Das kolumbianische Dorf Nashira ist für 80 Frauen und ihre Familien ein sicherer, blühender Ort.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #62/2020
»Wer in Nashira ein Haus bekommt, hatte es wirklich nötig.« Diesen Satz aus einem Dokumentarfilm über das kolumbianische Dorf Nashira hatte ich im Ohr, als ich mich in die Videokonferenz mit zwei Frauen aus diesem Ort einwählte, gemeinsam mit der Spanisch-Englisch-Dolmetscherin Angela Cuevas de Dolmetsch (sic) und meiner Redaktionskollegin Anja Marwege. »Wirklich nötig« hieß soviel wie: »Wir lebten in einem Slum, eine meiner drei Töchter wurde erschossen, als sie neun Jahre alt war.« Für mittellose Frauen mit Gewalterfahrungen wurde 2002 ein Dorf gegründet, benannt nach dem Stern »Nashira« im Sternbild des Steinbocks. Der Name bedeutet »sich ausbreitendes Glück«.
Vor dem Gespräch war ich aufgeregt. Würde es möglich sein, die Menschen dort auf ihre leidvolle Vergangenheit anzusprechen, ohne voyeuristisch zu wirken?
»Wir sind Leiterinnen von Nashira«, stellten sich Bárbara Orjuela und Isabel Figueroa vor, »wir glauben, wir haben bisher eine tolle Arbeit geleistet«. An Selbstvertrauen mangelt es ihnen nicht, dachte ich, und traute mich zu fragen, wie sie denn an diesen Ort gekommen seien. »Wir lebten in der Gegend, in der Nachbarstadt El Bolo, und haben uns in dieses wunderbare Dorf verliebt«, erzählten sie. »Ich kam 2006 als 19-Jährige mit meiner Mutter«, berichtete Isabel. »Das Projekt verzauberte mich, und ich beschloss, mein ganzes Leben zu bleiben. Hier konnte ich mich einbringen, etwas gestalten. Inzwischen habe ich hier zwei Töchter.« Barbara kam 2004, weil sie ihre schwerkranke Mutter an einen Ort, an dem sie gut gepflegt werden konnte, bringen wollte. Ihre Mutter wurde wieder gesund, heute ist sie 96. Zu Barbaras Haushalt gehören noch ihre beiden Söhne. Ich ertappte mich bei dem Gedanken: »Schade, keine von beiden erzählt eine sensationelle Befreiungsgeschichte«. Dieses Bedauern war mir sofort zutiefst peinlich. Offenbar war es in der Anfangsphase genauso möglich, in Nashira ein Haus zu bekommen, wenn eine Frau ihre Verbundenheit mit dem Ort ausdrückte und sich mit ganzem Herzen für die Gemeinschaft einsetzen wollte.
»You have to give to the community!«, bekomme ich in den nächsten zwei Stunden immer wieder zu hören. Wie lässt sich das übersetzen? »Du musst deiner Gemeinschaft alles geben«? »Alles« hat niemand gesagt. Es geht offenbar nicht darum, das letzte Hemd zu geben. Erst nach langem Nachdenken fällt mir eine passende Formulierung ein: »Lebe in einer nährenden Haltung deiner Gemeinschaft gegenüber.« Das, so Isabel und Barbara, sei es, was Nashira trägt und was sie heute an die junge Generation vermitteln. Ein kulturelles Erbe weiterzureichen, eine Tradition zu begründen – darum geht es ihnen ganz besonders. Barbara und Isabel ist auch bewusst, dass sie selbst in einer Traditions-linie stehen: jener der weltweit noch existierenden Matriarchate.
»Ist Nashira für euch ein Matriarchat?« Großes Gelächter. »Frag mal unsere Männer, die sagen bestimmt ›Ja‹!«
»Was ist es, was ihr beide insbesondere der Gemeinschaft gebt?« – »Ideen, Strategien, unsere Fähigkeiten, etwas zu organisieren, Geld aufzutreiben. Wir können Worten Taten folgen lassen, das wissen die Leute, sie vertrauen uns. Wenn sich ein neues Projekt anbahnt, holen sie uns dazu, damit etwas daraus wird. Für solche Hilfe verlangen wir nie Geld.« So ist es also zu verstehen, dass sie zu »Leiterinnen« geworden sind.
Ein geschenkter Ort
Die Idee zur Gründung Nashiras kochte eine Gruppe politisch engagierter Frauen um die Jahrtausendwende herum aus. Zunächst waren sie in Stadtvierteln von Cali aktiv, wo Drogenhandel und Gewaltverbrechen an der Tagesordnung sind. Sie brachten dort Frauen bei, wie sie aus Altpapier neues Papier schöpfen und damit ein kleines Einkommen generieren konnten. Dabei waren sie inspiriert von der Theorie der Linguistin und Matriarchatsforscherin Geneviève Vaughan zur Schenkökonomie. Schnell wurde deutlich: Was diesen Frauen geschenkt werden sollte, war ein Haus an einem sicheren Ort. Sie gründeten eine Stiftung und sammelten Geld, um das 30 000 Quadratmeter große Gelände des heutigen Nashira zu erwerben. Dort war nichts außer einer dürren Wiese. Gemeinsam mit den Frauen bauten sie 40 Häuser, jeweils acht Häuser bilden eine Nachbarschaft. Die erste, die dort lebte, war Yamile Perdomo; sie zog dort mit sieben Kindern ein, ihr Bruder half beim Hausbau und blieb. Die ersten Frauen, die Nashira aufbauten und dann dort lebten, waren überwiegend alleinerziehende Mütter, später kamen Väter, Großväter, Ehemänner und weitere Brüder dazu. Es blieb aber dabei, dass nur weibliche Personen Häuser besitzen und erben dürfen.
Die Idee der Schenkökonomie sollte sich auch im Wirtschaftsleben des Dorfs wiederfinden. Ein Gemeinschafts-acker wurde angelegt, auf dem jede Familie Gemüse anbauen kann. Rund um die Häuser wurden Bäume gepflanzt, dort gedeihen nun Orangen, Zitronen, Guaven, Avocados und Trauben. Die Ernte wird in der Nachbarschaft geteilt. Für den sonstigen Bedarf entwickelten sich diverse handwerkliche Aktivitäten: Fünf Familien, auch die von Barbara, gründeten eine Recyclingfirma. Jeden Tag sammeln sie in Nashira und den umgebenden Dörfern den Müll ein. Aus Glasflaschen werden dann Trinkgläser, aus Plastikflaschen künstliche Blumen und aus Altpapier wieder neues, handgeschöpftes Papier. Den restlichen Abfall verkaufen sie an eine Recyclingfirma aus der Gegend. Andere Frauen schneidern, töpfern, stellen Naturkosmetik her, vermieten Ferienwohnungen oder verkaufen Kompost.
Isabel beschreibt ihre persönliche Mischung aus Schenk- und Marktwirtschaft: »Meine Gemüseernte verteile ich in der Nachbarschaft, aber für das Futter meiner Hühnerfarm brauche ich Geld, also verkaufe ich die Hühner. Eine kranke Nachbarin bekommt ein Huhn aber selbstverständlich umsonst.«
Die weltbesten Entscheidungsfinderinnen
Nashira ist ein selbstverwalteter Ort. Einmal im Jahr kommen alle, die dort wohnen, zur Generalversammlung zusammen und wählen einen zwanzigköpfigen Dorfrat, der monatlich tagt. Eigentlich sitzen dort nur Frauen, doch inzwischen ist auch ein Jugendlicher dabei. Er ist hier aufgewachsen, die Frauen hatten nichts dagegen, ihn in ihren Reihen zu haben, denn er kennt die Kultur, Konsensentscheidungen zu fällen. Die anderen Männer sind glücklich, den Frauen das Entscheiden zu überlassen. All die Jahre gab es nie Streit im Rat, erzählen Isabel und Barbara.
»Wir haben für alles Lösungen gefunden. Die Aufgaben des Rats waren dabei komplex: Zu den ersten 40 Häusern kamen bald noch einmal 40 hinzu. Es musste ein Bauantrag gestellt werden, Baufirmen koordiniert – und als das Geld nicht reichte, ein Förderantrag bei der Regierung gestellt werden, neue Mitglieder aufgenommen und in die Gepflogenheiten des Orts eingeführt werden. Rechtlich gesehen funktioniert das Dorf wie eine Wohnungsgenossenschaft. Der Dorfrat wählt formell eine Präsidentin, die alle Verträge unterschreiben kann, aber sie hat keine Entscheidungsmacht. Barbara hatte diese Rolle viele Jahre inne. Hinzu kommt die Stiftung als Grundeigentümerin, die auch vom Dorfrat gelenkt wird und ständig Spenden einwirbt – zum Beispiel, um gemeinschaftlich genutzte Infrastruktur wie einen Sportplatz zu bauen oder um Weiterbildungen oder Konferenzen, zum Beispiel zum Thema Schenkökonomie, zu organisieren.
Besondere Techniken zur Entscheidungsfindung braucht der Dorfrat offensichtlich nicht. Es gibt eine gewachsene Kultur, sich gegenseitig zuzuhören und nichts zu überstürzen, sondern Entschlüsse reifen zu lassen.
»Frauen sind die weltbesten Entscheidungsfinderinnen!«, sagen Isabel und Barbara strahlend und augenzwinkernd zugleich. »Sie denken das Wohl der Gemeinschaft immer mit!«
Oh, ich habe es mit zwei hartgesottenen Differenzfeministinnen zu tun! Selbst bin ich nicht davon überzeugt, dass nicht auch ein Kreis von Männern oder ein gemischter Kreis gute Entscheidungen fällen kann; es kommt darauf an, ob die Menschen kulturell auf Konsens oder auf Wettbewerb geprägt sind. Doch es scheint sich weltweit zu bewähren: Gib die Häuser den Frauen, lass sie in einer Konsens-Runde über alle Belange einer Siedlung entscheiden – und Glück und Wohlstand werden einziehen. Was Barbara und Isabel über Nashira erzählen, erinnert mich an das von kriegstraumatisierten Frauen in Nord-Ost-Syrien gegründete Dorf Jinwar (Oya 61). Auch dort hüten die Frauen die Häuser und die Entscheidungen – und Glück und Wohlstand zogen ein.
Die Guerilleros fürchteten sich vor der Liebe der Frauen
Obwohl ich davon ausgehe, dass sie dasselbe antworten werden wie alle Menschen aus Matriarchaten, die ich dazu befrage, erkundige ich mich bei Barbara und Isabel nach dem Umgang mit Menschen, die sich weder als Frau noch als Mann fühlen oder homosexuell sind. »Wir hatten diesen Fall noch nie«, erzählen sie. »Wir in unserer Generation haben nie darüber nachgedacht, aber für die jungen Leute kommt es vielleicht in Frage. Für uns ist klar, dass niemand wegen seiner sexuellen Orientierung diskriminiert werden darf. Alle sollen so sein, wie sie wollen. Bei uns spielen die Mädchen gerne Fußball und die Jungs tanzen gerne Salsa.« Tanzen gehört in Nashira zum Allerwichtigsten. Die nahegelegene Stadt Cali gilt als »Hauptstadt des Salsa«. Regelmäßig kommt ein Salsa-Lehrer ins Dorf, und bei Festen wird bis in die Nacht getanzt. »Wir tanzen viel – sehr, sehr viel!«, betont Isabel. »Und trinken dazu selbstgebrannten Zuckerrohrschnaps.« Anlässe, um zu feiern, gibt es genug – Familienfeste ebenso wie Dorffeste. Weihnachten, so lerne ich, feiern alle gemeinsam um einen großen Baum herum, an dem Geschenke für alle hängen. Vor einem Fest überlegt jede Nachbarschaft, also jede Gruppe aus acht Häusern, was sie diesmal kulinarisch beitragen will: Die eine sorgt für den Reis, die nächste mixt Salate, wieder eine andere brät Hühner. Auf dem Dorfplatz wird alles zusammengetragen.
Mit einfachen Mitteln gemeinsam den Reichtum feiern – das kenne ich von so vielen Berichten aus Matriarchaten. Alles, was sie erzählen, klingt für mich paradiesisch. Dass die Kinder überall im Dorf willkommen sind, dass ihnen alle Türen offenstehen und alle sich kümmern, Frauen wie Männer – auch das ist in Nashira üblich, genau wie in anderen matriarchalen Zusammenhängen.
Gibt es denn irgendetwas, das Nashira bedroht? Gibt es Druck vom Staat, von Drogenbanden? Nein. Ist Nashira in der Zeit des Bürgerkriegs bis 2016, als FARC-Guerillas und andere Paramilitärs viele Dörfer in Kolumbien überfielen, jemals angegriffen worden? »Nein, nie«, erzählen Isabel und Barbara. »Die Guerillas hatten zu viel Angst vor uns Frauen. Sie fürchteten sich vor unserer Liebe. Sie wussten, in Nashira wird ihnen nie Gewalt begegnen, sondern Liebe – das war ihnen zuviel!« //