jahren habe ich nun für Oya geschrieben, und davor bereits viele Jahre mit meinem inzwischen verstorbenen Freund Wolfram Nolte unter dem Label »eurotopia – Leben in Gemeinschaft« in der Vorgängerzeitschrift »KursKontakte«. In einem programmatischen Text schrieben wir: »Der Regenbogen symbolisiert den neuen Geist selbstorganisierter und integraler Gemeinschaftsformen – die ›Einheit in der Vielfalt‹. Waren geschichtlich Freiheit und Verbundenheit, Individuum und Kollektiv oft Gegensätze, so finden sie in heutigen Gemeinschaften zunehmend zusammen. Diese Regenbogenkraft ist eine Tendenz, die in den heutigen Gemeinschaftsexperimenten wirksam ist, nahezu unabhängig von ihren unterschiedlichen inhaltlichen Ausgangspunkten. Es ist ein tiefer menschlicher und geschichtlicher Heilungsprozess, der mit Öffnung und Vertrauen zu tun hat.«

Die Mitglieder der eurotopia-Redaktion kamen aus unterschiedlichsten Zusammenhängen. Wir gründeten 1995 das »Come together«-Netzwerk der deutschsprachigen Gemeinschaften, mit einem Spektrum von politischen Kommunen über Ökodörfer, Hare-Krishna- und urchristlichen Gruppen, bis hin zum Zegg, wo freie Liebe probiert wurde. Wolfram und ich sahen Gemeinschaften als Teil eines größeren gesellschaftlichen Wandels – zwar nicht als einfach übertragbare Modelle, aber als Lebensschulen. Im besten Fall können wir in Gemeinschaften lernen, Menschen zu lieben – und das nicht nur als romantisches Ideal, sondern auch indem wir viele Facetten des Menschseins erleben sowie Methoden, mit denen wir lernen, uns kompetenter und präziser zu verstehen.

In all den Jahren hat sich mein Blick auf Gemeinschaft erweitert. Ich sehe vor mir das Bild eines Wassertropfens, der in einen Ozean fällt. Der Wassertropfen ist in diesem Bild der ursprüngliche Seelenimpuls – ein Mensch, der aus dem Mutterschoß, dem ungeschiedenen Universum, geboren wird. Als Individuum trägt er in sich die ursprüngliche Einheit und die eigene Aufgabe und Besonderheit. Es ist der Ursprung unser aller Sehnsucht, einerseits nach Einheit wie auch nach Selbstverwirklichung. Der Tropfen fällt zunächst in die Tiefe des Ozeans der Menschheitsgeschichte. Er taucht ein in das Unbewusste der Welt, das tiefe Meer in Form all der Geschichten und der Traumata aller Ahnen. Er sinkt hinein in diese uralte Geschichte und wird so vom ursprünglichen Wesen zum Werden. Tausendmal schon wurden Menschen geboren; sie lebten, lernten, lachten, weinten und starben, damit du geboren werden konntest. 

Der Tropfen trifft auf die Oberfläche der Welt und breitet sich in Kreisen aus. In jeder Welle, jedem Kreis, sind aus der vorherigen schon unendlich viel mehr Menschen und Geschichten, als wir normalerweise wahrnehmen. Sie leben in uns fort und wollen gesehen werden.

Die erste Welle ist der Kreis der inneren Familie. Hier findet das neue Wesen Schutz, Zugehörigkeit und Abhängigkeit, Stärkung und Verletzung. Hier wird das Trauma zwischen den Generationen weitergegeben. Es entsteht eine überpersönliche, unauflösbare Verbundenheit. Zwei Ursprungsfamilien vereinigen sich dann in einer neugegründeten Familie und bilden so das solidarische Fundament unserer Gesellschaft durch Verwandtschaft.

Die zweite Welle, die Familie zweiter Ordnung, ist unsere Wahlfamilie. Sie ist auflösbar und fluide, beinhaltet aber auch Erfahrungen unserer inneren Familie, der wir oft eher zu entkommen versuchen. Und es sind neue Menschen da, mit denen wir uns entwickeln wollen. Ein Teil davon ist das, was »intentionale Gemeinschaft« genannt wird. Ein anderer Teil dieser Wahlfamilie – bestehend aus unseren Freunden, Kindern, Geliebten und Arbeitskollegen  – wohnt nicht notwendigerweise in dieser Gemeinschaft, ist aber ein Teil von ihr und will auch eingeladen werden.

Es folgen in der dritten Welle unsere Nachbarschaften, Arbeitskollegen und Netzwerke, die uns verbinden und die wir zur gegenseitigen Hilfe und zum Überleben brauchen. Werden sie auch zum Teil unserer Gemeinschaft werden können oder Teil der unpersönlichen Welt bleiben? 

Dann ist da noch das Meer, das Wasser selbst, von dem wir umgeben sind als unser aller Gesellschaft bis hin zur Weltgemeinschaft. All die geliebten und ungeliebten Mitbewohner dieser Erde, die Guten wie die Bösen, sie alle gehören zu diesem »Wasser«. Wir teilen die gleichen kollektiven Wunden, ebenso wie auch die gegenseitigen Abhängigkeiten und kulturellen Muster der Gegenwart. Diese Art von Wasser ist unsichtbar; uns erscheint es so selbstverständlich wie für Fische das echte Wasser. »Das Sein bestimmt das Bewusstsein«, sagte Marx dazu. 

Wir sind nur Tropfen unter Milliarden Menschen. Fallen mehrere Wassertropfen auf verschiedene Stellen der Wasseroberfläche, so entstehen mehrere Wellenringe. Wenn diese Wellen aufeinandertreffen, spricht man von »Interferenz«, denn die Wellen überlagern sich. Dabei kann es zu noch höheren Wellen kommen (konstruktive Interferenz) oder gar zur gegenseitigen Auslöschung (destruktive Interferenz). Es gibt sowohl Kooperation und Resonanz als auch Gewalt und Ignoranz in unserer Welt. Kann sie dennoch ein Ort der Weltgemeinschaft werden? Kann sich ein gemeinsames Bewusstsein von Tropfen, Welle und Meer bilden?

Die größere Gemeinschaft

Geprägt durch meine empathische Mutter, war ich schon immer ein Weltenverbinder, so in der Anti-Atombewegung um Gorleben (siehe Oya Ausgabe 59), als Selbstversorger in der Toskana (siehe Oya Ausgabe 6), im Ökodorf Sieben Linden (siehe Oya Ausgabe 43) oder heute in der Vertiefung von Demokratie (siehe Oya Ausgabe 45). Mich interessiert die Verbindung der Unterschiede. Auch wenn wir einen Kreis um Menschen ziehen und sagen, dies sei »unsere Gemeinschaft«, so bedeutet das nicht, dass wir die gleichen Wahrnehmungen haben. In der heutigen individualisierten Gesellschaft ist auch eine Gemeinschaft kein Kollektiv von Gleichen mehr. Wir dürfen unsere Zerbrechlichkeit im Tanz der Vielen gemeinsam und auch nicht-gemeinsam feiern. So setzen sich heutzutage die Kreise der -Intimität – befördert auch durch weltweite Mobilität und Internet – bis in die ganze Welt hinein fort. 

Neben den gewollten Beziehungen leben wir in einem Netzwerk der oft unbewussten und ungewollten Wechsel-beziehung. Oft definieren wir unser »Wir« nur sehr klein, entlang unserer Vorlieben und Zugehörigkeiten. Was wir aber brauchen, ist – neben den intimen Beziehungen – auch das Gefühl und die Praxis einer Intimität des »großen Wir«. Ein Gemeinschaftsmensch ist immer in Gemeinschaft, egal, wo er sich gerade befindet, egal, ob er die jeweils momentan physisch nahen Menschen mag oder nicht. Letztlich ist Gemeinschaft also jenseits der Formen eine innere Haltung. Es ist eine Welthaltung, die der englische Dichter David Whyte die »dialogische Natur der Wirklichkeit« nennt: »Es ist die Tatsache, dass, egal was man sich von der Welt ersehnt, egal was man von seinem Partner in einer Liebes-beziehung begehrt, was man sich von seinen Kindern wünscht oder von den Menschen, mit denen man arbeitet – es nicht genau so geschehen wird, wie du es gerne hättest … Das, was wirklich geschieht, passiert in dem Grenzbereich zwischen dem, was du meinst zu sein, und dem, was du meinst nicht zu sein. Dieser Grenzbereich, an dem sich das, was wir ›Selbst‹ nennen und das, was wir ›Welt‹ nennen, treffen, ist der einzige Ort, wo Dinge real sind.«

Dieser Ort ist es also, wo Gemeinschaft real entsteht. Ich hatte schon immer eine instinktive Abneigung dagegen, diesen Ort zu umgehen, indem ich meine Gemeinschaft nur mit Gleichgesinnten definiere. Ich habe daher immer die Grenzerfahrung gesucht, den Zwischenraum zwischen den Demonstranten und der Polizei, zwischen den Lehrern und den Schülern, den Einheimischen und den Geflüchteten usw.

»Niemand überlebt ein echtes Gespräch«, sagt David Whyte. Denn wir sind danach verändert. Doch ein wirkliches Gespräch besteht nicht aus Worten. Worte können trennen und lügen. Nach meiner Erfahrung geht es nicht ohne den eigenen, fein gestimmten Körper – emotional wie energetisch – um den anderen wahrzunehmen, um Stimmigkeit von Unstimmigkeit zu unterscheiden. Kann ich fühlen, was ich sage und was der andere sagt? Vertrauen heißt, der eigenen, geklärten Selbstwahrnehmung trauen zu können – dann kann ich auch anderen trauen. Wir müssen eine musikalische Resonanz-Sprache lernen, wenn wir zusammenleben und als -Gattung überleben wollen.

Mein Traum

In einem Traum konnte ich einmal eine Welt erleben, die auf Resonanz beruhte.

Ich träumte, dass ich unter vielen, ganz verschiedenen Menschen auf einer großen Wiese bin: Junge, Alte, Männer, Frauen, Farbige, Weiße. Sie tun all das, was Menschen überall tun: Sie lieben sich, sie essen, sie sterben, sie werden geboren, sie sind krank, sie schlafen, sie arbeiten. All das, was Menschen überall tun, tun sie hier öffentlich ohne Scham und ohne Voyeurismus. Jede und jeder ist ganz bei sich. Es ist das Leben, wie es wirklich ist. Aber etwas ist anders: Ich kann jeden einzelnen Menschen fühlen! Ich kann ihn von innen sehen und erlebe sein Leben, wie er es erlebt. Und da ist noch eine wichtige Zutat. In meinem Blick ist ein objektives und ruhiges Licht. Die Frau neben mir hat ein Kind geboren und es gleich wieder verloren, es ist tot. Sie schreit ihren Schmerz, sie versinkt in Ohnmacht. All das kann ich fühlen, und es zerreißt mich. Doch ich kann auch ihre riesige Liebe sehen. Ich blicke mitfühlend, und ich blicke vorbehaltlos. Ich sehe mehr als das innere Drama des Einzelnen. Ich sehe mehr, als er selbst sieht. Wenn ich meinen Blick in die Menschen versenke, verstehe ich. Ich bin sie. Und ich bin ganz bei mir. Und auch ganz enthoben. Ich bin nicht ganz hier, und ich bin ganz zu Hause unter diesen Menschen. Es ist alles wie immer – nur ich sehe von innen und von oben. Von Tränen des Glücks gerührt, wache ich auf.

Gemeinschaft ist heute oft ein mühsames Unterfangen. So viel ist zu kommunizieren und zu entscheiden, denn wir sind unterschiedlich und müssen uns erst wieder zusammenfinden: so wie die Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Aber statt ständiger Mühe können wir auch eine andere Form der Wahrnehmung lernen. Wie in meinem Traum können wir lernen, mit einem erkennenden Herzen den Anderen von innen zu fühlen – und gleichzeitig Raum zwischen uns zu lassen. Mit dieser Gabe kann ein Gespräch – vielleicht sogar die Vollversammlung einer Gemeinschaft oder gar eine UN-Vollversammlung – zu Musik werden. Diese Fähigkeit können wir üben; Thomas Hübl nennt dies »transparente Kommunikation«.

David Whyte hat dabei Folgendes beobachtet: »Je mehr wir im Gespräch sind, desto größer ist das Feld, das wir bewohnen, desto größer ist der Körper der Verständigung. Es ist ein Gespräch zwischen dem Versuch, ein starkes, fest umrissenes Selbstgefühl zu entwickeln und dem ständigen Leben in der Verletzlichkeit, von dieser größeren Gemeinschaft des Gesprächs überwältigt oder eingeladen zu werden. Eine gute Beschreibung einer Ehe, der Elternschaft oder eines Arbeitslebens!« Und es ist auch eine gute Beschreibung der Demokratie. Seit ich nach 25 Jahren aus dem Ökodorf Sieben Linden weggegangen bin, mache ich also neben Kunst und Musik vor allem Dialogarbeit – zunächst 2015 zwischen Einheimischen und Geflüchteten, jetzt mit allen Bürgern von Bad Belzig inklusive den Verantwortlichen der Stadt. Nur dann, wenn Gegensätze aufeinandertreffen und gemeinsame Lösungen entwickelt werden, entsteht demokratische Politik. Insofern ist eine neue politische Kultur auch eine innere Herausforderung, wenn sie die Vielfalt und den Dialog einlädt. Geloste und moderierte Bürgerräte, wie sie jetzt bundesweit – und sogar im Auftrag des Bundestags – stattfinden, sind für mich Teil eines kulturellen Wandels, denn nach Albert Einstein gilt: »Gott hat keinem alles, sondern jedem etwas gegeben, damit wir einander bedürfen.« Meine größte Vision ist, dass dieser Geist der Kooperation im verfassungsgemäßen Zentrum der Macht, dem Parlament, stattfindet – eine empathische Konfrontation im Dienst des Ganzen. 

Das Annehmen der Unterschiedlichkeit und ihre Nutzung für ko-kreative Lösungen ist die Basis solch eines »tiefen« Demokratieverständnisses. Mangelndes Bewusstsein über das Wunder unserer Unterschiedlichkeit ist die Wurzel von persönlichen und politischen Konflikten. Ein erweitertes Gemeinschaftsverständnis führt auch zu einem tieferen Demokratie-verständnis. Gemeinschaft ist in dieser Sicht keine feste Gruppe und kein fester Ort, sondern eine Bewegung zwischen Zugehörigkeit und Entwicklung, zwischen Unterschied und Resonanz. Spannung und Unwissenheit bleiben also bestehen. Ist das nun schlimm oder schön? 

Mein Lieblingszitat zu Gemeinschaft stammt von Rilke: »Aber, das Bewusstsein vorausgesetzt, dass auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen!« 

Mein Schwerpunkt hat sich vom Leben in einer Gemeinschaft zum gemeinschaftlichen Leben verschoben. Sowohl in die Tiefe – in die eigene und kollektive Traumaarbeit und in die Musik als meinem »göttlichen« Zugang –, als auch in die Breite – in die Demokratie als Gemeinschaft von uns allen.

Folgerichtig werde ich fortan als verantwortlicher Redakteur das Magazin des Vereins »Mehr Demokratie« gestalten – und mit Oya verbunden bleiben. //



Mehr erfahren

Bürgerdialoge: www.bad-belzig-spricht.de

Traumaarbeit: www.pocketproject.org

Demokratie: www.mehr-demokratie.de
www.buergerrat.de

Musik: www.bazar-andalus.de (Sufipoesie und Weltmusik) 

www.laura-morgenstern.de (Liebeslieder aus KZ und Flucht)

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