Stadt und Land. Gegensatz oder Zusammenspiel? Die Stadt kann ohne das Land nicht leben, während es umgekehrt zwar Impulse gibt, aber kaum Abhängigkeiten. Die Kulturlandschaft des ländlichen Raums bildet die Voraussetzung für das Konstrukt des Urbanen. Viel wird geschrieben darüber, das Landleben oft romantisch verbrämt. Jetzt hat ein emeritierter Kulturgeograph und -Alpenforscher das Thema in die Hand genommen und dabei keine akademische Vorsicht gezeigt, wie das Experten leider oft tun, solange ihre Karriereleiter noch Sprossen nach oben aufweist. Werner Bätzing führt uns von der Entstehung der Landwirtschaft vor 12 000 Jahren durch Europas offene Räume, durch die Transformationen in Altertum, Mittelalter und Neuzeit und stellt schließlich die Frage nach der Rolle des ländlichen Raums heute: Produktionsfläche zum Nachschub für die Städte oder soziales Biotop für ein autarkes, erfülltes Leben? Bätzing spricht vom »guten Leben« – einem Wert, der ja leicht zur Floskel verkommen kann. Die Bräuche und Riten auf dem Land, womöglich wild und urig aus städtischer Sicht, dienten einmal dem Erhalt dieses »guten Lebens«. Heute, da die industrielle Hybris der Machbarkeit und des Profits sich ausgebreitet hat, ist die Ehrfurcht vor der Schöpfung nur noch leise zu hören. Aus lebendigen Bräuchen sind, so Bätzing, laute Schauspiele für die Tourismusindustrie geworden.
Den Terminus des »guten Lebens« kenne ich aus meinem engen Arbeitskontakt mit den Haudenosaunee, den Six Nations der Irokesen in Nordamerika. Die Häuptlinge dieses indianischen Völkerbunds verpflichten sich ausdrücklich, dafür Sorge zu tragen, dass die nachfolgenden sieben Generationen »the good life« leben können. Auch Oya hat sich ja die Erforschung der Bedingungen eines »guten Lebens« zur Aufgabe gemacht.
Das Leben auf dem Land darf nicht fremdbestimmt sein, darf nicht zum bloßen Lieferanten für die Metropolen verkommen. Nur wenn eine vielfältige, dezentrale und nachhaltig bewirtschaftete Kulturlandschaft ihre Bewohner ernähren kann, können die Menschen sich mit ihrer Region identifizieren. Wenn dem Landleben wieder eine Seele eingehaucht wird, können die Städte guten Gewissens von dort ihren Nachschub an Nahrung, Energie und Rohstoffen erwarten.
Bätzing schreibt aus seiner persönlichen Erfahrung – gründlich, engagiert, überlegt, überzeugend. Das macht das Buch so gut lesbar. Die letzten Worte gelten dem Paradigmenwechsel: »Ein tiefgreifender Umbau von Wirtschafts-, Siedlungs- und Infrastrukturen und aller unserer Verhaltensweisen ist angesagt. Wir dürfen uns den Sachzwängen einer unüberschaubar gewordenen Welt nicht ausgeliefert fühlen. Wir müssen aktiv werden!« Wir verfügen über das nötige »Orientierungswissen« – ein Begriff des Philosophen Jürgen Mittelstraß –, so dass wir eingreifen können.
Das Landleben Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. Werner Bätzing C.H.Beck, 2020 302 Seiten ISBN 978-3406748257 26,00 Euro