Titelthema

Was ›man‹ so Liebe nennt

Wie matriarchale Beziehungsweisen tiefe Verbindungen zu Menschen, Orten und der ganzen Erde ­inspirieren ­können. Eine persönliche Spurensuche.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #62/2020
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Einem spätkapitalistischen Bonmot zufolge ist es leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus; auf ähnlich absurde Weise kann es manchmal naheliegender erscheinen, sich das Ende der eigenen Existenz auszumalen als den Beginn einer gleichwürdigen Liebesbeziehung jenseits patriarchaler Muster. Als ich mich zu Beginn der artspezifischen Lebensmitte in einer langjährigen Beziehung in einer Sackgasse wiederfand, ertappte ich mich dabei, wie ich mir meinen – mal durch diesen, mal durch jenen externen Faktor herbeigeführten – frühzeitigen Tod vorstellte; ähnliche Erfahrungen wurden mir von Freundinnen, Freunden und therapeutisch arbeitenden Menschen berichtet.

Solche drastischen Vorstellungen kommen nicht von ungefähr: Der Codex des Kanonischen Vatikanischen Rechts sieht vor, dass die Ehe »durch keine menschliche Gewalt und aus keinem Grunde, außer durch den Tod, aufgelöst werden« kann. Früher drohte einer »Ehebrecherin«, verstoßen, gefoltert, verbrannt, -lebendig begraben oder gesteinigt zu werden – und in manchen Gesellschaften ist das noch heute der Fall. Männer, die dieselbe Frau liebten, forderten »Genugtuung«, indem sie sich bis auf den Tod duellierten. Der Sieger erhielt die Umkämpfte als »Trophäe«, ohne dass deren Wollen und Begehren von Belang gewesen wäre.

Was bedeutet es angesichts dieses kollektiven gewalttätigen Erbes, Beziehungsformen als etwas historisch Gewachsenes zu betrachten? Woher kommen solche Handlungsmuster und wie können diese verändert werden?

Patriarchales Erbe

Mit Anfang zwanzig fand ich mich mit der früheren Liebschaft meiner damaligen Freundin im düsteren Treppenhaus eines Münchener Altbaus wieder. Wir wussten beide um unsere zeitlich versetzten Liebesbeziehungen zu derselben Frau, und obwohl ich kein Nebenbuhler, sondern ein Nachfolger war, war die Atmosphäre zwischen uns angespannt. Während wir die Treppe hinabstiegen, versetzte er, wohl eher unbewusst als absichtsvoll, seinen mit Metallspitze versehenen Regenschirm in kurze, energische Bewegung. Unwillkürlich durchzuckte mich ein stechender Schmerz in der Magengegend und Bilder stiegen vor meinem inneren Auge hoch: Der Schirm war zum Degen geworden, dessen schmale Klinge körperlich spürbar meine Bauchdecke durchbohrte, während ich meinem Gegenüber gleichzeitig eine Klinge in den Leib rammte. – Wir hielten beide einen Moment inne, wechselten irritierte Blicke, und gingen unserer Wege.

Die gewaltsame Penetration – ob mit Klinge oder männ-lichem Glied – ist der Dreh- und Angelpunkt patriarchaler, besitzergreifender »Liebe«; befeuert wird diese durch Eifersucht, Kränkung und Konkurrenzdenken. Bezeichnenderweise war ich in meinem inneren Bild zugleich Opfer und Täter patriarchaler Gewalt gewesen.

Das Private ist politisch

Schluss mit den brutalen Bildern. Wo bleibt die Romantik? – Als Gipfel patriarchaler Romantik gelten zwei Individuen, die, einzig und allein aufeinander bezogen, dem Sonnenuntergang ent-gegenfahren oder -reiten: »Lass uns miteinander fortgehen!« – »Rom, Paris, London, New York!« – »Lass uns irgendwo ganz neu anfangen!« Das Liebesfilm-Genre und die romantische Weltliteratur sind voll von solchen marktgängigen Liebesbekundungen und persönlichen Great-Reset-Szenarien. Derart losgelöst von lebendigen sozialen, landschaftlichen und regionalen Zusammenhängen werden Menschen vermeintlich zu autonomen Subjekten – frei flottierende Teilchen in entgrenzten Märkten: entbettet, bedürftig, anfällig für die Versprechungen der Warengesellschaft – die jedoch in Wahrheit durch wirtschaftliche und emotionale Abhängigkeiten aneinander sowie an die Mechanismen struktureller Gewalt gekettet sind. Gewiss, das ist überspitzt – niemand lebt genau so; und doch macht die Überzeichnung weitverbreitete Strukturen, Tendenzen, Muster sichtbar – etwa jenes Muster, das besagt, zwei Liebende sollten füreinander das Ein und Alles sein. Auch wenn die beiden nicht in Manier der Go-West-Romantik miteinander fortgehen, um irgendwo neu anzufangen, gibt oft eine im Bund – typischerweise: sie – ihr soziales Umfeld auf, um die Beziehung zu diesem einen Menschen – sprich: Mann – zum Lebensinhalt zu machen. Darunter leidet dann nicht nur die Freiheit, sondern auch die Verbundenheit. Und schon nehmen die kleinen und großen Spiralen von Abhängigkeit, Unfreiheit und struktureller Gewalt ihren Lauf, wobei diese nahezu in der -gesamten überlieferten Geschichte, so auch unter den spätpatriarchalen Bedingungen der Gegenwart, für Frauen deutlich restriktiver als für Männer waren und sind.

Wie aber könnte es anders gehen? Wie kann unter diesen Bedingungen und mit diesem Erbe aus der Kraft der Liebe in all ihren Formen – und nicht verstümmelt auf marktkonforme Romantik – eine subversive Gestaltungsmacht erwachsen? Der Historiker Peter Linebaugh erkannte in der Liebe in ihren Ausprägungen als agape, eros und philia eine revolutionäre Kraft, die ein Bindeglied zwischen der Commons-Bewegung und anderen emanzipatorischen Bewegungen schaffe (siehe Seite 92). Der Anarchist Gustav Landauer schrieb bereits vor 100 Jahren: »Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten.« Die herrschende zu einer egalitären Form des Zusammenlebens zu transformieren, könne Landauer zufolge gelingen, »indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.« Wie wir Beziehungen und somit auch Liebesbeziehungen gestalten, ist immer auch eine politische Frage, wie es ein zentraler Claim der feministischen Bewegungen seit den 1970er Jahren betont: »Das Private ist politisch!« Wie aber können Schritte hin zu post-patriarchalen Beziehungen aussehen?

Egalitäre Einbettung

Einen Hinweis darauf gab die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth in einer Antwort auf die Frage der Zeitschrift »Jineolojî«, ob es »unter den Bedingungen von Patriarchat und Kapitalismus freie partnerschaftliche Beziehungen« überhaupt geben könne:

»Ich muss schlicht sagen, nein. Die partnerschaftlichen Beziehungen sind belastet durch die patriarchalen Rollenklischees und durch die ausbeuterischen Formen, die der Kapitalismus sowohl Männern als auch Frauen auferlegt. […] Dazu kommen die patriarchalen Rollenklischees von Mann und Frau, die in jeder Hinsicht einengen: Der Mann ist das Oberhaupt und die Frau dient ihm. […] Es müssen sowohl äußerlich als auch innerlich diese alten Rollenklischees überwunden werden. […]

Bei der Bildung von Gemeinschaften und Kollektiven kann eine relative Freiheit, eine relative Erweiterung der Gefühlswelt entstehen. Da ist ein Raum gegeben, der schon etwas […] herrschaftsfreier als sonst [ist]. Die Menschen, wenn sie sich zugetan sind, können sich gegenseitig viel mehr helfen und freundlich korrigieren, so dass man die ganzen Herrschaftsmuster, die Partnerschaften belasten, durchschaut, sowohl die äußeren wie die inneren, und daran arbeitet, sie zu überwinden. Denn wenn eine Kleinfamilie innerhalb einer Gemeinschaft Probleme hat, sind andere da, die helfen können, die trösten können, und sie können schützen, besonders was die Kinder betrifft. Je mehr solche Gemeinschaften entstehen und sich vernetzen, desto mehr wächst die Freiheit und desto mehr wächst die Freiheit in den partnerschaftlichen Beziehungen.«

Solche räumliche, emotionale, soziale und ökonomische Freiheit in Verbindung mit gemeinschaftlicher und regionaler Einbettung wird in matriarchalen Gesellschaften durch eine Beziehungsform geschaffen, die in der Ethno-logie »Besuchs-« oder »Wanderehe« genannt wird. Ihre jeweiligen Ausprägungen unterscheiden sich in den verschiedenen matriarchalen Gesellschaften – in der vorangehenden Ausgabe wurde über jene der Minangkabau auf Sumatra, der Mosuo in Südchina und der Khasi in Nord-indien berichtet –, gemeinsam sind ihnen jedoch bestimmte Grundprinzipien: Anders als in patriarchaler Tradition besucht der Mann die Frau im Haushalt ihrer Mutter oder zieht dort ein. Zwei Menschen teilen eine Liebesbeziehung, die Monate, Jahre oder auch ein Leben lang dauern kann, sind jedoch nicht wirtschaftlich voneinander abhängig. Im Fall einer Trennung, die von beiden Beteiligten herbeigeführt werden kann, geht der Mann vollends zu seinem Clan zurück.

Dies ist nicht unmittelbar auf die Lebenswirklichkeiten in westlich geprägten Gesellschaften übertragbar, kann jedoch neue, egalitäre Beziehungsformen inspirieren. Eine »Wanderbeziehung« ist eine in sich gültige Form, die den Abstand zwischen den Liebenden nicht als etwas Defizitäres – das in der Bezeichnung »Fernbeziehung« mitschwingt –, sondern als konstituierendes Element der Liebe zwischen zwei Menschen integriert.

Ich erfahre am eigenen Leib, wie sich diese Beziehungsform hier und heute auf Freiheit und Verbundenheit stiftende Weise adaptieren lässt: Ich lebe an meinem Weltmittelpunkt, in einer intentionalen Gemeinschaft mit matriarchalen Zügen, gemeinsam mit verwandten und wahlverwandten Menschen, mit denen ich alt werden möchte – etwa mit meinen leiblichen Kindern und deren Mutter. Meine Liebesgefährtin lebt an ihrem Weltmittelpunkt in einer queer-feministischen Gemeinschaft. Obwohl wir uns innig und dauerhaft verbunden fühlen, war es keine Option, unsere Weltmittelpunkte der Liebe wegen zu verlassen – andernorts wären wir nicht mehr dieselben Menschen. Wir leben unsere Leben und fühlen uns getragen durch Beziehungen zu Freundinnen und Freunden, zu Clanschwestern und -brüdern, zu unseren Kindern.

Allein schon der Umstand, dass wir als Geliebte sozial und wirtschaftlich nicht voneinander abhängig sind, weil wir in Gemeinschaften und in Formen solidarischer Ökonomie eingebunden sind, ermöglicht es uns, einander ungleich mehr Zuneigung und Freiheit zu schenken – so auch die Freiheit, heteronormative Rollenbilder, etwa das des Versorgers und das des Hausmütterchens, zu »queeren«, also sich diesen bewusst zu widersetzen, sie ironisch zu brechen oder spielerisch aufzugreifen. Die Liebe nicht automatisch an Rollen und Funktionen zu knüpfen, ermöglicht es uns, einander unverstellter zu begegnen und, wenn bestimmte Muster sich zeigen, diese als das zu erkennen, was sie sind: ausgediente Prägungen aus 6000 Jahren patriarchaler Geschichte.

Wandel als Konstante

Eine Crux patriarchaler Ausschließlichkeitsbeziehungen ist, dass sie an ein Formversprechen – also daran, dass nicht die Beziehung selbst, sondern eine bestimmte Beziehungsform überdauern soll – geknüpft sind (»Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden«). Alles Lebendige verändert jedoch unentwegt seine Form – evolutionär, gesellschaftlich und auch zwischenmenschlich ist der Wandel die einzige Konstante. Es dauert sieben Jahre, bis sich jede Zelle meines Körpers erneuert hat – wie könnte ich da annehmen, in zehn, zwanzig, dreißig Jahren noch derselbe Mensch zu sein? Das hat gerade nichts mit Wankelmut oder Unentschlossenheit zu tun, sondern damit, durch gestaltwandlerische Formen, die mitwachsen und sich verändern dürfen, zu ermöglichen, füreinander Lebensmenschen zu sein, die sich über den Augenblick hinaus in Liebe zugetan sind: »love is not love / which alters when it alteration finds« (Liebe ist nichts, was sich ändert, wenn sich etwas ändert), wird dieser Umstand in einem Shakespeare-Sonett benannt, das ironischerweise oft bei Trauungen, die zum wesentlichen Teil auf Formversprechen basieren, zitiert wird. Wie ich von der Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt, anknüpfend an den Maler Paul Klee, lernte, ist es jedoch, wenn Neues in die Welt kommen soll, entscheidend, sich nicht auf die »Form--Enden«, sondern auf die »formenden Kräfte« zu konzentrieren.

Es gibt viele Wege, Freiheit und Verbundenheit in Beziehungen zu stiften und damit friedlichen Widerstand gegen ausbeuterische Strukturen zu leben: ob im bewussten Umgang mit konventionellen Paarbeziehungen, in Patchwork-Familien, in Großfamilien oder in queeren Wahlverwandtschaften. Gesellschaftlich normierte Beziehungsformen zu hinterfragen, bedeutet jedoch gerade nicht, gewachsene Beziehungen oder Familien zu zertrümmern – im Gegenteil: Gewalt lässt sich nicht durch neue Gewalt heilen! Umso wichtiger ist es, zu erkennen, worin die Verirrungen von in Totalitarismus, Unterdrückung und Sexismus abgedrifteten sozialen Experimenten wie Otto Mühls Friedrichshofkommune oder die Propagierung sportartig betriebener Promiskuität (»Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!«) lagen. Der Weg zu post-patriarchalen Beziehungs-formen führt auch über die Aufarbeitung der kollektiven Verletzungen, die durch die Schattenseiten von Gegenbewegungen wie der Lebensreform seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert oder der »sexuellen Revolution« der 1960er und 1970er Jahre entstanden sind.

Die Welt umwerben

Der Raum zwischen zwei Menschen, die einander in tiefer liebender Freiheit und Verbundenheit zugetan sind, ist nicht nur in menschliche Beziehungsgeflechte, sondern auch in die Beziehung zur ganzen Welt eingebettet. Die Liebenden werden dabei vielleicht sogar – zeitweise und stellvertretend – zu Verkörperungen »der Göttin und ihres Heros«, wie Heide Göttner-Abendroth die in der Welt und im Jahreskreis wirkenden und in unzähligen matriarchalen Mythen beschriebenen Urkräfte nennt. So wie die Erde selbst – als Planetin sowie als konkrete Landschaft – sind diese universell und konkret zugleich und drücken Qualitäten aus, die nicht an binäre Geschlechterrollen gebunden sind. Das Heilige und Heilende im geliebten Menschen zu erkennen, ist jedoch etwas völlig anderes, als die Partnerin, den Partner zu vergöttern, zum Ein und Alles zu erklären – eine Selbsttäuschung, die zwangsläufig auf Gefühle von Enge und Enttäuschung hinauslaufen muss. Der englische Geschichtenerzähler Martin Shaw beschrieb das Prinzip Gefährtenschaft im umfassenden Sinn – ökologisch wie zwischenmenschlich – als -einen Prozess, der mit dem Fluss des Lebendigen verbunden bleibt: »Ein gefasstes Herz […] ist auf eine Weise mit der Leidenschaft verbunden, die nicht in letzter Konsequenz auf eine Auslöschung des Angebeteten hinausläuft, sondern in einen Zustand des beständigen Umwerbens tritt, der nicht einfach so gegen eine kurzfristig lockende Verführung eingetauscht wird. Ein solches Herz hat das Prinzip der Gefährtenschaft verstanden«. (Siehe Oya 46)

Was bedeutet es, die Welt zu umwerben? Mir kommen dabei Darstellungen von Göttinnen aus dem Neolithikum – wie jene der liegenden Göttin aus Malta, die auf dem Titel der letzen Oya-Ausgabe prangte, oder die der Venus von Laussel (siehe links) – in den Sinn. Die neolithischen Kunstschaffenden hätten die Erde in all ihrer Lebensfülle wohl kaum dergestalt als Geliebte abbilden können, wenn sie nicht in ihren geliebten Menschen und in der Welt als Ganzer das Inkarnat der Großen Göttin und in der Erde wiederum die Geliebten erkannt hätten. Aus landschaftspsychologischer Sicht mag dies ein Grund sein, warum Menschen seit jeher gerne an den Augen der Göttin (den Seen) hausen, sich mit ihren Siedlungen an ihren Rücken schmiegen und in Landschaften ganz bewusst Analogien zwischen der Göttin und der Welt gesucht, akzentuiert und herausgearbeitet haben (siehe die Bilder von den »Landschaften der Göttin« in der vergangenen Ausgabe).

Die Perspektive, derzufolge Erde, Göttin und Geliebte eins sind, ist über die Zeiten erhalten geblieben und findet sich nicht nur in unterschiedlichsten Mythologien, im mittelalterlichen Minnesang (die besungene frouwe als »Frau Welt«), in den Gedichten des bengalischen Poeten Rabindranath Tagore (»Gitanjali«), in den Schriften der Anarchistin und Feministin Emma Goldman (»Mother Earth«) oder in Joanna Macys Tiefenökologie (»Die Welt als Geliebte«), sondern auch in einem bemerkenswerten Stück mitteleuropäischer Dichtung ungeklärter Urheberschaft, das zwischen dem 1. und 5. Jahrhundert v. u. Z. entstanden ist; und so beschließe ich diese tastenden Erkundungen post-patriarchaler Beziehungsformen mit einem Gebet für die Erde, einer Anrufung der Großen Göttin, einem »Mutter unser«:


Heilige Göttin Mutter Erde, Gebärerin aller Dinge,

die du alles hervorbringst und täglich von neuem hervorbringst,

die du als einzige den Menschen ihre Lebensgrundlage schenkst,

du göttliche Gebieterin über den Himmel, das Meer und alle Dinge,

durch dich kommt die Natur zur Ruhe und schläft,

und ebenso erneuerst du das Tageslicht und verbannst die Nacht;

du bedeckst die Schatten der Unterwelt und das unermessliche Chaos des Weltalls,

die Winde, Regengüsse und Stürme hältst du in Schranken,

und wenn es dir beliebt, lässt du die Meeresfluten los und rührst sie auf,

du vertreibst die Sonne und rufst die Sturmwinde herbei

und genauso lässt du es, nach deinem Belieben, einen heiteren Tag werden.

Du schenkst mit immerwährender Zuverlässigkeit die Lebensgrundlagen,

und wenn unsere Seele von hier gegangen ist, finden wir bei dir unsere Zuflucht.

So fällt alles, was du gibst, wieder an dich zurück.

Verdientermaßen wirst du die Große Mutter der Götter genannt,

weil du mit deiner fürsorgenden Liebe ihr Walten übertroffen hast,

und du so wahrhaftig die Gebärerin des irdischen Lebens und der Götter bist,

ohne die nichts reift und nichts entstehen kann.

Du, o Gottheit, bist die Große und du bist die Königin der Götter.

Dich, Göttin, bete ich an und rufe deinen göttlichen Willen an:

Mögest du mir bereitwillig das gewähren, worum ich dich bitte,

und werde dir, o Gottheit, in gebührender Treue meinen Dank abstatten.

Erhöre mich, so bitte ich, und sei meinem Vorhaben gewogen!

Gewähre mir gnädig, o Göttin, was ich von dir erbitte!

//


»Precatio terrae«, aus dem Lateinischen übersetzt von Franz Fersterer. 


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