Permakultur

Das Lebensende ist gestaltbar

Die deutsche Sterbekultur in der Intensivmedizin aus permakultureller Sicht.von Clemens Huschak, erschienen in Ausgabe #62/2020
Photo
© Alexandra Korte

Seit zwanzig Jahren arbeite ich als Krankenpfleger auf verschiedenen Intensivstationen in den Bereichen Innere Medizin, Neurochirurgie, Neurologische Frührehabilitation, Entwöhnung von der künstlichen Beatmung und Verbrennungsmedizin. Mit dem Besuch des Permakultur-Basisjahrs begann ich, meine Erlebnisse mit Intensivmedizin aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Ethische Prinzipien stellen die Sorge für die Menschen und die Erde in den Mittelpunkt. Als Gestaltende können wir unseren Umgang mit Menschen und Ressourcen analysieren und verändern. Auch das Sterben ist ein Prozess, der individuell gestaltet werden kann und sollte. In der gezielten Auseinandersetzung unter anderem mit Patienten, Angehörigen und Kollegen ist folgender Text entstanden. Ziel dieser Schrift ist es, Menschen an meinen Erfahrungen am Scheideweg zwischen Leben und Tod teilhaben zu lassen. Nicht zuletzt will ich zur Diskussion anregen.

Beobachtungen

Ich erlebe in meinem Umfeld, dass der Tod und das Sterben für viele Menschen vorrangig eine Bedrohung darstellen und nichts Schönes oder Heiliges in sich tragen. Der natürliche Weg des Lebens vom Geborenwerden bis zum Sterben wird von vielen nicht als Teil eines großen Kreislaufs wahrgenommen. 

Eine weitere Beobachtung betrifft die deutsche Gesundheitsversorgung. Diese wurde durch die Umstellung der Abrechnung auf Fallpauschalen im Jahr 2004 dem Profit- und Wachstumsgedanken unterworfen – mit dem Ergebnis, dass wirtschaftliche Interessen nun mehr im Mittelpunkt stehen als die Patientinnen und Patienten. Mit den Erfahrungen aus meinem Beruf stelle ich mir die Frage, warum so viele Menschen gerade im hohen Lebens-alter unnötig auf Intensivstationen leiden müssen.

Eine Patientengeschichte

Den heutigen Geist der Medizin möchte ich anhand der Geschichte von Erna Müller verdeutlichen. Als sie mit 81 Jahren vom Notarzt ins Krankenhaus gebracht wurde, ging es ihr gar nicht gut. Frau Müllers Atemnot war in den vergangenen Tagen immer stärker geworden. Sie schaffte es kaum noch aus dem Bett und hatte das Gefühl, dass es mit ihr zu Ende gehe – doch sie war zufrieden damit. Sie war stolz darauf, was sie und ihr leider schon verstorbener Mann erreicht hatten. Insgeheim hoffte sie, dass sie vielleicht bald wieder bei ihrem Wilhelm sein könnte.

Als der Rettungswagen in der Notaufnahme eintraf, war es dort kalt und hektisch, während der Fahrt war der Harndrang so stark geworden, dass Erna Müller das Wasser nicht mehr halten konnte. So lag sie nun, bis ein Blasenkatheter gelegt wurde, im Nassen. Die Untersuchung ergab, dass das Herz noch schwächer geworden war und die Herzklappe nicht mehr richtig schloss. Außerdem arbeiteten die Nieren nicht mehr vollständig. 

Durch die Medikamente und den Sauerstoff, die sie vom Notarzt bekommen hatte, ging es ihr bald etwas besser. Frau Müller wurde auf der Intensivstation an eine Überwachungsanlage angeschlossen. Die Krankenschwester fragte, ob sie im Moment etwas bräuchte und wie stark Schmerzen und Atemnot seien. Erna Müller antwortete: »Ich möchte eigentlich nur nach Hause, ich habe mein Leben doch gelebt. Ich glaube, es geht zu Ende.« 

Dr. Bach betrat das Zimmer, er hatte einen OP-Aufklärungsbogen in der Hand. »Frau Müller«, begann er, »nach den mir vorliegenden Unterlagen sehe ich keine andere Möglichkeit, als Ihnen eine neue Herzklappe einzusetzen.« Erna überlegte kurz und erwiderte: »Herr Doktor, ich weiß nicht, ob ich mich einer solchen Behandlung unterziehen möchte – was ist, wenn etwas schiefgeht?« »Frau Müller, der Eingriff ist für uns keine große Sache. Haben sie keine Angst, da wird schon nichts schiefgehen!« »Nein, Herr Doktor, ich möchte nach Hause, auch wenn es bedeutet, dass ich sterbe!« »Frau Müller, das geht nicht. Denken sie an Ihre Kinder und Enkel, was das für eine Belastung für sie wäre. Frau Müller, ich habe jetzt auch nicht mehr viel Zeit, andere Patienten warten. Ich brauche jetzt hier ihre Unterschrift.« Erna Müller überlegte, vielleicht hatte der Doktor recht, schließlich ist er ja Arzt und hat die Aufgabe, ihr zu helfen. Außerdem: Zur Last fallen wollte sie wirklich nicht. Schließlich unterschrieb sie, nachdem sie sich kurz mit ihren ebenfalls kritischen Töchtern abgesprochen hatte. Es folgte noch die Aufklärung des Narkosearztes, während der Atemnot und Schmerzen jedoch so stark wurden, dass sie dem Vortrag kaum folgen konnte; der Arzt erzählte von irgendwelchen Risiken wie Beatmungskomplikationen oder Dialyse.

Als sie nach dem Eingriff erwachte, wusste sie nicht mehr, wer sie war und was passiert war. Irgendwas steckte in ihrem Hals und ihrer Nase. Außerdem konnte sie nur ihren rechten Arm bewegen. Sie wollte das Ding aus ihrem Hals entfernen, doch der Arm war festgebunden. Sie musste husten, doch sie konnte nicht. »Nicht erschrecken, ich sauge sie jetzt ab«, hörte sie eine Stimme und spürte einen stechenden Schmerz in der Lunge. Sie konnte daraufhin nicht mehr aufhören zu husten. Die Stimme sagte: »Sie sind immer noch im Krankenhaus. Ich lasse Sie jetzt wieder schlafen.« 

Während der Operation hatte sich ein Blutgerinnsel gelöst und ein Gefäß im Gehirn verschlossen. Die Folge war eine halbseitige Lähmung; außerdem war das Schluckzentrum betroffen, so dass der Beatmungsschlauch nach der Operation nicht entfernt werden konnte. Infolge der Operation verschlechterte sich zudem die Funktion der Nieren, bis sie nach einigen Tagen überhaupt nicht mehr arbeiteten, und Frau Müller an ein Dialyse-gerät angeschlossen werden musste. Durch die Beatmung kam es schnell zu einer Lungenentzündung, die mit Antibiotika behandelt wurde. Trotzdem entwickelte sich eine Sepsis, eine den ganzen Körper betreffende Entzündung, ausgelöst durch einen antibiotikaresistenten Keim. 

Erna Müller verbrachte die folgenden Wochen auf der Intensivstation. Im Verlauf der Therapie wurde es notwendig, ihr einen Luftröhrenschnitt zu setzen. Durch die Bettlägerigkeit hatte sich am Steiß ein schmerzhaftes Druckgeschwür gebildet, welches immer größer wurde. Erna Müller wurde nie mehr richtig wach. 

Ihre Töchter mussten bei ihren täglichen Besuchen mit ansehen, wie ihre Mutter litt; schnell wurde ihnen klar, dass sie das so niemals gewollt hätte, ja, in der Familie entstand die Überzeugung, dass dies so nicht in ihrem Interesse war. Die Töchter flehten die Ärzte an, die Mutter friedlich einschlafen zu lassen, doch diese sahen eine realistische Chance, dass Erna Müller wieder gesund werden würde. Weil die Patientin zudem in die Operation eingewilligt hatte, leiteten die behandelnden Ärzte daraus ab, dass es auch ihr Wille sei, weiter therapiert zu werden. Vierzig Tage nach der OP kam es zu einem Herzstillstand. Erna Müller starb nach einer erfolglosen Reanimation auf der Intensivstation.   

Die Natur und der schmerzfreie Tod 

Sterben muss freilich nicht so ablaufen. Die Natur ist auch in der Gestaltung des Todes an Genialität nicht zu übertreffen. In den meisten Fällen verfügt der menschliche Körper über Mechanismen, die ein friedliches Hinübergleiten in den Tod ermöglichen. Versagt zum Beispiel die Lunge, kann der Körper das im Stoffwechsel anfallende CO2 nicht mehr ausscheiden. Der Anstieg von CO2 führt zum Einschlafen (CO2-Narkose) und in der Folge zum Kreislaufstillstand. Beim Versagen der Nieren ist der Körper nicht in der Lage, jene Giftstoffe, die normalerweise darüber ausgeschieden werden, loszuwerden. Die Folge ist eine Vergiftung und ebenfalls eine Narkotisierung des Körpers ohne Schmerzen. Genauso normal ist es, dass alte Menschen in ihren letzten Tagen die Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung einstellen. 

Alle diese Mechanismen führen zu einem schmerzfreien Tod  – der durch die moderne Medizin nicht verhindert, aber lange hinausgezögert werden kann. Die heutige hochtechnisierte Apparatemedizin bietet viele Möglichkeiten, schwerwiegende und komplexe Erkrankungen und Traumata zu behandeln. Sie ermöglicht es jedoch leider auch, einen schlechten gesundheitlichen Zustand über eine lange Zeit aufrechtzuerhalten.

Intensivmedizinische Maßnahmen – insbesondere die Reanimation, beispielsweise durch Herzdruckmassage oder das Legen von Kathetern und anderen Körperzugängen – sind gewaltsam und stellen eine Körperverletzung dar. Diese ist laut Gesetz nur zulässig, wenn sie dem vermuteten Willen des Patienten entspricht. Befragt man Menschen über 75 Jahren, lehnen 91 Prozent intensivmedizinische Maßnahmen ab. 

Das Lebensende gestalten

Da der Tod so individuell wie das Leben ist, ist es schwer, allgemeingültige Regeln aufzustellen. Das Wichtigste scheint mir, sich rechtzeitig Gedanken darüber zu machen, wie man sterben will. 

Meine Empfehlungen sind deshalb: Sprechen Sie mit Ihren Nächsten über den Tod und wie Sie in Notfallsituationen und im Alter behandelt werden wollen! Sprechen Sie darüber, was Sie sich wünschen, wenn Notfallsituationen eintreten sollten! Erklären Sie schriftlich, in Form einer Patientenverfügung, was Sie in Notfallsituationen für angemessen erachten! Bestimmen Sie in Form einer Vorsorgevollmacht, wer im Fall, dass Sie nicht selbst entscheiden können, für Sie entscheidungsberechtigt ist! Hier ist es von Vorteil, möglichst Angehörige zu benennen, die einen medizinischen Hintergrund haben (sofern in der Familie vorhanden). Wenn Ihnen größere operative Eingriffe oder intensivmedizinische Maßnahmen angeraten werden, nutzen Sie die Möglichkeit, eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen!  Sollten Sie oder einer Ihrer Angehörigen bereits an einer oder mehreren Krankheiten leiden und von Ihnen oder Ihrem Angehörigen im Notfall eine intensivmedizinische Behandlung abgelehnt werden, dann stellen Sie sicher, dass dieser Wunsch deutlich und mehrfach für Außenstehende ersichtlich ist! Dies gilt insbesondere für Heimbewohner oder Patienten, die durch einen Pflegedienst versorgt werden. 

Mit einem Jahresbudget von 391 Milliarden Euro steht dem deutschen Gesundheitssystem viel Geld zur Verfügung – wir sollten es besser einsetzen. Anstelle zu vieler medizinischer Eingriffe brauchen wir mehr rechtzeitige und vor allem menschlichere Kommunikation, die die Wünsche der Patientinnen in den Fokus nimmt. Es muss Standard werden, kranke und alte Menschen bei der Aufnahme im Krankenhaus über deren Wünsche im Notfall zu befragen sowie diese für alle ersichtlich und bindend zu dokumentieren! Die Entscheidung über die Fortführung oder das Einstellen einer Therapie ist zu schwerwiegend und zu komplex, als dass sie von Wenigen getroffen werden kann. Diese Entscheidung kann nur in einem Team unter Einbeziehung von erfahrenen Ärztinnen, erfahrenen Pflegekräften, wenn möglich dem Patienten und dessen Angehörigen sinnvoll erfolgen. Es ist an der Zeit, die Grenzen der Medizin auch im Hinblick auf die in Zukunft vorhandenen Ressourcen zu definieren. Eine palliativmedizinische Versorgung gerade alter und schwerkranker Patientinnen und Patienten sollte viel stärker finanziert und gefördert werden. 

Ein schöner Tod

Zum Schluss möchte ich Erna Müllers Geschichte so erzählen, wie sie in ihrem Interesse – und im Interesse aller – hätte sein können. Auch wenn es sich für manche befremdlich anhören mag: Bewusst und achtsam gestaltet, kann der Tod beziehungsweise das Sterben, ein friedlicher, berührender Prozess sein!

In der Notaufnahme wurde Erna Müller gründlich untersucht. Es stellte sich heraus, dass das Herz noch schwächer geworden war und die Herzklappe, über die das Blut in den Körper gepumpt wird, nicht mehr richtig schloss. Außerdem arbeiteten die Nieren nicht mehr richtig. Durch die Medikamente und den Sauerstoff, den sie vom Notarzt bekommen hatte, ging es ihr allerdings schon etwas besser. Nachdem die Untersuchungen abgeschlossen waren, kam Dr. Bach in den Behandlungsraum und setzte sich zu ihr. An seinem Blick erkannte sie, dass es ernst war. »Liebe Frau Müller«, begann der Doktor. »Ich habe mich gerade nochmal mit unserem Herzchirurgen besprochen. Die bei Ihnen bekannte Insuffizienz der Herzklappe hat zugenommen. Diese Situation ist lebensbedrohlich und kann in Ihrem Fall nur durch eine sehr aufwendige Operation gelöst werden. Die Chancen, diese Operation ohne Schaden zu überleben, sind gegeben, doch haben Sie aufgrund Ihres Alters mit erheblichen Komplikationen zu rechnen. Für uns ist jetzt von entscheidender Bedeutung, herauszufinden, was Sie sich wünschen.« Für Erna Müller war die Sache klar: Ein langer Klinikaufenthalt mit der Gefahr, hinterher ein Pflegefall zu sein, war ihr ein Graus. Trotzdem wollte sie sich mit ihren Töchtern, die draußen warteten, beraten. Sie vereinbarte mit Dr. Bach eine Bedenkzeit. 

Nach einer Stunde war Erna Müller sicher, dass sie keine aufwendige Herzoperation wünschte, sondern lieber zu Hause im Kreis der Familie ihre letzten Stunden bis Tage verbringen wollte. Dr. Bach kam erneut und besprach mit der Familie das weitere Vorgehen. Er erklärte, dass er sofort den Palliativnotdienst informieren würde, der die weitere häusliche Behandlung übernehmen sollte. 

Nach zwei Stunden war der Rücktransport nach Hause organisiert. Erna Müller starb zwei Tage später. Doch diese beiden Tage waren mit die schönsten und intensivsten ihres Lebens. Die Atemnot war da, konnte aber mit Sauerstoff und Morphin gut behandelt werden. Aus dem Bett kam sie nicht mehr, wurde aber sehr freundlich von einem Pflegedienst und dem Palliativ-Team versorgt. Alle Angehörigen waren da und hatten Zeit, sich zu verabschieden. //



Clemens Huschak (42) lebt mit seiner Familie in Mannheim. Sein Text entstand im Rahmen der Weiterbildung zum Permakulturdesigner. Wer Fragen hat oder mit Clemens in Austausch gehen möchte, ist eingeladen, sich per Mail unter ch–ÄT–safeinlife.com zu melden.


weitere Artikel aus Ausgabe #62

Photo
von Andrea Vetter

Das Rad nicht immerzu neu erfinden

Andrea Vetter: Wie schön, dass ich mit dir über den Dächern Berlins in deiner Wohnung im Frauenwohnprojekt »Beginenhof« Kaffee trinken darf! Wir kennen uns schon länger aus alternativökonomischen Netzwerken, haben aber noch nie für Oya miteinander

Photo
von Anja Marwege

Es lebe die Eisenzeit!

In jedem Kilometer, den ich mit der Eisenbahn fahre, sind nicht nur 120 Tonnen Gleisstahl, sondern auch 25 Tonnen Kupferdrähte verbaut. Durch diese fließt der Strom, der die Lok antreibt. Noch nie wurde so viel Erz aus dem Leib der Erde herausgekratzt wie heute. Die jährliche

Photo
von Matthias Fersterer

Was ›man‹ so Liebe nennt

Einem spätkapitalistischen Bonmot zufolge ist es leichter, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus; auf ähnlich absurde Weise kann es manchmal naheliegender erscheinen, sich das Ende der eigenen Existenz auszumalen als den Beginn einer gleichwürdigen

Ausgabe #62
Matriarchale Fährten

Cover OYA-Ausgabe 62
Neuigkeiten aus der Redaktion